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# taz.de -- Kurt Tucholskys Liebe zur Ostsee: Tucholsky, Warnemünde und Frauen
> Kurt Tucholsky heiratet vor 100 Jahren seine Jugendliebe Mary Gerold und
> beendet dadurch die Reisen zu seiner liebsten Landschaft, der Ostsee.
Bild: Kurt Tucholsky in Warnemünde 1912
Der in Berlin geborene Kurt Tucholsky lernt die Ostsee bereits als kleines
Kind kennen und lieben. Als er drei Jahre alt ist, siedeln die Tucholskys
von Berlin nach Stettin um, wo er 1896 eingeschult wird. Doch nicht nur das
Meer liebt er, sondern auch die Frauen. Zwei Ehen führte er und auch
zahllose Affären. Auch seinen ersten großen Bucherfolg: verdankt er einer
Liebesaffäre. Er verarbeitet darin die Erlebnisse mit seiner damaligen
Freundin, später erste Ehefrau Else Weil in dem genannten Ort.
Das Familienoberhaupt, Kaufmann Alexander Tucholsky zieht dann mit den
Kindern und der Mutter Doris wieder zurück nach Berlin. Diese wenigen
Jahre, die Kurt Tucholsky als Kind in der Nähe des Meers verbrachte, haben
offenbar ausgereicht, um seine starke Liebe zur Ostsee zu begründen. Die
Ausflüge mit der Familie in die Seebäder, Spaziergänge mit dem geliebten
Vater am Strand, Spiele mit den Geschwistern im Sand. Die Sonne, das Blau
des Meeres, die ewige Weite der idyllischen und sorgenfreien Landschaft,
die in gewisser Weise auch zu eine Seelenlandschaft geworden ist, was
Tucholsky immer wieder in seinen Texten verewigte. „Hier am Strom lagen
lauter kleine Häuser, eins beinah wie das andre, windumweht und so
gemütlich. Segelboote steckten ihre Masten in die graue Luft, und beladene
Kähne ruhten faul im stillen Wasser. 'Guck mal, Warnemünde!’“
Kurt Tucholsky ist erst 15 Jahre alt, als er seinen Vater Alex auf dem
Jüdischen Friedhof von Weißensee beerdigen muss. Spätfolgen einer
Syphilis-Erkrankung haben dessen frühen und qualvollen Tod am 1. November
1905 im Sanatorium Schlachtensee verursacht. Für Tucholsky ist der Verlust
unermesslich groß, mit seiner Mutter Doris versteht er sich seit jeher
nicht gut, sie kann ihm daher keinen Halt geben. Doch konnte ihm seine
Heimatstadt vielleicht ein Trost sein? Das urbane Leben mit all seinen
Möglichkeiten? Die vielen Verwandten und Freunde? Es hatte zunächst den
Anschein. Als junger Mann fühlte er sich dort wohl noch heimisch.
## Die Sehnsucht nach dem Meer
Mit zunehmendem Alter wandelt sich doch seine Wahrnehmung von der Stadt,
sie wird darin immer oberflächlicher und lauter. Und da ist in Tucholsky
immer wieder die Sehnsucht nach dem Meer, was symbolhaft für ein anderes
Leben als das Hier und Jetzt steht. Aber eigentlich will er gar nicht
warten und vielmehr alles gleichzeitig haben und vor allem genießen: Stadt
und Idylle, Vergnügen und Stille, Ehefrau und Freundinnen. Tief im Inneren
ahnt er, dass diese Ziele unerreichbar sind: „Aber was wir suchten, das
fanden wir nicht. Was wir denn wollten? Wir wollten ein ganz stilles, ein
ganz kleines Häuschen, abgelegen, bequem, friedlich, mit einem kleinen
Gärtchen … wir hatten uns da so etwas Schönes ausgedacht. Vielleicht gab es
das gar nicht.“
Er weiß nur zu genau, dass die vermeintliche Ostsee-Idylle eben auch
trügerisch sein kann. Überfüllte Strände und Städte, der vermeintliche
Traum wird in der Hauptsaison schnell zum Albtraum, wenn der Massenandrang
die Harmonie blitzschnell zunichte macht, heute heißt es so schön
„Overtourism“: „Hiermit erkläre ich die Ostsee für eröffnet“, sprich…
Bürgermeister des fiktiven Badeorts in Tucholskys „Saisonbeginn an der
Ostsee“. Zum Glück nur für ein paar Wochen. So bleibt immer noch genug
Zeit, in der die Großstadt im persönlichen Empfinden immer noch verdammt
wird und zu einem maroden Moloch wird, der [1][am Nervenkostüm nagt] und
aus dem man besser schnell die Flucht ergreift. Seine Sommerurlaube werden
Tucholsky in der Folge immer wieder an die Ostsee führen. Zu einer
Landschaft, die ihn offenbar wie ein Magnet anzog.
