# taz.de -- Kabinett für aktuelle Kunst: 35 Quadratmeter Utopie | |
> Seit 45 Jahren beherbergt ein kleines Ladenlokal in Bremerhaven immer | |
> wieder die Arbeiten bedeutender Künstler. Zum zweiten Mal wird das | |
> "Kabinett für aktuelle Kunst" nun selbst mit einer Ausstellung gewürdigt. | |
Bild: Noch mehr Arme: Anri Sala, "Title Suspended" (2008). | |
BREMEN taz | Kann man einen Ausstellungsraum ausstellen? Einen kleinen | |
weißgestrichenen Raum? Sind solche Räume nicht zum Ausstellen von | |
Kunstwerken da? Dazu, Bilder zu hängen und Objekte zu stellen? Können sie | |
als neutrale Orte selbst Bedeutung erhalten, zum Gegenstand von Kunst, gar | |
selbst zum Kunstwerk werden? | |
In einem nur 35 Quadratmeter großen Ladenlokal in der Bremerhavener | |
Innenstadt ist das „Kabinett für aktuelle Kunst“ untergebracht – seit 45 | |
Jahren. Tatsächlich ist dieser Raum immer wieder von Künstlern thematisiert | |
worden: Blinky Palermo, Norbert Schwontkowski und Andreas Slominski haben | |
sich mit dem Kabinett beschäftigt. Und Gregor Schneider hat es für das | |
Museum für moderne Kunst in Frankfurt maßstabsgetreu nachgebaut, wo es | |
seinerseits als Ausstellungsraum genutzt wird. | |
Das Bremer Museum Weserburg widmet dem „Kabinett für aktuelle Kunst“ und | |
seinem Betreiber Jürgen Wesseler nun eine Ausstellung, und das schon zum | |
zweiten Mal: Zum 25-jährigen Bestehen wurden Wesseler und sein Kabinett | |
ebenfalls in der Weserburg geehrt. | |
Der Titel „Vorhut aus dem Hinterland“ verweist bereits auf die seltsame | |
Position des Kabinetts: Bremerhaven ist nun wirklich keine große | |
Kunstmetropole, jene 35 Bremerhavener Quadratmeter aber sind in den | |
Metropolen aufgrund ihres besonderen Programms gut bekannt: Lange vor ihrem | |
großen Durchbruch konnten Luc Tuymans und Gerhard Richter hier ausstellen. | |
Betreiber Wesseler gilt in der Kunstszene als Trüffelschwein. | |
Peter Friese, Kurator der Bremer Ausstellung, nennt das Kabinett eine | |
„realexistierende Utopie“. Wesseler zeigte schwierige Kunst, die zunächst | |
keine allgemeine Akzeptanz fand: Minimal Art, Conceptual Art, Arte Povera. | |
„Man weiß nicht, warum er das tat“, sagt Friese. „Geld konnte man damit | |
nicht verdienen, Karriere war damit auch nicht zu machen, denn viele Leute | |
haben das einfach nicht begriffen.“ Schließlich habe sich Wesseler auf eine | |
bestimmte Kunst konzentriert, „die mit Raumkonzepten, die mit dem | |
Unsichtbaren arbeitet, mit dem was unsere Vorstellungskraft übersteigt, mit | |
Transzendenz“. | |
Noch 1976 forderte die sozialdemokratische Bremerhavener Bürgerzeitung | |
anlässlich einer Ausstellung mit Bodenskulpturen von Carl Andre, einem der | |
berühmtesten Vertreter der Minimal Art: „Den Ausstellern und Verkündern | |
solchen Schwachsinns sollte man fix jede öffentliche Förderung streichen, | |
die dann für tatsächliche künstlerische Aktivitäten eingesetzt werden | |
könnten.“ | |
Wie aber kam es zur Gründung des Kabinetts? Mitte der 1960er-Jahre bezog | |
der etwas angestaubte Bremerhavener Kunstverein von 1886 ein neues Gebäude. | |
Im unteren Teil sollten kleine Geschäfte angesiedelt werden, was misslang. | |
Eine Gruppe junger Kunstinteressierter, darunter der Vermessungsingenieur | |
Wesseler, durfte eines der leer stehenden Ladenlokale kostenlos nutzen. | |
„Wir wollten ein Programm gegen den konservativen Kunstverein machen“, | |
beschreibt Wesseler die Ausgangssituation. „Dort wurde Kunst gezeigt, die | |
noch sehr stark von der Vorkriegskunst, figürlicher Bildhauerei und | |
expressiver Malerei, geprägt war. Die ersten drei Documenta-Ausstellungen | |
waren voll davon. Wir haben unsere erste Ausstellung mit Studenten der | |
Bremer Hochschule gemacht und uns dann so vorgearbeitet. | |
„Die Ausstellungsarbeit war äußerst schwer, ich hatte weder ein Telefon | |
