# taz.de -- Kritikerin des Gesundheitswesens: Kranke Kassen | |
> Das Gesundheitswesen ist ein aufgeblähter Kosmos voller Dienstleister, | |
> eine Megabürokratie der Kassen. Eine Kritikerin erzählt. | |
Bild: Die „All-you-can-eat-Mentalität“ der Kassenpatienten ist die Lieblin… | |
Das Einkommen entscheidet über den Grad der medizinischen Versorgung. Wer | |
arm ist, muss früher sterben. Zugleich werden die Reichen immer reicher, | |
schwimmen unsere Krankenkassen im Geld infolge der verordneten | |
Sparmaßnahmen und Beitragserhöhungen. | |
Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) macht unser | |
Gesundheitssystem (Gesundheitsfonds und gesetzliche Krankenkassen) dieses | |
Jahr 5,7 und kommendes Jahr weitere 1,8 Milliarden Euro Überschuss. Dazu | |
kommen 10 Milliarden von 2011 und 3,8 Milliarden von 2010. Die Überschüsse, | |
gern „Rücklagen“ genannt, betragen somit deutlich über 20 Milliarden Euro. | |
2 Milliarden (pro Jahr) stammen aus der sogenannten Praxisgebühr, über | |
deren Abschaffung gerade gestritten wird. Diejenigen, die streiten und die | |
gesundheits-und sozialpolitischen Entscheidungen treffen, sind allesamt | |
Leute, die keinen Cent in die Kassen der Solidargemeinschaft zahlen, | |
sondern sich im Gegenteil auch noch auf Kosten des Steuerzahlers mit | |
luxuriösen Beihilfen im Krankheitsfall ausstatten lassen. Ohne jeden | |
Skrupel. | |
Dementsprechend gnadenlos fallen die „Reformen“ aus. Die rauben den | |
Patienten immer mehr Geld und Ansprüche. Einführung neuer Zuzahlungen für | |
Praxisgebühr, häusliche Krankenpflege usf., die drastische Anhebung der | |
Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalt, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel und | |
ebenso die „Ausgliederung“ von Leistungen aus der Erstattungspflicht der | |
Krankenkasse wie rezeptfreie Medikamente, Zahnersatz, Glaukomvorsorge usf. | |
wälzten die finanziellen Risiken im Fall von Krankheit und Altersschwäche | |
immer mehr auf den Beitragszahler ab. | |
## „Demografische Zombies“ | |
Vorgeschobene Gründe für die Sparmaßnahmen gab es viele, wie die angebliche | |
„All-you-can-eat-Mentalität“ der Kassenpatienten, oder auch der | |
„demografische Effekt“, eine Lieblingswaffe von Wirtschafts- und | |
Finanzwissenschaftlern, die sich als Lobbyisten der Finanzindustrie | |
feilbieten wie damals den Nazis. Einer sprach unlängst ganz in diesem Sinne | |
öffentlich von „demografischen Zombies“ und von „Hundertjährigen, die | |
einfach nicht sterben wollen“. Die von allen Liberalisierern an die Wand | |
gemalte Kostenexplosion jedoch hat sich als Gewinnexplosion herausgestellt. | |
Hier wird deutlich, worauf das zielt, wir werden systematisch einer | |
Privatisierung nicht nur der Krankheitskosten, sondern unserer gesamten | |
medizinischen Versorgung entgegengeführt. Sie soll vollends dem Markt | |
unterworfen werden. Dazu passt die neueste Meldung, dass die Krankenkassen | |
künftig dem Kartell- bzw. Wettbewerbsrecht unterstellt und damit offiziell | |
zu UNTERNEHMEN erklärt werden. | |
Bisher galten die gesetzlichen Krankenkassen als Organisationen mit einem | |