Tucholsky hat Sehnsucht nach dem Meer, aus diesem Grund reist er viel an
die Ostsee, 1912 dann auch nach Warnemünde. Vor allem mit seinen Affären
verbringt er dort viel Zeit. Am 30. August 1924 heiratet er zum zweiten Mal
seine große Jugendliebe Mary Gerold aus Kurland, die als Privatsekretärin
in Berlin lebt und die er während seiner Militärzeit in ihrer Heimat kennen
gelernt hat. Doch einer fehlt im Standesamt, der noch bei Tucholskys ersten
Ehe, vier Jahre zuvor den Trauzeugen gegeben hatte: Siegfried Jacobsohn,
der Herausgeber der Weltbühne, für die auch Tucholsky arbeitet.
## „Ich habe übrigens eine Heimat“
Jacobsohn ist Kurt Tucholskys bester Freund und Mentor, zudem teilt er
seine Liebe zum Meer. Sie kommen sich dabei nicht in die Quere, Tucholsky
bevorzugt die Ostsee, Jacobsohn hingegen die Nordsee. Er besitzt in Kampen
auf Sylt ein Bauernhaus und verbringt jedes Jahr den ganzen Sommer auf der
Insel. Und dann berichtet er dem Freund fast täglich in [2][langen und
rührenden Briefen] – überdies 1997 bei Rowohlt erschienen – von seinem
einfachen, aber äußerst glücklichen Leben auf der Insel zusammen mit Frau
Edith und Sohn Peter. „Ich habe übrigens eine Heimat. Sie heißt weder
Charlottenburg noch Wilmersdorf, aber Kampen.“ Das ist mehr als deutlich,
da ist jemand völlig zufrieden mit seinem Leben. Jacobsohn, der Herausgeber
der Weltbühne, hat – im Gegensatz zu Tucholsky – sein persönliches
Paradies gefunden und einen Menschen, mit dem er es teilen kann.
Die Rastlosigkeit, die Tucholsky seit jeher an den Tag legte, ist ihm
völlig fremd. So führt er – ebenfalls völlig konträr zu seinem Freund –
eine dauerhaft glückliche Ehe und braucht auch keine außerehelichen
Affären. Überschattet wird sein persönliches Glück am Meer nur durch den
schleichend zunehmenden Antisemitismus, der irgendwann auch von der schönen
Insel Besitz ergreift.
Doch auch Jacobsohn bleibt trotz aller persönlichen Beständigkeit ein
dauerhaftes Glück versagt. Während Tucholsky nach seiner Hochzeit mit Mary
Gerold die regelmäßigen Reisen an die Ostsee beendet, stirbt Jacobsohn
völlig unerwartet und vorzeitig am 3. Dezember 1926, und lässt seinen
Freund völlig untröstlich zurück.
Der Mann, der ihm stets mit Herz und Humor zur Seite stand, war nicht mehr
da. Und auch in Liebesdingen scheitert Tucholsky erneut. Er trennt sich
auch von Mary, wieder herrschen Trauer und Einsamkeit. Bis schließlich
seine letzte Station Schweden wird und er am 22. Januar 1930 endgültig ins
schwedische Hindås zieht. Bis ihn eine Überdosis Veronal – versehentlich
oder absichtlich eingenommen? – am 21. Dezember 1935 in den vorzeitigen
Schlaf des Todes wiegt.
30 Aug 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Bettina Müller
## TAGS
Kurt Tucholsky
Schriftsteller
Ostsee
Geschichte Berlins
Geschichte Berlins
Brandenburg
Margarete Stokowski
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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