# taz.de -- Kleine Documenta in Wien: Mit den Kanarienvögeln flöten | |
> Hinter kalter Sachlichkeit haust die Magie: Die Wiener Secession erlaubt | |
> sich mit der von Catherine David kuratierten „Mutatis Mutandis“ eine | |
> kleine Documenta. | |
Bild: Suzanne Treisters Zeitungscollagen auf der „Mutatis Mutandis“. | |
Kassel ist zwar weit weg von Wien, aber derzeit spielt die Wiener Secession | |
mit einem gewissen Kassel-Flair, denn sie konnte die Ex-Documenta-Leiterin | |
Catherine David als Gastkuratorin für eine Sommerausstellung anheuern. | |
„Mutatis Mutandis“, also „nach Änderung des zu Ändernden“, heißt die… | |
und man kann sich, mutatis mutandis, dann auch ein bisschen wie auf einer | |
Mini-Documenta fühlen, zumindest was die Internationalität, den politischen | |
Anspruch und auch die Disparität der Exponate angeht. | |
Klein ist die Auswahl der acht KünstlerInnen, schnell anzuschauen ist die | |
Ausstellung trotzdem nicht, denn insgesamt sind mehr als zwei Stunden | |
Filmmaterial dabei. „Thicker Than Paint Thinner“ ist beispielsweise ein | |
30-minütiger Film des Iraners Babak Afrassiabi über einen Drogenabhängigen, | |
der eher zufällig in die Opposition gegen das Schahregime geriet und zum | |
Mittäter einer Brandstiftung im Abadaner Rex-Kino wurde, bei der 400 | |
Menschen starben. | |
Afrassiabi lässt in einem kargen Raum einen Schauspieler als Hossein, den | |
Brandstifter, auftreten. Der spricht sein Bekenntnis in einen | |
Kassettenrekorder, schreibt dann wieder das Aufgenommene auf Papier, | |
während daneben in einem Fernseher genau der Film läuft, der damals beim | |
Brand im Rex-Kino gezeigt wurde. Film, Tonband, Schreibblock – die | |
Aufzeichnungsmedien legen sich übereinander, sie verschlingen sich zu einem | |
gebrochenen Ganzen. Doch eigentlich ist es Hosseins Bericht, der zählt, | |
weshalb der Film seinen Sog nur dann entwickelt, wenn man lange genug | |
zuschaut und vor allem zuhört. | |
Dass Film den Film filmt, ist auch das Prinzip von Louidgi Beltrames | |
„Cinelândia“. Der Franzose lässt seine Kamera endlos um den verlassenen | |
Bungalow des Architekten Oscar Niemeyer im brasilianischen Dschungel von | |
Tijuca kreisen, während aus dem Off Teile eines nie verfilmten Drehbuchs | |
von Michelangelo Antonioni verlesen werden. Natürlich steht in dem | |
futuristischen Bungalow ein auf die Fensterfront gerichteter Filmprojektor. | |
Das Fenster wird zur Leinwand, als sei das Draußen nur projiziert. Auch in | |
diesem Werk geht die eigentliche Faszination von den gut gewählten Texten | |
aus. Der immer wiederholte Rhythmus von Tagebucheinträgen „giungla – | |
esterno – giorno“ wirkt zusammen mit der Kamerabewegung wie hypnotisch. | |
Auch die Werke der Ausstellung, die nicht mit Film arbeiten, reflektieren | |
Medien und das in ihnen verhandelte Wissen. Suzanne Treister verwandelt die | |
Frontseiten von Tageszeitungen in riesige alchemistische Tableaus. In | |
akribischer Feinarbeit zeichnet und schreibt die britische Künstlerin die | |
Frontseiten von Zeitungen oder auch Entwicklungen der | |
Wissenschaftsgeschichte im Muster okkulter Bildarrangements ab. Hinter | |
kalter Sachlichkeit haust immer die Magie. | |
Wissenschaftsgeschichte, Okkultismus und Militär sind die Komponenten des | |
Treister’-schen Universums. In einer anderen Werkserie („Hexen 2039/Remote | |
Viewing Drawings“) erstellte die Künstlerin unter Zuhilfenahme einer | |
Kristallkugel aus dem Londoner Science Museum hellseherische Skizzen, | |
wieder in einer anderen („War Artists“) kopiert sie Fotografien von | |
Kriegsmalern. Das Militär beschäftigt immer noch Maler, und während die | |
zeichnen, was sie sehen, zeichnet Treister die Fotografie, die zeigt, wie | |
sie zeichnen. | |
## Ein durch und durch persönliches Arrangement | |
„Mutatis Mutandis“ – die Transformation von Medien ineinander, ihr endlos… | |
Vexierspiel, ist ein Motiv, das die Ausstellung durchzieht. Warum | |
allerdings der Kurzführer in intellektualisierender Null-Prosa behauptet, | |
die Ausstellung versammele „eine Reihe von Werken, die die komplexen | |
Beziehungen zwischen aktuellen Geschehnissen, Materialität, Geschichte und | |
Erinnerung ausloten“, muss erst mal jemand erklären. | |
Die Schau ist ein leichtes, durch und durch persönliches Arrangement. So | |
wie die Installation „Grandi Legendi“ des italienischen Künstlers Andrea | |
Branzi, die dem Hauptraum der Secession eine wunderbar schwebende | |
Leichtigkeit gibt. | |
Branzi experimentiert mit Design. Auf und an massiven Holzbalken sind | |
Objekte arrangiert, Fundstücke, Bücher, Kisten mit antiken und modernen | |
Bildmotiven. An einen der Holzmasten ist ein grün bemalter Käfig montiert, | |
in dem zwei lebende Kanarienvögel hocken. Der ganze Raum wirkt wie ein | |
pastelliges Blumengemälde, es ist ein Arrangement, in dem selbst zerknickte | |
Plastikflaschen nicht wie Müll aussehen. Muss man wissen, dass die Objekte | |
Unikate sind, dass die Balken aus einem ganz bestimmten Holz gefertigt | |
wurden? | |
Wenn gerade nichts anderes zu tun ist, schwebt Catherine David in ihren | |
Sommerballerinas zum Vogelkäfig, streckt sich ein wenig und flötet den | |
Kanaris etwas zu. | |
## „Mutatis Mutandis“. Secession Wien. Noch bis zum 2. 9. 2012 | |
2 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Andrea Roedig | |
## TAGS | |
Wissenschaft | |
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