klar definierten gesellschaftlichen Versorgungsauftrag, sie hatten eine | |
soziale Aufgabe zu erfüllen, auf dem Grundsatz der Solidarität, nach den | |
Regelungen des Sozialgesetzbuches. Wir dürfen gespannt sein, ob in Zukunft | |
die Befreiung von der Umsatzsteuer entfällt. | |
Frau Hartwig lebt auf dem Land, aber für Beschaulichkeit bleibt kaum Zeit. | |
Sie ist eine streitbare Bayerin voller Tatendrang. Seit Jahren deckt sie | |
die Machenschaften einer miteinander verfilzten Clique aus Politikern, | |
Lobbyisten und Vertretern der Gesundheitsindustrie auf, zeigt, wie und | |
wohin sie unser Gesundheitssystem manipulieren. | |
## Sie mietet das Olympiastadion | |
Sie wird laut, sie kriegt einen Zorn, sie verpfändet sogar ihr Haus, um das | |
Münchner Olympiastadion zu mieten und das alles öffentlich anzuprangern. | |
Sie ist vor dramatischen Irrtümern zwar nicht gefeit, lässt sich aber nicht | |
vom eigentlichen Ziel abbringen. Ihr Kampfruf lautet: Zivilcourage ist | |
Bürgerpflicht! Was sie will, ist Demokratie und Bürgergesellschaft. | |
In leidenschaftlichem Tonfall und bayerisch gefärbter Sprechweise erzählt | |
sie uns ihre Erfahrungen: „Ja, ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker, wo ich | |
echt sauer werde, das sind Doppelmoralisten, aber davon später. Und ich sag | |
Ihnen gleich, ich bin keine Patientenvertreterin! Das möchte ich gleich | |
klarstellen, das hätten manche gern, um mich zu entschärfen! Ich vertrete | |
Bürgerrechte. | |
Klipp und klar! Das ist ganz was anderes. Für mich ist das, was passiert im | |
Gesundheitswesen, etwas ganz Grundsätzliches, das ist eins der wichtigsten | |
gesellschaftlichen Themen. Aber aufgepasst: Wenn wir von ’Gesundheitswesen‘ | |
bzw. von ’Gesundheitssystem‘ reden, dann meinen wir nicht nur Ärzte, | |
Krankenhäuser und Krankenversicherungen. | |
Wir reden von einem aufgeblähten Kosmos an ’Dienstleistern‘, von den | |
gewaltigen Megabürokratien der Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen, | |
von Verwaltungsbeamten, von Apotheken, Labors, Instituten, von Pflege, | |
Service und Reha-Einrichtungen, Krankenhäusern und Groß-Kliniken, | |
Zulieferern und vor allem von einer alles durchdringenden gewaltigen | |
Pharmaindustrie. Die Triebfeder von dem Ganzen ist das Geld. Aber das | |
wirkliche Ausmaß von diesem Kosmos habe ich erst allmählich begriffen. | |
## Am Anfang eine Angina | |
Angefangen hat’s mit einer Angina und einem Hausarztbesuch. Als er mal kurz | |
rausmusste, habe ich zufällig einen Blick werfen können auf seinen | |
Computer, und da stand als Laufband: ’Die veranschlagte Zeit für diesen | |
Patienten ist abgelaufen.‘ Ich habe den Arzt dann zur Rede gestellt, und es | |
war ihm irgendwie peinlich, er redete was vom ’engen Budget‘. | |
Das wollte er aber dann so doch nicht stehen lassen, und eines Abends kam | |
er mit vier Kollegen zu mir nach Hause, und sie haben mir ihre Probleme auf | |
den Tisch gelegt, erzählt, dass sie furchtbar unter Druck stehen, dass sie | |
eigentlich für ihre Arbeit kaum noch was kriegen, dass sie pleitegehen und | |
dass es aus diesem Grund demnächst keine Hausärzte mehr geben wird. | |
