# taz.de -- Die Kassler Documenta in Kabul: Die Kunst als Aufbauhelfer | |
> Zusammenburch und Wiederaufbau: In Kabul findet die Documenta zu ihrer | |
> Ursprungsidee zurück. Bericht von einer außergewöhnlichen Intervention. | |
Bild: Von Kabul nach Kassel: Goshka Macugas Digitalcollage auf Teppich im Fride… | |
Sandsäcke vor der Haustür, auf jedem Dach gerollter Stacheldraht, alles | |
umstellt von schweren Betonreitern. Um in Kabul ins Hotel zu kommen, muss | |
man durch fünf Sicherheitsschleusen. An jeder Straßenecke patrouillieren | |
Soldaten mit Maschinengewehren. | |
Wer verstehen wollte, was Carolyn Christov-Bakargiev gemeint hatte, als sie | |
den „Belagerungszustand“ zu einem Kernthema ihrer Documenta in Kassel | |
erhob, brauchte nur nach Kabul zu reisen. Denn in dem Trümmerfeld der | |
afghanischen Hauptstadt wird sinnfällig, was in Deutschland gerade als | |
Codewort des Kunstdiskurses taugt. | |
Elf Jahre nach Beginn der militärischen Operation „Enduring Freedom“ ist in | |
Kabul der Belagerungs- immer noch der Normalzustand. In der diesigen Luft | |
scannen Zeppeline der US-Army jede Bewegung in dem von drei Bergzügen | |
eingeschlossenen Tal. Ein beißender Geruch aus Zementstaub, Abgasen, | |
Exkrementen und Mangos hält dessen Bewohner in Bann. | |
Auf die Idee, ausgerechnet in diesem irdischen Jammertal eine | |
Kunstausstellung zu machen, muss man erst mal kommen. Doch die Analogien | |
zwischen Kassel und Kabul, Deutschland und Afghanistan schienen der | |
Documenta-Chefin zu frappierend, als sie vor zwei Jahren zu einer | |
Recherchereise an den Hindukusch startete. Beide, dachte sich die | |
Italoamerikanerin, durchliefen einen ähnlichen Prozess von „Zusammenbruch | |
und Wiederaufbau“ – noch ein Stichwort ihrer Schau. | |
## Der Transfer funktioniert erstaunlich gut | |
Dafür, dass die Werke der 27 KünstlerInnen, die Bakargiev in Kabuls | |
Queen-Palace eingeladen hat, hier in einem völlig anderen Kontext stehen, | |
funktioniert der Transfer erstaunlich gut. Der ehemalige Harem steht in den | |
Bagh-e-Babur-Gärten, der 1532 erbauten Grabanlage des legendären Begründers | |
der nordindischen Mogul-Dynastie. Den Kreuzzug der Gepeinigten – Bergleute, | |
Krüppel, Soldaten –, den der südafrikanische Künstler William Kentridge in | |
seiner Scherenschnitt-Animation „Shadow Procession“ von Jahr 1999 auftreten | |
lässt, verstehen die von Krieg und Gewalt verfolgten Afghanen trotzdem | |
sofort. | |
Nur Giuseppe Penones Skulptur „Radici di Pietra“ – das Pendant zu seinem | |
Baum mit dem Stein in der Krone in der Kasseler Karlsaue – wird in Kabul | |
vielleicht nicht die Debatte über Natur und Kunst auslösen, den die | |
Leiterin der Documenta in Deutschland damit anzettelte. Die Familien, die | |
in den Rosengärten des terrassierten Parks picknicken, nutzen die gegen | |
einen Baum gelehnte Marmorsäule einfach als Rückenstütze. | |
Erstaunliche Erfahrung: Wer durch die Kabuler Documenta streift, versteht | |
die Kasseler plötzlich besser. Der mexikanische Künstler Mario Garcia | |
Torres hatte Alighiero Boettis „Mappa“ dort aufgehängt. Die erste seiner | |
„Weltkarten“ hatte der italienische Arte-Povera-Künstler in Kabul von | |
afghanischen Frauen sticken lassen. „One Hotel“, Torres’ Projekt auf den | |
Spuren Boettis, liest sich nicht nur wie eine romantische Recherche. | |
Sondern auch wie eine in Sachen „Rückzug“ – noch eine von Bakargievs | |
Leitvokabeln. Denn mit dem kleinen Hotel im Hinterhof einer wuseligen | |
Einkaufsstraße Kabuls hatte sich Boetti 1971 einen Fluchtpunkt aus der | |
Kunstwelt West geschaffen. Torres spürte das 1977 aufgegebene Hotel auf und | |
renovierte es. Beim Mittagessen im Garten des kleinen Backsteinhäuschens | |
war sich der Documenta-Tross einig: Das restaurierte Refugium wäre der | |
ideale Platz für ein Artists-in-Residence-Programm. | |
## Zerstörte Paläste in Kabul und Kassel | |
Ihre eigentliche Stärke entfaltet die Schau aber beim Thema „Collapse and | |
Recovery“. Es hätte Mariam Ghanis auch in Kabul gezeigte | |
Zweikanalvideo-Installation „A brief history of collapses“ gar nicht | |
gebraucht, um die historischen Analogien, um die es Bakargiev geht, zu | |
illustrieren. Darin durchstreift die amerikanisch-afghanische Künstlerin | |
das Fridericianum und den Dar-ul-Aman-Palast. Ersteres versank 1943 im | |
Bombenhagel der Alliierten. Der riesige Palast, den Reformkönig Amanullah | |
1920 für das afghanische Parlament errichten ließ, steht heute noch als die | |
monströse Ruine, zu der er im Bürgerkrieg der neunziger Jahre zerschossen | |