noch ein Auto und musste öffentliche Telefone benutzen“, erinnert er sich. | |
„Vieles lief über den direkten Kontakt. Wir sind nach Düsseldorf gefahren | |
und haben bei Beuys angeklopft und gesagt: Wir möchten eine Ausstellung mit | |
Ihnen machen. Auch den japanischen Konzeptkünstler On Kawara haben wir dort | |
kennengelernt.“ | |
## Kein neutraler White Cube | |
Der Raum spielte von Anfang an eine besondere Rolle für die | |
Ausstellungssituation. Wesseler und seine Künstler haben ihn nicht als | |
neutralen White Cube behandelt. Die Ausstellungen wurden von der | |
Besonderheit des Raumes her gedacht, viele Arbeiten erst vor Ort | |
konzipiert. Die wenigen Quadratmeter sind von der Straße her einsehbar, | |
durch eine große Schaufensterfront, ein kurzer Raumvorsprung gibt Platz, | |
etwas zu verstecken. Das Zusammenspiel von Sehbarem und Unsichtbarem, | |
zwischen Materialität und Imagination ist hier also bereits angelegt. | |
Am weitesten ging Gregor Schneider, der 2001 seine Leichenpuppe „Herr | |
Schmidt“ so im ansonsten leeren Raum platzierte, dass einzig die Beine | |
hinter dem Wandvorsprung zu sehen waren. 2005 betonierte er die | |
Fensterfront zu, ein Jahr später verhängte er gemeinsam mit Andreas | |
Slominski das Schaufenster mit einer durchscheinenden Gardine, die einen | |
voyeuristischen Blick provozierte. | |
Die Bremer Ausstellung sei so konzipiert, erläutert Friese, dass anstelle | |
einer Folge kleiner Räume, ein labyrinthisches System entworfen wurde, mit | |
Werken, die schon im Kabinett ausgestellt waren – oder Paraphrasen darauf. | |
„Das macht die Sache komplizierter: Man kann so durch die Räume | |
hindurchsehen, Motive werden gespiegelt, es wird ein Echo erzeugt. Die | |
Arbeiten kommentieren einander.“ | |
Ein schönes Konzept, das Fragen aufwirft: So hängt On Kawaras | |
kleinformatiges Ölbild „14.OKT.1976“ gegenüber Gerhard Richters „Septem… | |
2001“. On Kawara kämpft in seinen Arbeiten gegen das Verschwinden an, das | |
er nach den Bombenabwürfen auf Hiroschima und Nagasaki erfahren hat. | |
Richter hat in seinem Bild die frischgemalten New Yorker Twin Towers | |
ausgewischt. Soll der 11. September als fernes Echo auf Hiroschima | |
verstanden werden? Ein Diskurs über das Verschwinden eröffnet werden? | |
Oder das Motiv des Arms: Andreas Slominski präsentierte 2001 ein leeres | |
Kabinett. Es hieß, in eine der Wände habe er einen abgerissenen Arm | |
eingemauert. Die Besucher der Ausstellungseröffnung begannen prompt die | |
Wände nach Hohlräumen abzuklopfen. Es gab nichts zu sehen, aber etwas den | |
Blicken Entzogenes, über das sich nachdenken ließ. | |
Von Norbert Schwontkowski gibt es in der Bremer Ausstellung nun ein kleines | |
Ölbild von einem Arm drauf. Und in eine Ausstellungswand wurde eine Nische | |
eingerichtet, in der ein hölzerner Arm liegt: das Modell zu Stefan | |
Balkenhols riesigem Matrosenarm vor dem Bremerhavener Schifffahrtsmuseum. | |
Das Modell war ein Geschenk des Bildhauers an Jürgen Wesseler. | |
## Ausgestellte Geschenke | |
Überhaupt: Persönliche Geschenke der Künstler an Wesseler enthält die | |
Ausstellung einige. An einer Wand etwa hängt eine gerahmte Postkarte, die | |
der niederländische Performancekünstler Bas Jan Ader 1975 aus Amerika an | |
Wesseler und seine Frau schickte: „Gehe morgen allein von hier im | |
Segelschiff nach Europa. Eine Kunstaktion zu machen. Sehe Euch im Herbst“. | |
Bas Jan Ader ist bei seiner Aktion verschollen. Ähnlich existenziell mutet | |
eine Reihe von Telegrammen On Kawaras an. Auf jedem nur die knappe | |
Nachricht: „i am still alive“. | |
## bis 24. 3. 2013, Bremen, Museum Weserburg | |
18 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Radek Krolczyk | |
## TAGS | |
Arktis | |
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