| # taz.de -- Populärer Reiseführer für Kassel: Stadt gewordener White Cube | |
| > Gut, um sich auf die Documenta vorzubereiten: Der Kunsthistoriker Dirk | |
| > Saehrendt hat einen populären Reiseführer für Kassel, temporäre | |
| > Welthauptstadt der Kunst, geschrieben. | |
| Bild: Gesichtslose Stadt? Kunst-Metropole! | |
| Als der Parlamentarische Rat am 10. Mai 1949 Bonn zur Bundeshauptstadt der | |
| neuen Bundesrepublik, gab es in Kassel lange Gesichter. Die nordhessische | |
| Metropole hatte sich auch um deren Sitz beworben. Doch was wie eine | |
| Niederlage aussah, verwandelte sich im Laufe der Zeit in einen | |
| Standortvorteil. Denn damit war der Weg frei für eine Disziplin, die es an | |
| Wirkungsmacht mit der Politik aufnehmen konnte – der Kunst. | |
| Der Lorbeerkranz als ingeniöser Gründervater der Documenta ist dem Kasseler | |
| Kunsthistoriker Arnold Bode zwar nicht zu rauben. Doch ein | |
| Kompensationsgedanke war auch mit im Spiel, als er sechs Jahre später diese | |
| Kunstschau in der Ruine des Fridericianum eröffnen konnte – damals noch als | |
| Beiprogramm der ersten Bundesgartenschau 1955. Seitdem ist die staatlich | |
| geförderte Schau zu einem weltweit strahlenden Leuchtturm der Kulturpolitik | |
| aufgerückt. | |
| Das Buch des 1968 in Kassel geborenen Kunsthistorikers Christian Saehrendt | |
| nähert sich dieser Legende über den Umweg des Mythos. Dass er die | |
| Documenta, als zugespitzte Form des „Märchens von der modernen Kunst“, | |
| dabei mit der fantastischen Märchenwelt der Brüder Grimm, die rings um | |
| Kassel beheimatet ist, parallelisiert, ist nicht so weit hergeholt. | |
| Schließlich fungieren die Konzepte der wechselnden Kuratoren oft genug wie | |
| literarische Narrative. Und das „Wertschöpfungsmärchen“ Kunst, über das | |
| Saehrendt spottet, wiederholte sich erst kürzlich in Reinkultur, als ein | |
| Bild von Edvard Munch in New York den wahrhaft märchenhaften Auktionspreis | |
| von 120 Millionen Dollar erzielte. | |
| ## Wider den polyglotten Lästermäulern | |
| Im Kern legt Saehrendt, Autor zweier kunsthistorischer Grundlagenwerke, | |
| einer „Gebrauchsanweisung für moderne Kunst“ und eines ironischen | |
| Kunstromans, einen populären Führer durch Kassel, seine Geschichte und | |
| Geschichten und die seines alle fünf Jahre wiederkehrenden Mega-Events vor. | |
| Den polyglotten Lästermäulern, die gern über die gesichtslose Stadt | |
| herziehen, hält er ihre „Schnöseligkeit“ vor. | |
| Trotzdem verfällt er nie in lokalpatriotische Schwärmerei. Denn wenn er | |
| schreibt: „Kassel ist das ideale graue Passepartout, der beige Sockel, | |
| Kassel ist der Stadt gewordene White Cube“, analysiert er die Vorteile der | |
| atemberaubenden Provinzialität der Stadt für die Präsentation von Kunst | |
| ebenso nüchtern wie zutreffend. | |
| An Harald Kimpels 1997 ebenfalls im Dumont-Verlag erschienenes Standardwerk | |
| über die Documenta reicht Saehrendts Buch zwar nicht heran. Es funktioniert | |
| eher als anspruchsvolle Gebrauchsanweisung. Mit diesem kompakt, flüssig und | |
| amüsant geschriebenen Crashkurs durch Kassel, seine Geschichte und 12 | |
| Documentas, ist man für den Besuch dort ideologisch und praktisch aber | |
| bestens gerüstet: Mit Anekdoten wie der, dass Kaiser Wilhelm II. im | |
| Kasseler Schlosspark Wilhelmshöhe seinen Dackel ausführte, der Erinnerung | |
| an die (Propaganda-)Funktion der Documenta im Kalten Krieg oder nützlichen | |
| Informationen wie die über die Waschbärendichte oder das fehlende Nightlife | |
| in der biederen Kleinstadt. | |
| ## Verselbstständigter Mythos | |
| Folgt man seiner „Märchen“-Logik, dann ist die Documenta ein Mythos, der | |
| sich längst verselbstständigt hat. Und gerade deswegen immer neue | |
| Besucherrekorde hervorbringt. Wie in Venedig will jeder in seinem Leben | |
| wenigstens einmal dort gewesen sein. Ganz gleich, ob es eine gute oder | |
| schlechte Ausgabe geworden ist. | |
| So autopoietisch dieser Kasseler Karneval inzwischen sein mag. Saehrendt | |
| hält ihn nicht für sinnlos. Im Meer der 150 Biennalen auf der Welt könne | |
| die Documenta bestehen, wenn sie immer wieder die Provokation wage, „für | |
| 100 Tage einen Kanon zu behaupten, ein Weltmuseum der Kunst darzustellen“. | |
| Carolyn Christov-Bakargiev hat die Dimension dieser Herkulesaufgabe | |
| erkannt. Sonst hätte die Italoamerikanerin ihre 13. Documenta, die Ende | |
| dieser Woche beginnt, nicht „einen „Geisteszustand“ genannt. | |
| ## „Ist das Kunst oder kann das weg? Documenta-Geschichten, Märchen und | |
| Mythen“. Dumont-Verlag, Köln 2012, 239 Seiten, 16,95 Euro | |
| 5 Jun 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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