Ich war der typische uninformierte Kassenpatient, habe denen das damals | |
natürlich alles geglaubt und mich dermaßen empört darüber, dass ich | |
beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Wir sind 70 Millionen | |
Beitragszahler, dachte ich, wir wissen nicht, was mit unserer Kohle | |
passiert, das können wir uns doch nicht bieten lassen! Sie haben mich | |
eingeladen, und so bin ich erst mal eineinhalb Jahre, als einzige | |
Nichtmedizinerin, zu den Treffen des Hausärzteverbands gegangen – auch zu | |
den Protestveranstaltungen – und habe mir angehört, was die Ärzte so zu | |
sagen haben. | |
Habe auch sehr viel recherchiert und mich sachkundig gemacht. Und ich hatte | |
all die Jahre viel zu tun mit Ärzten aus der Funktionärsszene, den | |
Verbänden, mit Ärzten, die sich berufspolitisch auseinandergesetzt haben. | |
Und erst allmählich fiel mir irgendwie auf, sie streiten eigentlich alle um | |
des Kaisers Bart. Es ging immer nur darum, welche Leistungen bringen wir | |
und was bekommen wir dafür bezahlt. Aber ich habe gedacht, diese Haltung | |
ist ein Ergebnis der Systemfehler. | |
## „Ich hasse Nürnberg!“ | |
Ich dachte, was hier gebraucht wird, ist eine informierte Bürgerbewegung, | |
zur Unterstützung, aber auch damit die Ärzte mal lernen, über ihren | |
Tellerrand zu gucken! Eine Woche später habe ich eine Initiative gestartet | |
und mithilfe meiner Webmasterin die Homepage | |
[1][patient-informiert-sich.de] ins Netz gestellt. | |
Meine Überlegung war, Ärzte und Patienten kämpfen gemeinsam. Und im April | |
2007 haben sie mich eingeladen zu einer Demonstrationsveranstaltung nach | |
Nürnberg. Ich hasse Nürnberg! Und dann auch noch Meistersinger-Halle, 2.000 | |
Ärzte haben demonstriert, weil sie zu wenig Geld kriegen und fertiggemacht | |
werden. Da war mein erster Auftritt. | |
Ich hab mich am Mikrofon zu Wort gemeldet, quasi für | |
patient-informiert-sich.de, und habe gesagt, wir Patienten, wir | |
Beitragszahler, werden nun wach, wir legen jetzt den Finger in die Wunde | |
und sagen Halt! Stop! Die Macht der Krankenkassen und Kassenärztlichen | |
Vereinigungen muss begrenzt werden, wir lassen es nicht zu, dass die | |
Hausärzte aussterben! Ich war voller Idealismus und habe mich blenden | |
lassen von den Ärzten. Das passiert mir heute nicht mehr! | |
## So wie es unter Hitler funktioniert hat | |
Meine Wut gegen die Masse der niedergelassenen Ärzte kam, als mir klar | |
wurde, dass sie selber schuld sind, dass sie freiwillig mitmachen, dass sie | |
ihr eigenes Denken, Fühlen und ihre Zivilcourage opfern für ihren ganz | |
kleinen Vorteil, für ihr ganz kleines Sicherheitsdenken. Ich habe zum | |
ersten Mal wirklich kapiert, wie das unter Hitler funktioniert hat. Ich | |
musste aber das ganze komplizierte System erst mal durchschauen lernen. | |
Und ich habe begriffen: Was draufsteht, muss nicht drin sein. | |
Beispielsweise beim ’freien niedergelassenen Arzt‘. Den gibt es nämlich gar | |
nicht. Er arbeitet in einer Scheinselbständigkeit, die er selber wählt. Es | |
funktioniert so, dass er jeden Monat eine Abschlagzahlung kriegt. Das ist | |
seine Sicherheit, auf die er allergrößten Wert legt. Wenn er die hat, ist | |
