Introduction
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# taz.de -- Kritikerin des Gesundheitswesens: Kranke Kassen
> Das Gesundheitswesen ist ein aufgeblähter Kosmos voller Dienstleister,
> eine Megabürokratie der Kassen. Eine Kritikerin erzählt.
Bild: Die „All-you-can-eat-Mentalität“ der Kassenpatienten ist die Lieblin…
Das Einkommen entscheidet über den Grad der medizinischen Versorgung. Wer
arm ist, muss früher sterben. Zugleich werden die Reichen immer reicher,
schwimmen unsere Krankenkassen im Geld infolge der verordneten
Sparmaßnahmen und Beitragserhöhungen.
Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) macht unser
Gesundheitssystem (Gesundheitsfonds und gesetzliche Krankenkassen) dieses
Jahr 5,7 und kommendes Jahr weitere 1,8 Milliarden Euro Überschuss. Dazu
kommen 10 Milliarden von 2011 und 3,8 Milliarden von 2010. Die Überschüsse,
gern „Rücklagen“ genannt, betragen somit deutlich über 20 Milliarden Euro.
2 Milliarden (pro Jahr) stammen aus der sogenannten Praxisgebühr, über
deren Abschaffung gerade gestritten wird. Diejenigen, die streiten und die
gesundheits-und sozialpolitischen Entscheidungen treffen, sind allesamt
Leute, die keinen Cent in die Kassen der Solidargemeinschaft zahlen,
sondern sich im Gegenteil auch noch auf Kosten des Steuerzahlers mit
luxuriösen Beihilfen im Krankheitsfall ausstatten lassen. Ohne jeden
Skrupel.
Dementsprechend gnadenlos fallen die „Reformen“ aus. Die rauben den
Patienten immer mehr Geld und Ansprüche. Einführung neuer Zuzahlungen für
Praxisgebühr, häusliche Krankenpflege usf., die drastische Anhebung der
Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalt, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel und
ebenso die „Ausgliederung“ von Leistungen aus der Erstattungspflicht der
Krankenkasse wie rezeptfreie Medikamente, Zahnersatz, Glaukomvorsorge usf.
wälzten die finanziellen Risiken im Fall von Krankheit und Altersschwäche
immer mehr auf den Beitragszahler ab.
## „Demografische Zombies“
Vorgeschobene Gründe für die Sparmaßnahmen gab es viele, wie die angebliche
„All-you-can-eat-Mentalität“ der Kassenpatienten, oder auch der
„demografische Effekt“, eine Lieblingswaffe von Wirtschafts- und
Finanzwissenschaftlern, die sich als Lobbyisten der Finanzindustrie
feilbieten wie damals den Nazis. Einer sprach unlängst ganz in diesem Sinne
öffentlich von „demografischen Zombies“ und von „Hundertjährigen, die
einfach nicht sterben wollen“. Die von allen Liberalisierern an die Wand
gemalte Kostenexplosion jedoch hat sich als Gewinnexplosion herausgestellt.
Hier wird deutlich, worauf das zielt, wir werden systematisch einer
Privatisierung nicht nur der Krankheitskosten, sondern unserer gesamten
medizinischen Versorgung entgegengeführt. Sie soll vollends dem Markt
unterworfen werden. Dazu passt die neueste Meldung, dass die Krankenkassen
künftig dem Kartell- bzw. Wettbewerbsrecht unterstellt und damit offiziell
zu UNTERNEHMEN erklärt werden.
Bisher galten die gesetzlichen Krankenkassen als Organisationen mit einem
klar definierten gesellschaftlichen Versorgungsauftrag, sie hatten eine
soziale Aufgabe zu erfüllen, auf dem Grundsatz der Solidarität, nach den
Regelungen des Sozialgesetzbuches. Wir dürfen gespannt sein, ob in Zukunft
die Befreiung von der Umsatzsteuer entfällt.
Frau Hartwig lebt auf dem Land, aber für Beschaulichkeit bleibt kaum Zeit.
