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# taz.de -- Kultur in Krisengebieten: Wiederaufbau und Zerstörung
> Die documenta fand 2012 auch in Kabul statt. Nun steht die Ausstellung im
> Zentrum eines nachträglichen Streits um Kunst und Macht.
Bild: Als die documenta Afghanistan besuchte, Hausbau in Kabul 2012
Tagelöhner, Krüppel, Soldaten. Als William Kentridge im Sommer 2012, vor
mehr als neun Jahren, seine Arbeit „Shadow Procession“ im Queens Palace von
Kabul zeigte, verstand das Publikum sofort, worum es ging. Das
Scherenschnitt-Video schien wie aus dem Alltag der Afghan:innen
gegriffen.
Auch elf Jahre nach der US-Militäroperation „Enduring Freedom“ als
Vergeltung für den Anschlag von 9/11 war das Leben am Hindukusch für die
Menschen eine Last. [1][Nach dem desaströsen Abzug des Westens] würde die
Arbeit des südafrikanischen Künstlers heute wieder in die gepeinigte
Metropole eines verwundeten Landes passen.
„Collapse and Recovery – Zusammenbruch und Wiederaufbau“ – unter dieses
Motto hatte [2][Carolyn Christov-Bakargiev] den Standort ihrer documenta 13
gestellt. Die Analogien zwischen dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kassel
und der afghanischen Hauptstadt erschienen der italienisch-amerikanischen
Kuratorin so zwingend, dass sie hier einen Außenposten ihr Weltkunstschau
platzierte [3][(taz v. 26. 6. 2012).]
Heute ist Bakargiev Direktorin des Castello di Rivoli, dem riesigen Verbund
für zeitgenössische Kunst in Turin. In der Liste der hundert wichtigsten
Persönlichkeiten der Kunstszene rangiert sie immer noch auf den vorderen
Plätzen. Wer sie nach ihrem afghanischen Abenteuer fragt, hat eine zutiefst
verstörte Frau am Telefon. „Ich bin unendlich traurig“, sagt die 63-Jähri…
mit einem vernehmbaren Seufzer.
## Lektion in Realpolitik
Richtig sauer ist sie über die Amerikaner. „Das war mal wieder eine Lektion
in Realpolitik.“ Dass ausgerechnet US-Vizepräsidentin Kamala Harris mit
indisch-afghanischen Wurzeln sich mit ihrer führenden Rolle bei dem
überstürzten Abzug gebrüstet habe, erbittert sie besonders. Ändern an dem
Drama konnte Bakargiev natürlich nichts. Immerhin ist es der
Kunsthistorikerin zusammen mit der italienischen Regierung nach
fieberhaften Bemühungen gelungen, den afghanischen Künstler und Professor
an der Universität Kabul, Rahraw Omarzad, samt seiner Familie aus Kabul
herauszuholen.
Omarzad gründete 2004 in Kabul das Zentrum für Zeitgenössische Kunst (CCAA)
und die Kunstzeitschrift Ganahma-e Hunar. Bei der documenta 2012 half die
Schlüsselfigur der afghanischen Kunstszene Bakargiev als Scout. Jetzt soll
er in Turin als Kurator arbeiten.
Die documenta am Hindukusch erregte damals großes Aufsehen, 27.000 Besucher
sahen die Schau, viele Künstler:innen wie William Kentridge, der
argentinische Bildhauer Adrián Villar Rojas oder die polnisch-britische
Künstlerin Goshka Macuga waren stolz, dabei zu sein.
Nach der neuerlichen Eroberung Kabuls durch die Taliban regt sich freilich
erneut die Kritik, die diese documenta als spektakulären Egotrip einer
Kuratorin abgetan hatte, der dem Land nichts brachte. Und mit einem
massiven Militäraufgebot geschützt werden musste.
## Lächerlicher Satellit?
Der Kritiker Mohammad Salemy, Gründer des internationalen Online-Thinktanks
„The New Center for Research and Practice“, rührte in dieser alten Wunde,
als er kürzlich in den sozialen Medien Bakargievs Schau als „lächerlichen
Satelliten“ unter dem Schirm des US-Militärs und Aschraf Ghani, den
geflüchteten afghanischen Präsidenten, als „CIA-Spion“ geißelte.
Der ehemalige UN-Diplomat, damals noch nicht Präsident, mittlerweile 72
Jahre alt, hatte Bakargiev bei der Schau unterstützt. Dass dessen Tochter
Mariam, eine in den USA lebende Filmemacherin, damals mit Mitarbeitern des
nationalen Filmarchivs Afghanistans arbeiten und eine Video-Arbeit in der
documenta 13 präsentieren konnte, war für Salemy ein Ausdruck von
Privilegien der regierenden Klasse.