ihm vollkommen wurscht, wie das System eigentlich funktioniert. Und da | |
haben wir ein Problem! | |
Ein anderes Problem ist die Kassenärztliche Vereinigung, kurz KV. Die Macht | |
der KV kommt daher, dass die Politik sich ganz wunderbar zurückgelehnt und | |
gesagt hat: Wir machen zwar die Rahmenbedingungen, aber das eigentlich | |
Brutale, das macht mal ihr! Damals, als Hitler drankam, gab’s bestimmte | |
Strukturen der KV, und die haben sich bis heute nicht geändert.“ | |
## Der Patient bleibt übrig | |
Die KV wurde 1931 in Berlin im Zuge der Notverordnungen gegründet und 1933 | |
zur KV Deutschland. Hinfort starke Verflechtung mit dem NS-Herrschafts-und | |
Gesundheitssystem, u. a. entzog sie den jüdischen Kassenärzten ihre | |
Niederlassung und damit ihre Existenzgrundlage, was die nichtjüdischen | |
Kassenärzte billigend in Kauf nahmen. | |
„Auf der ganzen Welt gibt es keine KV, nur in Deutschland! Als offizielle | |
Standesorganisation ist sie einerseits ein Instrument, um die Ärzte | |
’führen‘ zu können, aber in der Hauptsache ist sie ein Machtinstrument, | |
denn sie ist der direkte Partner von den Kassen. Die Kassen zahlen das Geld | |
an die KV, und die sitzen dann praktisch auf diesem dicken Geldsack und | |
haben die Macht des Verteilens. Und ums Verteilen geht der ganze Hickhack! | |
Was darüber aber vergessen wird, ist der Patient, der Beitragszahler. Und | |
darum geht’s. Deshalb heißt auch mein neues Buch: ’Geldmaschine | |
Kassenpatient.‘ Der ist nämlich die sprudelnde Quelle, er zahlt ein ins | |
Solidarsystem. ’Einer für alle, alle für einen.‘ Aber wir müssen uns mal | |
fragen, funktioniert das überhaupt noch? Ich sage, wir haben kein | |
Solidarsystem mehr! | |
Der Staat bedient sich bei unseren Beiträgen und verwendet das Geld für | |
andere Zwecke. Aus diesem Topf bedienen sich mittlerweile alle, nur der | |
Patient bleibt übrig und steht da als Depp! Wenn er krank ist, muss er sich | |
entschuldigen, dass er was braucht und Kosten verursacht. Er wird nur so | |
lang gut bedient, solang aus seiner Krankheit Geld zu ziehen ist. | |
Und das wird immer knapper, wenn einer krank ist, dazu kommt dann noch eine | |
Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf Arzneimittel, die sackt der | |
Finanzminister ein – auf Katzenfutter sind’s nur 7 Prozent. In keinem | |
anderen Land der Welt ist die Umsatzsteuer auf Arzneimittel dermaßen hoch! | |
Aber ich soll’s Maul halten und zahlen. Ich finanziere meinen eigenen | |
Untergang als Patient. Die Kassenpatienten sind die rechtlosen Financiers | |
dieses Systems, das Melkvieh! Und die Ärzte haben damit kein Problem, | |
solang sie ihre Kohle kriegen. Lieber biedern sie sich an, zum Beispiel bei | |
ihrer KV. | |
## Die Kontrolle bleibt aus | |
Es gibt 17 Landes-KVen und eine Bundes-KV. Und die verschlingen schon mal | |
einen Batzen für ihre eigene Bürokratie, und üppig ist natürlich auch die | |
Ausstattung für die Kassenarzt-Funktionäre. Die KV ist ein | |
Selbstbedienungsladen, dabei ist sie doch eine Körperschaft öffentlichen | |
Rechts und nur Treuhänder unserer Gelder. Aber das interessiert die nicht, | |
die Geldpipeline wird an uns vorbeigeleitet. Ungeprüft! | |