Sie ist eine streitbare Bayerin voller Tatendrang. Seit Jahren deckt sie
die Machenschaften einer miteinander verfilzten Clique aus Politikern,
Lobbyisten und Vertretern der Gesundheitsindustrie auf, zeigt, wie und
wohin sie unser Gesundheitssystem manipulieren.
## Sie mietet das Olympiastadion
Sie wird laut, sie kriegt einen Zorn, sie verpfändet sogar ihr Haus, um das
Münchner Olympiastadion zu mieten und das alles öffentlich anzuprangern.
Sie ist vor dramatischen Irrtümern zwar nicht gefeit, lässt sich aber nicht
vom eigentlichen Ziel abbringen. Ihr Kampfruf lautet: Zivilcourage ist
Bürgerpflicht! Was sie will, ist Demokratie und Bürgergesellschaft.
In leidenschaftlichem Tonfall und bayerisch gefärbter Sprechweise erzählt
sie uns ihre Erfahrungen: „Ja, ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker, wo ich
echt sauer werde, das sind Doppelmoralisten, aber davon später. Und ich sag
Ihnen gleich, ich bin keine Patientenvertreterin! Das möchte ich gleich
klarstellen, das hätten manche gern, um mich zu entschärfen! Ich vertrete
Bürgerrechte.
Klipp und klar! Das ist ganz was anderes. Für mich ist das, was passiert im
Gesundheitswesen, etwas ganz Grundsätzliches, das ist eins der wichtigsten
gesellschaftlichen Themen. Aber aufgepasst: Wenn wir von ’Gesundheitswesen‘
bzw. von ’Gesundheitssystem‘ reden, dann meinen wir nicht nur Ärzte,
Krankenhäuser und Krankenversicherungen.
Wir reden von einem aufgeblähten Kosmos an ’Dienstleistern‘, von den
gewaltigen Megabürokratien der Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen,
von Verwaltungsbeamten, von Apotheken, Labors, Instituten, von Pflege,
Service und Reha-Einrichtungen, Krankenhäusern und Groß-Kliniken,
Zulieferern und vor allem von einer alles durchdringenden gewaltigen
Pharmaindustrie. Die Triebfeder von dem Ganzen ist das Geld. Aber das
wirkliche Ausmaß von diesem Kosmos habe ich erst allmählich begriffen.
## Am Anfang eine Angina
Angefangen hat’s mit einer Angina und einem Hausarztbesuch. Als er mal kurz
rausmusste, habe ich zufällig einen Blick werfen können auf seinen
Computer, und da stand als Laufband: ’Die veranschlagte Zeit für diesen
Patienten ist abgelaufen.‘ Ich habe den Arzt dann zur Rede gestellt, und es
war ihm irgendwie peinlich, er redete was vom ’engen Budget‘.
Das wollte er aber dann so doch nicht stehen lassen, und eines Abends kam
er mit vier Kollegen zu mir nach Hause, und sie haben mir ihre Probleme auf
den Tisch gelegt, erzählt, dass sie furchtbar unter Druck stehen, dass sie
eigentlich für ihre Arbeit kaum noch was kriegen, dass sie pleitegehen und
dass es aus diesem Grund demnächst keine Hausärzte mehr geben wird.
Ich war der typische uninformierte Kassenpatient, habe denen das damals
natürlich alles geglaubt und mich dermaßen empört darüber, dass ich
beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Wir sind 70 Millionen
Beitragszahler, dachte ich, wir wissen nicht, was mit unserer Kohle
passiert, das können wir uns doch nicht bieten lassen! Sie haben mich
eingeladen, und so bin ich erst mal eineinhalb Jahre, als einzige
Nichtmedizinerin, zu den Treffen des Hausärzteverbands gegangen – auch zu
den Protestveranstaltungen – und habe mir angehört, was die Ärzte so zu
sagen haben.
Habe auch sehr viel recherchiert und mich sachkundig gemacht. Und ich hatte
all die Jahre viel zu tun mit Ärzten aus der Funktionärsszene, den
Verbänden, mit Ärzten, die sich berufspolitisch auseinandergesetzt haben.
