# taz.de -- Kunstausstellung in Hannover: Die kleine Neben-Documenta | |
> Es geht um „Hidden poems“ und Übersinnliches: Die Ausstellung „Made in | |
> Germany Zwei“ in Hannover wagt eine Bestandsaufnahme zeitgenössischer | |
> Kunst aus Deutschland. | |
Bild: Gegenpol zur Kasseler Documenta: eine Installation von Alicja Kwade. | |
Schau an, denkt man sich, schon wieder eine Bildungslücke. Wer war noch mal | |
dieser Künstler namens Jean Guillaume Ferrée? In der Kestnergesellschaft in | |
Hannover hängen drei Zeitschriftencover an der Wand, alle aus dem Jahr | |
1974, alle mit großen Ferrée-Geschichten. | |
Sogar die Bunte ist vertreten. Ferrée muss ein Star gewesen sein, gestorben | |
unter mysteriösen Umständen. Neben den Zeitschriftencovern hängt der Brief | |
eines Arztes mit Auskünften zu Ferrées Krankheitsbild. An einer besonderen | |
Form des Gedächtnisverlusts habe er gelitten, heißt es. | |
In Schüben habe er die Erinnerung an die jeweils letzten zehn Jahre | |
verloren. Faszinierend, aber gibt es so etwas wirklich? Ein paar Schritte | |
weiter steht man auf einmal in einer Rekonstruktion des Krankenzimmers von | |
Ferrée in Originalgröße. Der Verdacht erhärtet sich: Hier stimmt etwas | |
nicht. Tatsächlich sind Ferrée und seine Geschichte Fiktion. Real ist nur | |
der Hannoveraner Dirk Dietrich Hennig, der sich das alles ausgedacht hat. | |
## Nebenschauplatz zur Documenta | |
Hennig ist einer von 45 Künstlern, die derzeit im Rahmen der Ausstellung | |
„Made in Germany Zwei“ in Hannover gezeigt werden. Die Ausstellung ist das | |
Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Sprengel-Museum, der | |
Kestnergesellschaft und dem Kunstverein Hannover. Die Idee ist: Alle drei | |
Häuser machen gemeinsam eine große Ausstellung, um das Publikum der | |
zeitgleich stattfindenden Kasseler Documenta nach Hannover zu locken. | |
Eine ernsthafte Konkurrenz ergibt sich daraus aber nicht: Während die | |
Documenta mit einem Etat von 24,6 Millionen Euro rund 750.000 Besucher | |
erwartet, rechnet man bei „Made in Germany Zwei“ mit 60.000 Zuschauern und | |
hat 750.000 Euro zur Verfügung. | |
Auch die hannoversche Schau zeigt zeitgenössische Kunst, legt dabei | |
allerdings den Fokus auf den „Produktionsstandort Deutschland“. Gezeigt | |
werden ausschließlich Werke von Künstlern, die in Deutschland arbeiten, die | |
aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben müssen. Insgesamt sind 13 | |
Nationalitäten vertreten. Und wie schon bei der ersten Ausgabe von „Made in | |
Germany“ lebt der Großteil der Künstler in Berlin: Diesmal sind es 33 von | |
45. | |
Es sind keine Stars unter den Künstlern, vielmehr geht es darum, aus der | |
Generation der 30- bis 40-Jährigen jene zu zeigen, deren Arbeit von den | |
insgesamt neun Kuratoren für qualitativ wertvoll erachtet wurde. In einer | |
Vorauswahl haben sich die Kuratoren mit rund 400 Künstlern sämtlicher | |
künstlerischer Medien beschäftigt. | |
Anschließend haben sie rund 100 Ateliers besucht. Danach haben sie viel | |
diskutiert. Und das merkt man: „Made in Germany Zwei“ ist eine sehr | |
ernsthafte Ausstellung geworden. Pop, Ironie oder gar Spaß finden nicht | |
statt, auch politische Positionen gibt es nicht. | |
## Leinwände in Gips | |
Gezeigt wird überwiegend Kunst, die sich der Kunstwelt verpflichtet fühlt | |
und dabei die akademische Perspektive bedient. Der Berliner Israeli Alon | |
Levin beispielsweise hat einen Bilderrahmen gebaut, der lediglich eine | |
eingegipste Leinwand hält: Levin interessiert sich für die Praxis | |
vergangener Jahrhunderte, unliebsame Bilder zu zu gipsen. | |
Weil damit die Bilder nicht nur der Welt entrissen, sondern zugleich | |
konserviert werden. Oder die Berlinerin Natalie Czech: Sie hat in | |
Zeitschriften und Bildbänden einzelne Wörter unterstrichen, die | |
zusammengenommen Gedichte ergeben. Ihre „Hidden Poems“ zeigen, wie die | |
Kunst schon immer im Material des Alltags steckt – sie muss nur erkannt | |
werden. | |
Um solche Arbeiten greifbarer zu machen, haben die Kuratoren für die | |
Ausstellung sechs Themenfelder definiert: „Narrativität“, „Räume“, | |
„Vernetzungen“, „Übersinnliches“, „Medium als Material“ und „Ges… | |
Heute“. Levin und Czech gehören in die letzte Kategorie. | |
Mit ihren Themenfeldern aber werden die Kuratoren ihrem Vermittlungsproblem | |
nicht Herr: Die Kategorien bleiben zu unspezifisch, als dass sie | |
weiterhelfen könnten. So bleibt „Made in Germany Zwei“ das Potpourri | |
unterschiedlicher Arbeiten, das die Ausstellung schon in ihrer ersten | |
Ausgabe war. | |
## Fantastische Kopfapelle | |
Eine These zu Zustand und Potenzial der gegenwärtigen Kunst aus Deutschland | |
gibt es nicht. Auffällig ist allerdings, wie häufig die Künstler an die | |
Fantasie der Betrachter appellieren und damit das künstlerische Geschehen | |
in deren Köpfe verlegen. | |
Die Berliner Kanadierin Shannon Bool hat die Gitter eines | |
Frauengefängnisses nachgebaut und an die Gitterstäbe in Bronze gegossene | |
Alltagsgegenstände gekettet: Zigarettenpapier, ein Lippenstift, ein | |
Schlüsselanhänger, Dinge, die erzählen von den Menschen hinter den Gittern. | |
Ebenfalls vom Abwesenden künden die Fotos von Sven Johne. | |
Der Berliner hat jene Plätze fotografiert, auf denen ein Wanderzirkus | |
Station gemacht hat – leere Flächen also, die es mit Inhalt zu füllen gilt. | |
Diesen Inhalt liefert ein Conférencier, der auf einem Video die irrsten | |
Attraktionen verspricht: Seiltänzer, die ihr Herz außerhalb des Brustkorbs | |
tragen, zum Beispiel. Oder Sänger, deren Töne riechen. | |
Das Schöne an der Kunst im Kopf des Betrachters ist, dass sie über | |
materielle Aspekte hinaus geht. Die Kunst entkommt in diesen Momenten der | |
Verbeugung vor der Wirtschaft, die im Titel „Made in Germany“ und in der | |
Rede vom „Produktionsstandort Deutschland“ angelegt ist. Das ist zwar nicht | |
vordergründig politisch. Aber subversiv. | |
21 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
Klaus Irler | |
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Athen | |
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Hannover | |
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