Salemy sprach Mariam Ghani die künstlerische Glaubwürdigkeit generell ab.
In den sozialen Medien tobt ein Glaubenskrieg um sie. Reporter der New York
Post hatten die 43-jährige Künstlerin vor ihrem Loft in Brooklyn zur Rede
gestellt und ihre Verbindungen zu den US-Demokraten und George Soros
ausgebreitet.
Bakargiev reagiert auf diese Kritik wütend: „Das sind alberne Plattitüden.�…
Aschraf Ghani sei eine „großzügige Person“ und „extrem hilfsbereit“
gewesen. Tochter Mariam verteidigt Bakargiev als Künstlerin „aus eigenem
Recht“. Viele Kolleg:innen „bewunderten“ ihre Hilfe für Ausreisewillige.
Ein weiteres eindrucksvolles Gegenbeispiel ist Michael Rakowitz. Schon
Jahre vor der Eröffnung der Schau hatte der amerikanische Künstler in
Workshops mit afghanischen Student:innen in der Nähe der von den Taliban
2001 zerstörten Buddhastatuen von Bamiyan die Technik des traditionellen
Steinhandwerks wiederzubeleben versucht.
## Kunst für die Menschen
„Die Erfahrungen, die ich mit den Menschen in Afghanistan gemacht habe,
waren einer der Gründe, warum ich überhaupt als Künstler weitergemacht
habe“, erinnert sich Rakowitz, der an der Northwestern University in
Chicago lehrt, im Gespräch mit der taz. „Die documenta in Kabul war auch
kein Teil des Nation Building à la USA, im Gegenteil“, weist er die Kritik
zurück, die documenta habe mit den Besatzern kollaboriert.
Was die Zukunft der Kunst in Afghanistan betrifft, konstatiert Bakargiev
„keine gute Situation“. Was aus der von ihr 2012 unterstützten Kunstschule
für Frauen oder der Pension geworden ist, in der der Arte-Povera-Künstler
Alighiero Boetti in den 70er Jahren abstieg, als er in Kabul seine
berühmten Weltkarten weben ließ, weiß sie nicht.
Bakargiev hatte sie von dem mexikanischen Künstler Mario García Torres
renovieren lassen. Ihre Idee, Boettis One Hotel als italienisches
Kulturerbe zu schützen, gar als Kunstresidenz zu nutzen, zerschlugen sich.
So beobachten jetzt alle die neuen Machthaber.
Ajmal Maiwandi, Projektmanager des Aga Khan Kultur Trust, noch ein
Helfershelfer der documenta damals, berichtet, dass die Taliban, als sie
Ende September den zusammen mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW)
restaurierten Chihilsitoon-Garten der Mogul-Kaiser inspizierten, die Waffen
am Eingang abgegeben hätten.
Im selben Monat stoppte sie die Zerstörung einer antiken Festungsanlage in
der über tausend Jahre alten Stadt Girishk. Andererseits erließen sie nach
ihrem Sieg ein Musikverbot.
## Nicht umsonst
Trotz der historischen Rolle rückwärts in Afghanistan derzeit, war die
documenta aber nicht umsonst. Sie bleibt für viele Bewohner eine Erinnerung
an die Möglichkeiten der Kunst. Sie taugt auch nicht als Beleg für die
Doppelmoral des Kunstbetriebs.
Die Rufer nach dem Boykott der aktuellen Havanna-Biennale sind nicht
unglaubwürdig, weil sie, so Salemys Vorwurf, damals nicht gegen die
documenta in Kabul protestierten.
Schließlich verschaffte Bakargiev den örtlichen Machthabern keinen
Prestigeerfolg wie die deutschen Museen, die 2011 die „Kunst der
Aufklärung“ in Peking zeigten [4][und 2016 Farah Dibas Kunstsammlung aus
Teheran an die Spree] holen wollten.
Wenn es eine Lehre aus dem documenta-Abenteuer gibt, dann die der fehlenden
Nachhaltigkeit. „Die Idee war gut“ beharrt Carolyn Bakargiev auf dem
Sisyphos-Ansatz, Demokratie und Zivilgesellschaft mithilfe der Kunst zu
initiieren.
„Ich habe aber ein Schuldgefühl, dass ich nach der documenta dort nicht
weitergemacht habe.“ Ihre Schuld ist es aber nicht, dass der Circulus
vitiosus von „Collapse und Recovery“ sich weiterdreht.
7 Dec 2021
## LINKS
[1] /Afghanistan-und-Terror-nach-9/11/!5796665
[2] /Chefin-der-Documenta-13/!5092580
[3] /Die-Kassler-Documenta-in-Kabul/!5090531
[4] /Farah-Dibas-Kunstsammlung-im-Iran/!5334315
## AUTOREN
Ingo Arend
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