wurde. | |
Als der amerikanische Künstler Michael Rakowitz seine Arbeit im Queen’s | |
Palace aufbaut, zieht er ein Foto des zerstörten Fridericianums aus der | |
Tasche. Ein einheimischer Helfer fragt ihn sofort: „Ist das Afghanistan?“ | |
Was „Zusammenbruch und Wiederaufbau“ bedeutet, versteht ein Bewohner des | |
Landes, in dessen Hauptstadt kaum ein Gebäude den Bürgerkrieg überstand, | |
ohne Worte. | |
Vollendet schließt sich der Kreis mit Goshka Macugas Digitalcollage auf | |
Teppich. In Kassel zeigt ihr 360-Grad-Rundbild die Teilnehmer eines | |
Banketts im Bagh-e Babur. Der Teppich im Queen’s Palace zeigt eine deutsche | |
Künstlergesellschaft vor dem Fridericianum. Beziehungsreiche | |
Inszenierungen, 15 der Künstler stammten aus Afghanistan selbst. Das alles | |
belegt, dass Bakargiev in Kabul keine Geschenkpackung Westkunst abgestellt | |
hat. | |
Wichtiger als die Ausstellung war ihr das Programm, mit dem sie | |
Kreativkräfte Afghanistans stimulieren wollte. Darin band sie Akteure vor | |
Ort ein wie Afghanistans einzige Kunstschule für Frauen. Und unbeachtet von | |
der Öffentlichkeit arbeiteten die Chefin selbst und einige der | |
Documenta-Künstler schon seit zwei Jahren in 15 Seminaren mit 25 | |
afghanischen KunststudentInnen und KünstlerInnen. | |
Michael Rakowitz ließ junge Bildhauer in Bamiyan die von den Taliban | |
zerstörten Buddha-Statuen nachbilden. Mariam Ghani durchforstete mit jungen | |
Filmemachern das afghanische Filmarchiv, das den Bildersturm der Taliban | |
überstand. Wer diesen Schatz eines Tages systematisch erschließt, wird die | |
kulturelle Identität des Landes mit formen. Und der argentinische Künstler | |
Adrián Villar Rojas demonstrierte seinen Studenten, wie sie aus | |
Alltagsmaterialien eine neue Welt erschaffen können. Die riesige Mauer aus | |
Lehm, mit der er die Piazza des Palastes teilte, erinnert an die Mauern | |
Kabuls. | |
Sie war zugleich eine Metapher für die Frage, wie man mit Grenzen umgeht. | |
Und Bakargiev öffnete alte Räume neu. Zur Premiere von Francis Alys’ | |
poetischem Dokumentarfilm über die Straßenkinder Kabuls versammelten sich | |
die Gäste im „Behzad“, einem ausgebombten Avantgarde-Kino aus den 40er | |
Jahren, unter freiem Himmel. | |
## Arnold Bodes Wiedergängerin | |
So hat Carolyn Christov-Bakargiev ausgerechnet in Südasien die | |
Gründungsidee der Documenta wiederbelebt: Arnold Bodes Idee von der Kunst | |
als Aufbauhelfer nach der Katastrophe des Kriegs. Was für ein Bild: Da | |
steht seine Wiedergängerin vergangene Woche in einem schummrigen | |
Seminarraum der Kabuler Universität vor einem Ölgemälde des afghanischen | |
Präsidenten Hamid Karsai im Stil des afghanischen Nachkriegsrealismus. | |
Die resolute Kunsthistorikerin rückt den Schleier über der blonden | |
Lockenmähne zurecht und diskutiert mit Kunststudenten beiderlei Geschlechts | |
über ihr Credo: „Kunst muss eine Rolle im sozialen Prozess der | |
Rekonstruktion spielen und Imagination ist die treibende Kraft darin“, sagt | |
Bakargiev. Da passte es ins Bild, dass ihre Kabuler Documenta tags drauf in | |
einem Garten eröffnete. Auch Arnold Bode startete die erste Documenta 1955 | |
als Begleitprogramm einer Bundesgartenschau. | |
Bakargievs Brückenschlag Kabul–Kassel wird als rarer Fall einer | |
Intervention in die Kunstgeschichte eingehen, die wirklich die Kräfte der | |
Zivilgesellschaft weckte, die das Afghanistan der Zukunft tragen muss. | |
„Unsere Freiheit“ hat sie am Hindukusch damit nachhaltiger verteidigt als | |
das Militär, das zur Eröffnung in Kabul so massiv aufmarschierte, wie wohl | |
bei keiner Kunstausstellung der letzten zehn Jahre. | |
Und 1.000 aufgeregt diskutierende Besucher am ersten Tag lassen hoffen, | |
dass nicht nur bei einer Handvoll Intellektueller die martialische langsam, | |
aber sicher die „subtile Expression“ ablöst, von der Ajmal Maiwandi | |
spricht. Der Direktor des Aga-Khan-Trusts für Kultur war neben dem Kabuler | |
Goethe-Institut Bakargievs wichtigster Kooperationspartner. | |
Vielleicht erwächst daraus eines Tages der Zustand der „Hoffnung“ – | |
Bakargievs viertes Stichwort. Wenn die junge Studentin Zainab Haidary aus | |
ihrem Kurs diese Ermutigung mitnimmt: „Ich komme aus einem armen Land, das | |
mit den Folgen des Kriegs kämpft. Aber ich komme mir reich vor. Denn ich | |
kann malen“. | |
26 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
Ingo Arend | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Documenta | |
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