Und erst allmählich fiel mir irgendwie auf, sie streiten eigentlich alle um
des Kaisers Bart. Es ging immer nur darum, welche Leistungen bringen wir
und was bekommen wir dafür bezahlt. Aber ich habe gedacht, diese Haltung
ist ein Ergebnis der Systemfehler.
## „Ich hasse Nürnberg!“
Ich dachte, was hier gebraucht wird, ist eine informierte Bürgerbewegung,
zur Unterstützung, aber auch damit die Ärzte mal lernen, über ihren
Tellerrand zu gucken! Eine Woche später habe ich eine Initiative gestartet
und mithilfe meiner Webmasterin die Homepage
[1][patient-informiert-sich.de] ins Netz gestellt.
Meine Überlegung war, Ärzte und Patienten kämpfen gemeinsam. Und im April
2007 haben sie mich eingeladen zu einer Demonstrationsveranstaltung nach
Nürnberg. Ich hasse Nürnberg! Und dann auch noch Meistersinger-Halle, 2.000
Ärzte haben demonstriert, weil sie zu wenig Geld kriegen und fertiggemacht
werden. Da war mein erster Auftritt.
Ich hab mich am Mikrofon zu Wort gemeldet, quasi für
patient-informiert-sich.de, und habe gesagt, wir Patienten, wir
Beitragszahler, werden nun wach, wir legen jetzt den Finger in die Wunde
und sagen Halt! Stop! Die Macht der Krankenkassen und Kassenärztlichen
Vereinigungen muss begrenzt werden, wir lassen es nicht zu, dass die
Hausärzte aussterben! Ich war voller Idealismus und habe mich blenden
lassen von den Ärzten. Das passiert mir heute nicht mehr!
## So wie es unter Hitler funktioniert hat
Meine Wut gegen die Masse der niedergelassenen Ärzte kam, als mir klar
wurde, dass sie selber schuld sind, dass sie freiwillig mitmachen, dass sie
ihr eigenes Denken, Fühlen und ihre Zivilcourage opfern für ihren ganz
kleinen Vorteil, für ihr ganz kleines Sicherheitsdenken. Ich habe zum
ersten Mal wirklich kapiert, wie das unter Hitler funktioniert hat. Ich
musste aber das ganze komplizierte System erst mal durchschauen lernen.
Und ich habe begriffen: Was draufsteht, muss nicht drin sein.
Beispielsweise beim ’freien niedergelassenen Arzt‘. Den gibt es nämlich gar
nicht. Er arbeitet in einer Scheinselbständigkeit, die er selber wählt. Es
funktioniert so, dass er jeden Monat eine Abschlagzahlung kriegt. Das ist
seine Sicherheit, auf die er allergrößten Wert legt. Wenn er die hat, ist
ihm vollkommen wurscht, wie das System eigentlich funktioniert. Und da
haben wir ein Problem!
Ein anderes Problem ist die Kassenärztliche Vereinigung, kurz KV. Die Macht
der KV kommt daher, dass die Politik sich ganz wunderbar zurückgelehnt und
gesagt hat: Wir machen zwar die Rahmenbedingungen, aber das eigentlich
Brutale, das macht mal ihr! Damals, als Hitler drankam, gab’s bestimmte
Strukturen der KV, und die haben sich bis heute nicht geändert.“
## Der Patient bleibt übrig
Die KV wurde 1931 in Berlin im Zuge der Notverordnungen gegründet und 1933
zur KV Deutschland. Hinfort starke Verflechtung mit dem NS-Herrschafts-und
Gesundheitssystem, u. a. entzog sie den jüdischen Kassenärzten ihre
Niederlassung und damit ihre Existenzgrundlage, was die nichtjüdischen
Kassenärzte billigend in Kauf nahmen.
„Auf der ganzen Welt gibt es keine KV, nur in Deutschland! Als offizielle
Standesorganisation ist sie einerseits ein Instrument, um die Ärzte
’führen‘ zu können, aber in der Hauptsache ist sie ein Machtinstrument,
denn sie ist der direkte Partner von den Kassen. Die Kassen zahlen das Geld
an die KV, und die sitzen dann praktisch auf diesem dicken Geldsack und
haben die Macht des Verteilens. Und ums Verteilen geht der ganze Hickhack!