Die Aufsichtsbehörde ist die Politik, also die Sozial- und | |
Gesundheitsministerien des jeweiligen Bundeslandes. Aber eine Kontrolle | |
findet überhaupt nicht statt! Da wird gewirtschaftet nach Gutsherrenart, | |
und die Ärzte starren nur darauf, wie wird verteilt, welche Berufsgruppe | |
kriegt zu viel, welche zu wenig! Doch alle sind sich darin einig, es ist | |
nie genug!“ | |
Ein Hausarzt verdient im Monat netto um die 8.000 Euro. Pro | |
Patientenkontakt wendet er im Durchschnitt 7,8 Minuten auf. Deutschland | |
wendet im internationalen Vergleich am wenigsten Zeit auf für die Zuwendung | |
des Arztes zum Patienten! | |
„Und Achtung, jetzt werd ich aggressiv! Die Kassenärzte lassen sich mit ein | |
paar finanziellen Anreizen ruhigstellen und liefern dafür uns Patienten | |
gnadenlos ans Messer. Ohne mit der Wimper zu zucken, oder auch weil sie zu | |
blöd sind, einen Vertrag richtig zu lesen, unterschreiben sie ihn und | |
verpflichten sich, nach dem Sozialgesetzbuch V zu arbeiten. Das heißt dann | |
im Klartext, dass sie an uns die so genannte WANZ-MEDIZIN vollziehen. | |
## Es droht die Insolvenz | |
Das Sozialgesetzbuch V regelt, auf welchem Niveau die medizinische | |
Behandlung von Kassenpatienten zu erfolgen hat. Sie muss ’WIRTSCHAFTLICH, | |
AUSREICHEND, NOTWENDIG und ZWECKMÄSSIG‘ sein. Das klingt auf den ersten | |
Blick sogar vernünftig, nur, wer definiert das? Der Arzt jedenfalls nicht! | |
Er bekommt ein Budget vorgeschrieben, und bei dessen Überschreitung drohen | |
ihm Regress und Insolvenz im schlimmsten Fall! | |
Dazu verpflichten sie sich, das ist bindend, das wird überprüft! Und dafür | |
bekommen sie dann ihre Abschlagzahlungen monatlich, wie ein Gehalt, und ein | |
halbes Jahr später ihre Abrechnung. Damit sind sie zufrieden, und mit | |
Schnäppchen, wie den IGe-Leistungen, privat zu bezahlenden ’individuellen | |
Gesundheitsleistungen‘, die der kommerzfreudige Mediziner dem | |
Kassenpatienten anbieten darf, egal ob sie zweckmäßig oder notwenig sind. | |
Das ist nicht das Bild, das ich mir von einem Arzt mache. Ich will nicht, | |
dass der Arzt meines Vertrauens sich vorschreiben lässt, was und wie viel | |
er mir als Kassenpatient verordnen darf, und dass sich die Medizin nach | |
Vorgaben zu richten hat, statt selbst zu bestimmen, wie die Behandlung sein | |
muss. Die WANZ-Medizin gehört verfassungsmäßig schon längst auf den | |
Prüfstand! | |
Sie wirkt sich besonders schädlich ausgerechnet auf diejenigen aus, die die | |
Schwächsten sind. Auf die Behinderten. Sie werden für den Arzt zum Problem, | |
bedrohen sein Budget, seine Existenz. Es gibt zahllose Behinderte, die | |
monatelang um die Bewilligung notwendiger Hilfsmittel kämpfen müssen, oder | |
sich, weil nur das Billigste verordnet wird, zum Beispiel mit unbrauchbaren | |
Inkontinenzvorlagen behelfen müssen, die zum Wundsein führen, zu | |
Verunreinigungen von Wäsche und Bett usf. Es gibt massenhaft Beispiele über | |
die Auswirkungen auf die Betroffenen. Ich kann Ihnen später noch | |
Geschichten dazu erzählen. | |
## Unbrauchbare Hilfsmittel | |
Also, je mehr ich erfahren habe, umso mehr hatte ich das Gefühl, das kann | |
