# taz.de -- Architektur-Biennale in Venedig: Ein Teil der Gesellschaft | |
> Der britische Stararchitekt David Chipperfield will bei der Bienale | |
> erschüttern und provozieren. Nach seinem Willen kommt es in Venedig zu | |
> einem „Common Ground“. | |
Bild: Will seiner Zunft mehr Gemeinschaftssinn antrainieren: David Chipperfield. | |
Der italienische Architekt Franco Stella errichtet derzeit im Herzen der | |
deutschen Hauptstadt einen hässlichen Kasten unter dem Tarnnamen | |
Humboldt-Forum. Würde diese seltsame Kreuzung aus Möbelhaus und | |
Hohenzollernburg attraktiver, wenn sich statt seines Urhebers vier weitere | |
Architekten an dem Bau beteiligen würden? | |
Schwer zu sagen. An der rhetorischen Frage ließe sich aber der Wert der | |
„Provokation“ ermessen, mit der David Chipperfield in diesem Sommer die 13. | |
Architektur-Biennale erschüttern will. Ende August soll es nach seinem | |
Willen in Venedig um den „Common Ground“ gehen. | |
Die bestechende Idee hat der Ende Dezember 2011 zum Kommissar der Schau | |
ernannte britische Stararchitekt bewusst doppeldeutig formuliert. Gemeint | |
ist tatsächlich der reale Gemeinschaftsgrund. So wie man ihn von dem | |
deutschen Wort „Allmende“ kennt. Gemeint ist aber auch die Bereitschaft | |
seiner KollegInnen zum kollektiven Arbeiten. „Architektur bedarf der | |
Zusammenarbeit“, mahnte Chipperfield diese Woche bei Auftritten in Berlin, | |
London und Rom, wo er für seine Biennale warb. Die Architektur kreiere | |
nicht nur Objekte, sondern auch „einen Teil der Gesellschaft“. | |
Nach dem Willen des 58-Jährigen sollen die Auserkorenen diesmal nicht mit | |
Einzelpräsentationen nach Venedig kommen, sondern Gemeinschaftsprojekte zu | |
entwickeln. Jahrzehntelang sei die Architektur vom Individualismus geprägt | |
gewesen, stöhnte Chipperfield: „Alles was zählte, war der Erfolg des | |
Einzelnen.“ Nicht ganz zu Unrecht verspricht er sich eine echte | |
„Provokation“. Und will damit nicht nur Ausstellungsgewohnheiten | |
herausfordern, sondern auch das „Gemeinsame in der Architektur“ aus- | |
beziehungsweise herstellen. | |
## Kollektives Arbeitsethos | |
Einen Versuch wert ist die ungewöhnliche Idee allemal. Ob es dem | |
Berliner-Neue-Galerie-Sanierer aber tatsächlich gelingen wird, nicht | |
gänzlich uneitle Kollegen wie Peter Eisenman, Norman Foster, Zaha Hadid, | |
Hans Kollhoff oder gar einen Künstler wie Thomas Demand binnen drei Monaten | |
auf ein neues, kollektives (Arbeits)-Ethos zu verpflichten, muss sich erst | |
noch zeigen. Auf Dauer bessere Architektur dürfte daraus natürlich erst | |
erwachsen, wenn die Biennale längst vorbei ist. | |
Vielleicht sollte Chipperfield, um wirklich Nägel mit Köpfen zu machen, | |
direkt eine der eingeladenen Gruppen animieren, eine Alternative für das | |
Berliner Schloss des Grauens zu entwerfen. Es steht schließlich auf | |
gemeinsamem Grund und Boden. Und der Bundesverdienstkreuzträger hatte seine | |
Abneigung gegen den hybriden Bunker in vielen Interviews zu Protokoll | |
gegeben. | |
Auf jeden Fall ist Chipperfields Slogan ein weiteres Indiz für die | |
Renaissance des Kommunitären, die sich überall beobachten lässt. Ob nun zur | |
Rekommunalisierung städtischer Versorgungsbetriebe aufgerufen wird. Ob die | |
gerade zu Ende gegangene Rotterdamer Architektur-Biennale nach der | |
„sozial-integrativen Stadt“ fragt. Oder ob die amerikanische Theoretikerin | |
Naomi Klein schon länger die Commons beschwört – die gemeinschaftlichen | |
Güter eben. | |
Ihn interessierten Architekten, hatte Chipperfield kürzlich zu Protokoll | |
gegeben, die sich auf Projekte einließen, „die der Vereinzelung | |
entgegenwirken“. Zusammen mit dem Motto: „Reduce, Reuse, Recycle – | |
Vermeiden, Weiterverwenden, Wiederaufbereiten“, das der Münchner Architekt | |
Muck Petzet als Kommissar für den deutschen Pavillon ausgegeben hat, könnte | |
Architektur-Venedig in diesem Jahr die intellektuellen Umrisse einer | |
rot-grünen Zeitenwende liefern, an der die Politik seit Jahr und Tag | |
erfolglos herumdoktort. | |
## Weiwei, der Medienliebling | |
Schade nur, dass die 58 Projekte von 100 Künstlern, die Chipperfield | |
bislang zum großen Work-Together nach Venedig eingeladen hat, sich aus | |
genau dem weißen, westlichen, überwiegend männlichen Club rekrutieren, der | |
die Welt beständig mit seinen Architektursolitären und stargerechtem | |
Auftreten beglückt. | |
Zwar stellen sich in diesem Jahr erstmals Angola, der Kosovo, Kuwait, Peru | |
und die Türkei mit eigenen Pavillons in den Giardini an der Lagune vor. | |
Doch dass es Chipperfield für seinen Teil der Schau nicht gelungen oder | |
eingefallen ist, Architekten aus China, Indien, Afrika oder Arabien | |
einzuladen, mag man kaum glauben. | |
Gegen dieses Manko hilft auch die Nominierung des chinesischen | |
„Architekten“ Ai Weiwei nicht. Der zwar ein großer Stifter | |
gemeinschaftlicher Kunstaktionen ist. Aber längst nicht mehr als Architekt | |
arbeitet. Bei aller Liebe zur architektonischen Gemeinschaft à la | |
Chipperfield: Eine postkolonialistische Provokation, wie sie 2002 der | |
Nigerianer Okwui Enwezor der Documenta in Kassel verordnete, täte ihrem | |
venezianischen Ableger vielleicht auch mal ganz gut. | |
10 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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