Was darüber aber vergessen wird, ist der Patient, der Beitragszahler. Und
darum geht’s. Deshalb heißt auch mein neues Buch: ’Geldmaschine
Kassenpatient.‘ Der ist nämlich die sprudelnde Quelle, er zahlt ein ins
Solidarsystem. ’Einer für alle, alle für einen.‘ Aber wir müssen uns mal
fragen, funktioniert das überhaupt noch? Ich sage, wir haben kein
Solidarsystem mehr!
Der Staat bedient sich bei unseren Beiträgen und verwendet das Geld für
andere Zwecke. Aus diesem Topf bedienen sich mittlerweile alle, nur der
Patient bleibt übrig und steht da als Depp! Wenn er krank ist, muss er sich
entschuldigen, dass er was braucht und Kosten verursacht. Er wird nur so
lang gut bedient, solang aus seiner Krankheit Geld zu ziehen ist.
Und das wird immer knapper, wenn einer krank ist, dazu kommt dann noch eine
Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf Arzneimittel, die sackt der
Finanzminister ein – auf Katzenfutter sind’s nur 7 Prozent. In keinem
anderen Land der Welt ist die Umsatzsteuer auf Arzneimittel dermaßen hoch!
Aber ich soll’s Maul halten und zahlen. Ich finanziere meinen eigenen
Untergang als Patient. Die Kassenpatienten sind die rechtlosen Financiers
dieses Systems, das Melkvieh! Und die Ärzte haben damit kein Problem,
solang sie ihre Kohle kriegen. Lieber biedern sie sich an, zum Beispiel bei
ihrer KV.
## Die Kontrolle bleibt aus
Es gibt 17 Landes-KVen und eine Bundes-KV. Und die verschlingen schon mal
einen Batzen für ihre eigene Bürokratie, und üppig ist natürlich auch die
Ausstattung für die Kassenarzt-Funktionäre. Die KV ist ein
Selbstbedienungsladen, dabei ist sie doch eine Körperschaft öffentlichen
Rechts und nur Treuhänder unserer Gelder. Aber das interessiert die nicht,
die Geldpipeline wird an uns vorbeigeleitet. Ungeprüft!
Die Aufsichtsbehörde ist die Politik, also die Sozial- und
Gesundheitsministerien des jeweiligen Bundeslandes. Aber eine Kontrolle
findet überhaupt nicht statt! Da wird gewirtschaftet nach Gutsherrenart,
und die Ärzte starren nur darauf, wie wird verteilt, welche Berufsgruppe
kriegt zu viel, welche zu wenig! Doch alle sind sich darin einig, es ist
nie genug!“
Ein Hausarzt verdient im Monat netto um die 8.000 Euro. Pro
Patientenkontakt wendet er im Durchschnitt 7,8 Minuten auf. Deutschland
wendet im internationalen Vergleich am wenigsten Zeit auf für die Zuwendung
des Arztes zum Patienten!
„Und Achtung, jetzt werd ich aggressiv! Die Kassenärzte lassen sich mit ein
paar finanziellen Anreizen ruhigstellen und liefern dafür uns Patienten
gnadenlos ans Messer. Ohne mit der Wimper zu zucken, oder auch weil sie zu
blöd sind, einen Vertrag richtig zu lesen, unterschreiben sie ihn und
verpflichten sich, nach dem Sozialgesetzbuch V zu arbeiten. Das heißt dann
im Klartext, dass sie an uns die so genannte WANZ-MEDIZIN vollziehen.
## Es droht die Insolvenz
Das Sozialgesetzbuch V regelt, auf welchem Niveau die medizinische
Behandlung von Kassenpatienten zu erfolgen hat. Sie muss ’WIRTSCHAFTLICH,
AUSREICHEND, NOTWENDIG und ZWECKMÄSSIG‘ sein. Das klingt auf den ersten
Blick sogar vernünftig, nur, wer definiert das? Der Arzt jedenfalls nicht!
Er bekommt ein Budget vorgeschrieben, und bei dessen Überschreitung drohen
ihm Regress und Insolvenz im schlimmsten Fall!