doch nicht wahr sein, ich platze, mein Hirn platzt! Ich musste das | |
aufschreiben, und so ist das erste Buch ’Der verkaufte Patient‘ entstanden. | |
Ich wollte nur eins: der ganze Skandal muss unter die Leute! Da dachte ich | |
immer noch, die armen Ärzte, wir müssen was für die tun, damit sie wieder | |
richtige Ärzte sein können. | |
Dann hab ich zu meinem Mann gesagt, okay, wir mieten das Olympiastadion, | |
ich will eine große Aufklärungsveranstaltung machen. 30.000 Plätze haben | |
wir gemietet und gehofft, dass so viel Karten dann auch weggehen. Es war | |
eine gigantische Summe zu zahlen, wenn es in die Hose gegangen wäre, dann | |
hätte es geknallt bei uns! Ich hab mir dann die Unterstützung der | |
bayerischen Hausärzte gesichert. Sie haben’s in ihren Praxen bekannt | |
gemacht, und am Ende war es so, dass jeder einen Bus mit seinen Patienten | |
vollgemacht hat, so dass am 7. Juni 2008 dann tatsächlich 28.000 Menschen | |
ins Olympiastadion gekommen sind! | |
Es war sogar berittene Polizei da, ich fühlte mich wie in den 70ern. Aber | |
es war eine großartige Veranstaltung mit vielen Reden und viel Applaus. Es | |
waren auch Medien da, der Bayerische Rundfunk hat gefilmt, aber sie werden | |
es nicht glauben, nichts wurde berichtet hinterher! Kein Sterbenswörtlein. | |
Auch nicht von der Presse. | |
Als Einzige hat eine Zeitung aus Südtirol darüber berichtet. Und ich hab am | |
13. September 2009 noch mal so eine Veranstaltung im Olympiastadion | |
gemacht, wieder mit den Ärzten, und darüber wurde dann für eine Minute in | |
der „Tagesschau“ berichtet. Na, da war’s mir klar, da hab ich dann | |
endgültig gewusst, ich bin hier irgendwo, wo niemand will, dass das | |
durchsickert und dass die breite Öffentlichkeit erfährt, wie man sie | |
verarscht. | |
## Ein Schulterschluss zwischen Ärzten und Patienten | |
Damals ist auch die Bürgerinitiative Schulterschluss e. V entstanden – | |
inzwischen sind es fast 700 Bürgertreffs bundesweit – es sollte ein | |
Schulterschluss zwischen Ärzten und Patienten sein. Und dann ruft mich ein | |
Funktionär an und sagt: ’Es hat geklappt! Das haben wir erreicht durchs | |
Olympiastadion.‘ Was geklappt hatte, war Folgendes: Sie bekamen ihren | |
’Hausarztvertrag‘, sprich, mehr Geld. Statt circa 40 Euro | |
’Regelleistungsvolumen‘, bekamen sie jetzt 84 Euro für jeden Patienten, der | |
sich in den Hausarztvertrag einschreibt. | |
Lockmittel war der Erlass der Praxisgebühr durch die Kasse – das war | |
übrigens auch noch so eine Schweinerei der AOK, die quasi mit diesem | |
Versprechen massenhaft neue, übergewechselte Mitglieder in ihre Kasse | |
gezogen hatte. Und ein Jahr später hat sie alles wieder rückgängig gemacht! | |
Jedenfalls, es kam dann sofort eine Flut von Ärzten zu unseren | |
Bürgerstammtischen in Bayern, die haben Zettel verteilt und gesagt: | |
EINSCHREIBEN, EINSCHREIBEN! | |
Und als sich dann wahnsinnig viele Patienten eingeschrieben hatten, war | |
plötzlich die Ärzteschaft nicht mehr zu sehen, nicht mehr interessiert an | |
Aufklärung, an Vorträgen, Bürgerstammtisch und Schulterschluss. Sie waren | |
