# taz.de -- Halbzeit Documenta: Ästhetische Mischkalkulation | |
> Die Besucherzahlen der Documenta stimmen, ihr Kernthema aber irritiert. | |
> Hunde und Erdbeeren werden auch nach dem Ende der Kunstschau kein | |
> Wahlrecht erhalten. | |
Bild: Auf dem Sprung: Ein Teilnehmer der „Multispecies Tour“ über die Docu… | |
BERLIN taz | 378.000 Besucher zur Halbzeit, mehr als 10.000 verkaufte | |
Dauerkarten. Ökonomisch gesehen war die Documenta 13 bislang ein Erfolg. | |
Misst man sie nur an diesem Kriterium, hätte freilich auch ihre Vorgängerin | |
einer sein müssen. Denn auch die Documenta 12 des Kurators Roger Buergel | |
endete vor fünf Jahren mit einem Besucherrekord, wird aber zu den wenigen | |
gescheiterten Ausgaben der Weltkunstschau gezählt. Nein, die Kasseler | |
Steigerungsquoten verdanken sich der Logik der globalen Kulturevents: Jeder | |
muss sie gesehen haben. | |
Von einem Misserfolg wird man im Fall von Carolyn Christov-Bakargievs | |
Kasseler Parcours aber keinesfalls sprechen können. Zu viele Kunstwerke | |
haben sich schon in kurzer Zeit ins kollektive Gedächtnis gegraben: William | |
Kentridges Videoinstallation „Ablehnung der Zeit“, Theaster Gates’ | |
Gesamtkunstwerk im Hugenottenhaus, ein begnadeter Drahtseilakt zwischen | |
Nachbarschaftshilfe und Bildhauerei, Thomas Bayrles religiös aufgeladener | |
Maschinenpark in der Documenta-Halle. | |
Zumindest was die Qualität der Kunst betrifft kann man der Einschätzung von | |
Documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld beipflichten, die Nummer 13 habe | |
Maßstäbe gesetzt, „an denen andere sich abarbeiten“. | |
## Die Natur als ebenbürtiger Künstler | |
Mit ihrer Kritik des Anthropozentrismus erlitt Bakargiev intellektuell aber | |
ähnlich Schiffbruch wie Roger Buergel 2007 mit seiner fixen Idee von der | |
„Migration der Form“. Ihre bereits im Vorfeld der Schau lancierte Idee, die | |
Natur in Gestalt von Pflanzen und Tieren sei ein dem Menschen ebenbürtiger | |
Künstler, hat es in sich. Schließlich steht damit das Existenzrecht der | |
Kunst zur Disposition. | |
Ernst zu nehmende Belege für die brisante These blieb die Kuratorin jedoch | |
schuldig. Und es steht nicht zu erwarten, dass Hunden und Erdbeeren nach | |
dieser Documenta das Wahlrecht oder der Zugang zu Kunstakademien eingeräumt | |
werden wird. | |
Dass die große Abrechnung mit Bakargievs Idee ausblieb, liegt auch an der | |
ästhetischen Mischkalkulation der Kuratorin. Geschickt bettete sie ihre | |
These in so viele andere hervorragende Werke, dass ihr Kernthema nicht | |
alles dominierte. Stimmt schon, diese merkwürdige Idee mit den Hunden, | |
heißt die Standardreaktion in allen Documenta-Gesprächen. Aber hast du das | |
tolle Werk von Allora & Calzadilla im Weinberg gesehen? Sind die | |
Baktrischen Prinzessinnen aus Usbekistan nicht wunderschön? Ist das nicht | |
großartig, was die Documenta in Afghanistan auf die Beine gestellt hat? | |
Seltsame Ausweichstrategie einer streitbaren Intellektuellen. Denn auch | |
wenn man kein Freund kuratorischer Großbehauptungen ist: Eine „grüne“ | |
Documenta, eine, die über Brennnesselgärten und Bienenkörbe hinausgeht, | |
hätte in Zeiten der globalen Energiewende durchaus nahegelegen. | |
Fast alles gab es schon in Kassel: von den „Individuellen Mythologien“ | |
Harald Szeemanns 1972 bis zu Okwui Enwezors Postkolonialismus 2002. Doch | |
nie hat eine Documenta das Verhältnis von Kultur und Natur | |
durchbuchstabiert, wie es die Kunst selbst tut: vom Landschaftsbild bis zur | |
Land-Art. | |
So stehen wir zur Halbzeit in Kassel vor dem Paradox einer Schau, die das | |
Nichthumane beschwört. Von der aber alle schwärmen, wie zugewandt sie dem | |
Menschen sei. Was irgendwie auch eine Antwort auf Carolyn | |
Christov-Bakargievs Leitfrage ist. | |
30 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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