Dazu verpflichten sie sich, das ist bindend, das wird überprüft! Und dafür
bekommen sie dann ihre Abschlagzahlungen monatlich, wie ein Gehalt, und ein
halbes Jahr später ihre Abrechnung. Damit sind sie zufrieden, und mit
Schnäppchen, wie den IGe-Leistungen, privat zu bezahlenden ’individuellen
Gesundheitsleistungen‘, die der kommerzfreudige Mediziner dem
Kassenpatienten anbieten darf, egal ob sie zweckmäßig oder notwenig sind.
Das ist nicht das Bild, das ich mir von einem Arzt mache. Ich will nicht,
dass der Arzt meines Vertrauens sich vorschreiben lässt, was und wie viel
er mir als Kassenpatient verordnen darf, und dass sich die Medizin nach
Vorgaben zu richten hat, statt selbst zu bestimmen, wie die Behandlung sein
muss. Die WANZ-Medizin gehört verfassungsmäßig schon längst auf den
Prüfstand!
Sie wirkt sich besonders schädlich ausgerechnet auf diejenigen aus, die die
Schwächsten sind. Auf die Behinderten. Sie werden für den Arzt zum Problem,
bedrohen sein Budget, seine Existenz. Es gibt zahllose Behinderte, die
monatelang um die Bewilligung notwendiger Hilfsmittel kämpfen müssen, oder
sich, weil nur das Billigste verordnet wird, zum Beispiel mit unbrauchbaren
Inkontinenzvorlagen behelfen müssen, die zum Wundsein führen, zu
Verunreinigungen von Wäsche und Bett usf. Es gibt massenhaft Beispiele über
die Auswirkungen auf die Betroffenen. Ich kann Ihnen später noch
Geschichten dazu erzählen.
## Unbrauchbare Hilfsmittel
Also, je mehr ich erfahren habe, umso mehr hatte ich das Gefühl, das kann
doch nicht wahr sein, ich platze, mein Hirn platzt! Ich musste das
aufschreiben, und so ist das erste Buch ’Der verkaufte Patient‘ entstanden.
Ich wollte nur eins: der ganze Skandal muss unter die Leute! Da dachte ich
immer noch, die armen Ärzte, wir müssen was für die tun, damit sie wieder
richtige Ärzte sein können.
Dann hab ich zu meinem Mann gesagt, okay, wir mieten das Olympiastadion,
ich will eine große Aufklärungsveranstaltung machen. 30.000 Plätze haben
wir gemietet und gehofft, dass so viel Karten dann auch weggehen. Es war
eine gigantische Summe zu zahlen, wenn es in die Hose gegangen wäre, dann
hätte es geknallt bei uns! Ich hab mir dann die Unterstützung der
bayerischen Hausärzte gesichert. Sie haben’s in ihren Praxen bekannt
gemacht, und am Ende war es so, dass jeder einen Bus mit seinen Patienten
vollgemacht hat, so dass am 7. Juni 2008 dann tatsächlich 28.000 Menschen
ins Olympiastadion gekommen sind!
Es war sogar berittene Polizei da, ich fühlte mich wie in den 70ern. Aber
es war eine großartige Veranstaltung mit vielen Reden und viel Applaus. Es
waren auch Medien da, der Bayerische Rundfunk hat gefilmt, aber sie werden
es nicht glauben, nichts wurde berichtet hinterher! Kein Sterbenswörtlein.
Auch nicht von der Presse.
Als Einzige hat eine Zeitung aus Südtirol darüber berichtet. Und ich hab am
13. September 2009 noch mal so eine Veranstaltung im Olympiastadion
gemacht, wieder mit den Ärzten, und darüber wurde dann für eine Minute in
der „Tagesschau“ berichtet. Na, da war’s mir klar, da hab ich dann
endgültig gewusst, ich bin hier irgendwo, wo niemand will, dass das
durchsickert und dass die breite Öffentlichkeit erfährt, wie man sie
verarscht.