die Profiteure und damit genug! Sie haben unsere Plakate abgehängt in ihrer | |
Praxis und waren lammfromm. | |
Ich konnte das anfangs gar nicht glauben, dass die Ärztefunktionäre mich | |
und die Patienten nur für ihre Zwecke benutzt haben. Sie haben mich vorn | |
hingestellt als Patientenvertreterin und gesagt, mach mal. Und ich habe | |
gemacht. In meiner idealistischen Verblendung konnte ich leider nicht | |
erkennen, dass sie die Sache einfach umgedreht hatten, damit für sie eine | |
Geldquelle daraus wird. Die Ärzte klammern sich völlig abartig ans Geld! | |
Aber sie haben mich nicht umsonst reingelegt, das zahl ich denen heim! | |
## Sechs Jahre in der Schlangengrube | |
Ich sag Ihnen, ich habe in eine Schlangengrube geblickt. Ich konnte erst | |
die Schlangen überhaupt nicht erkennen. Dann bin ich reingestiegen in die | |
Grube, und was ich da gesehen habe, ist mir vollkommen fremd gewesen. | |
Inzwischen bin ich sechs Jahre in der Schlangengrube, ich kann genau die | |
Formen und Muster der einzelnen Schlangen erkennen. | |
Es gibt kleinkarierte, das sind die ’Niedergelassenen‘, die verziehen sich | |
gleich in ihre Ecke. Und dann gibt’s ein paar dicke, und dann gibt’s eine | |
ganz fette, das ist die Würgeschlange. Und alle warten sie auf Beute. Aber | |
ich lasse mich nicht erschrecken!“ Sie lacht. „Ich gehe gern mit Metaphern | |
um. Die Beute, das sind immer wir Beitragszahler, wir Patienten. Ein | |
schönes Beispiel ist auch die Gesundheitskarte.“ | |
Die Spitzenverbände des Gesundheitswesens beschlossen 2002 ein gemeinsames | |
Vorgehen zur Einführung einer Chipkarte, ’Gesundheitskarte‘ genannt. 2003 | |
von der rot-grünen Regierung beschlossen. Es wurde sogar eigens das | |
Unternehmen Gematik gegründet zur Realisierung. Die Kosten werden | |
größtenteils aus Versichertengeldern bezahlt und sollten ursprünglich mal | |
1,6 Milliarden Euro betragen. Die Einführung der Karte sollte ursprünglich | |
2006 sein, verschob sich aber laufend. Inzwischen weiß keiner, wie hoch die | |
Kosten sind. Der abgelöste Gematik-Sprecher vermutet Gesamtkosten von 14,1 | |
Milliarden Euro oder mehr. | |
## Wir brauchen diese Karte, Punkt, Ende, aus! | |
„Ich sag Ihnen, an der elektronischen Gesundheitskarte habe ich drei Jahre | |
lang gearbeitet, hab recherchiert und rumgefragt. Da werden Milliarden | |
verbraten! Und diese Milliarden, die helfen der IT-Industrie, uns zum | |
’gläsernen Patienten‘ zu machen. Wir werden ausgeliefert und verkauft, | |
denjenigen, die an uns Geld verdienen wollen. Besonders der | |
Pharmaindustrie. Die Politik lässt sich willig vorschreiben, was sie machen | |
soll. | |
Und dann heißt es plötzlich, wir brauchen diese Karte, Punkt, Ende, aus! | |
Sie dient nur eurem Wohl und vermeidet Fehlbehandlungen. Es geht aber nicht | |
um unser Wohl, sondern um das der mächtigen Interessenten. Man muss sich | |
nur mal angucken, wer in dieser Gematik neben der IT-Industrie noch so | |
alles drinsitzt. | |
Da sitzen die ganzen Spitzenverbände drin, die Kassenärztliche | |
Bundesvereinigung, die Bundes-Ärztekammer, die gesetzlichen Krankenkassen | |
und die privaten, die deutsche Krankenhausgesellschaft, der deutsche | |