## Ein Schulterschluss zwischen Ärzten und Patienten
Damals ist auch die Bürgerinitiative Schulterschluss e. V entstanden –
inzwischen sind es fast 700 Bürgertreffs bundesweit – es sollte ein
Schulterschluss zwischen Ärzten und Patienten sein. Und dann ruft mich ein
Funktionär an und sagt: ’Es hat geklappt! Das haben wir erreicht durchs
Olympiastadion.‘ Was geklappt hatte, war Folgendes: Sie bekamen ihren
’Hausarztvertrag‘, sprich, mehr Geld. Statt circa 40 Euro
’Regelleistungsvolumen‘, bekamen sie jetzt 84 Euro für jeden Patienten, der
sich in den Hausarztvertrag einschreibt.
Lockmittel war der Erlass der Praxisgebühr durch die Kasse – das war
übrigens auch noch so eine Schweinerei der AOK, die quasi mit diesem
Versprechen massenhaft neue, übergewechselte Mitglieder in ihre Kasse
gezogen hatte. Und ein Jahr später hat sie alles wieder rückgängig gemacht!
Jedenfalls, es kam dann sofort eine Flut von Ärzten zu unseren
Bürgerstammtischen in Bayern, die haben Zettel verteilt und gesagt:
EINSCHREIBEN, EINSCHREIBEN!
Und als sich dann wahnsinnig viele Patienten eingeschrieben hatten, war
plötzlich die Ärzteschaft nicht mehr zu sehen, nicht mehr interessiert an
Aufklärung, an Vorträgen, Bürgerstammtisch und Schulterschluss. Sie waren
die Profiteure und damit genug! Sie haben unsere Plakate abgehängt in ihrer
Praxis und waren lammfromm.
Ich konnte das anfangs gar nicht glauben, dass die Ärztefunktionäre mich
und die Patienten nur für ihre Zwecke benutzt haben. Sie haben mich vorn
hingestellt als Patientenvertreterin und gesagt, mach mal. Und ich habe
gemacht. In meiner idealistischen Verblendung konnte ich leider nicht
erkennen, dass sie die Sache einfach umgedreht hatten, damit für sie eine
Geldquelle daraus wird. Die Ärzte klammern sich völlig abartig ans Geld!
Aber sie haben mich nicht umsonst reingelegt, das zahl ich denen heim!
## Sechs Jahre in der Schlangengrube
Ich sag Ihnen, ich habe in eine Schlangengrube geblickt. Ich konnte erst
die Schlangen überhaupt nicht erkennen. Dann bin ich reingestiegen in die
Grube, und was ich da gesehen habe, ist mir vollkommen fremd gewesen.
Inzwischen bin ich sechs Jahre in der Schlangengrube, ich kann genau die
Formen und Muster der einzelnen Schlangen erkennen.
Es gibt kleinkarierte, das sind die ’Niedergelassenen‘, die verziehen sich
gleich in ihre Ecke. Und dann gibt’s ein paar dicke, und dann gibt’s eine
ganz fette, das ist die Würgeschlange. Und alle warten sie auf Beute. Aber
ich lasse mich nicht erschrecken!“ Sie lacht. „Ich gehe gern mit Metaphern
um. Die Beute, das sind immer wir Beitragszahler, wir Patienten. Ein
schönes Beispiel ist auch die Gesundheitskarte.“
Die Spitzenverbände des Gesundheitswesens beschlossen 2002 ein gemeinsames
Vorgehen zur Einführung einer Chipkarte, ’Gesundheitskarte‘ genannt. 2003
von der rot-grünen Regierung beschlossen. Es wurde sogar eigens das
Unternehmen Gematik gegründet zur Realisierung. Die Kosten werden
größtenteils aus Versichertengeldern bezahlt und sollten ursprünglich mal
1,6 Milliarden Euro betragen. Die Einführung der Karte sollte ursprünglich
2006 sein, verschob sich aber laufend. Inzwischen weiß keiner, wie hoch die
Kosten sind. Der abgelöste Gematik-Sprecher vermutet Gesamtkosten von 14,1
Milliarden Euro oder mehr.