Apothekerverband, hab ich alle … Ach, und es gibt auch noch einen Beirat, | |
in dem ein verlorenes Häufchen von Patienteninteressenvertretern sitzt. Das | |
sagt wohl alles. Klar, wem diese elektronische Gesundheitskarte nutzt. Uns | |
Patienten jedenfalls nicht. | |
Und die ziehen es in die Länge, damit es für uns noch teurer wird, auch | |
weil sie ein totales technisches Chaos haben. Und obwohl oder auch weil es | |
eine breite Bewegung gegen die Einführung der Gesundheitskarte gibt – der | |
Großteil der Bevölkerung ist dagegen –, macht die Politik jetzt Druck. Sie | |
sagt, Freunde, wir haben nächstes Jahr Wahl, die Gesundheitskarte und die | |
Kosten dafür könnten uns auf die Füße fallen, wir müssen gucken, wie wir | |
das so schnell wie möglich abschließen. | |
## Erpressermethoden wie bei der Mafia | |
Also, wenn ihr Kassen nicht bis Jahresende 70 Prozent eurer Versicherten | |
mit dieser Gesundheitskarte ausgerüstet habt, also mit dieser neuen | |
Technik, mit Bild und allem Drum und Dran, dann gibt’s Sanktionen! | |
Finanzielle Kürzungen! Man arbeitet nämlich hier in diesem System mit | |
Erpressermethoden wie bei der Mafia. Und die Patienten werden dann wiederum | |
von ihrer Kasse erpresst. | |
Die sagt ihnen: Wenn ihr die Karte ablehnt und kein Bild schickt, dann seid | |
ihr demnächst nicht mehr versichert, auch nicht, wenn auf eurer alten Karte | |
bis 2017 steht, die ist nämlich ungültig. Oder sie versuchen die Leute zu | |
ködern, mit einem Scheißgutschein über 8 Euro, für die Bilder. Und es ist | |
zum Heulen, ein Teil der Kassenpatientengesellschaft lässt sich durch | |
solche Schnäppchen gängeln. | |
Dabei gibt es viele Möglichkeiten der Verweigerung bis hin zum | |
Widerspruchsverfahren, mit Klage vor dem Sozialgericht, oder zum Beispiel | |
auch die Absicherung durch unsere Schutzerklärung, die wir vom | |
Bürger-Schulterschluss zusammen mit unseren Anwälten entwickelt haben – die | |
ist auch auf unserer Website. Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen! | |
## Man kann sich verweigern | |
Und darum geht es mir! Ich wollte und ich will, dass Transparenz in das | |
ganze Gesundheitssystem kommt. In solche Großprojekte wie das der | |
Gesundheitskarte und in die geheimen Umbaupläne. Denn ich will nicht, dass | |
die ganzen Privaten mit ihren Aktiengesellschaften unser gesamtes | |
Gesundheitssystem aufkaufen, Rhön AG, Helios, Vivantes und wie sie alle | |
heißen. | |
Ich will nicht, dass es nur noch medizinische Versorgungszentren gibt, | |
durch die wir alle durchgeschleust werden, damit wir denen gewinnbringend | |
die Betten füllen. Ich will, dass jeder bestmöglich versorgt wird, der | |
krank ist in dieser Republik, und dass damit ein Vertrauensverhältnis | |
zwischen Patient und Arzt endlich wieder möglich wird. Das alles ist für | |
mich ein elementares Grundrecht, und das wird gerade ausgehebelt.“ | |
## Im November erscheint der zweite Teil von Frau Hartwigs Bericht über das | |
Gesundheitswesen. | |
31 Oct 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.patient-informiert-sich.de | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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