## Wir brauchen diese Karte, Punkt, Ende, aus!
„Ich sag Ihnen, an der elektronischen Gesundheitskarte habe ich drei Jahre
lang gearbeitet, hab recherchiert und rumgefragt. Da werden Milliarden
verbraten! Und diese Milliarden, die helfen der IT-Industrie, uns zum
’gläsernen Patienten‘ zu machen. Wir werden ausgeliefert und verkauft,
denjenigen, die an uns Geld verdienen wollen. Besonders der
Pharmaindustrie. Die Politik lässt sich willig vorschreiben, was sie machen
soll.
Und dann heißt es plötzlich, wir brauchen diese Karte, Punkt, Ende, aus!
Sie dient nur eurem Wohl und vermeidet Fehlbehandlungen. Es geht aber nicht
um unser Wohl, sondern um das der mächtigen Interessenten. Man muss sich
nur mal angucken, wer in dieser Gematik neben der IT-Industrie noch so
alles drinsitzt.
Da sitzen die ganzen Spitzenverbände drin, die Kassenärztliche
Bundesvereinigung, die Bundes-Ärztekammer, die gesetzlichen Krankenkassen
und die privaten, die deutsche Krankenhausgesellschaft, der deutsche
Apothekerverband, hab ich alle … Ach, und es gibt auch noch einen Beirat,
in dem ein verlorenes Häufchen von Patienteninteressenvertretern sitzt. Das
sagt wohl alles. Klar, wem diese elektronische Gesundheitskarte nutzt. Uns
Patienten jedenfalls nicht.
Und die ziehen es in die Länge, damit es für uns noch teurer wird, auch
weil sie ein totales technisches Chaos haben. Und obwohl oder auch weil es
eine breite Bewegung gegen die Einführung der Gesundheitskarte gibt – der
Großteil der Bevölkerung ist dagegen –, macht die Politik jetzt Druck. Sie
sagt, Freunde, wir haben nächstes Jahr Wahl, die Gesundheitskarte und die
Kosten dafür könnten uns auf die Füße fallen, wir müssen gucken, wie wir
das so schnell wie möglich abschließen.
## Erpressermethoden wie bei der Mafia
Also, wenn ihr Kassen nicht bis Jahresende 70 Prozent eurer Versicherten
mit dieser Gesundheitskarte ausgerüstet habt, also mit dieser neuen
Technik, mit Bild und allem Drum und Dran, dann gibt’s Sanktionen!
Finanzielle Kürzungen! Man arbeitet nämlich hier in diesem System mit
Erpressermethoden wie bei der Mafia. Und die Patienten werden dann wiederum
von ihrer Kasse erpresst.
Die sagt ihnen: Wenn ihr die Karte ablehnt und kein Bild schickt, dann seid
ihr demnächst nicht mehr versichert, auch nicht, wenn auf eurer alten Karte
bis 2017 steht, die ist nämlich ungültig. Oder sie versuchen die Leute zu
ködern, mit einem Scheißgutschein über 8 Euro, für die Bilder. Und es ist
zum Heulen, ein Teil der Kassenpatientengesellschaft lässt sich durch
solche Schnäppchen gängeln.
Dabei gibt es viele Möglichkeiten der Verweigerung bis hin zum
Widerspruchsverfahren, mit Klage vor dem Sozialgericht, oder zum Beispiel
auch die Absicherung durch unsere Schutzerklärung, die wir vom
Bürger-Schulterschluss zusammen mit unseren Anwälten entwickelt haben – die
ist auch auf unserer Website. Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen!
## Man kann sich verweigern
Und darum geht es mir! Ich wollte und ich will, dass Transparenz in das
ganze Gesundheitssystem kommt. In solche Großprojekte wie das der
Gesundheitskarte und in die geheimen Umbaupläne. Denn ich will nicht, dass
die ganzen Privaten mit ihren Aktiengesellschaften unser gesamtes
Gesundheitssystem aufkaufen, Rhön AG, Helios, Vivantes und wie sie alle
heißen.
Ich will nicht, dass es nur noch medizinische Versorgungszentren gibt,
durch die wir alle durchgeschleust werden, damit wir denen gewinnbringend
die Betten füllen. Ich will, dass jeder bestmöglich versorgt wird, der
krank ist in dieser Republik, und dass damit ein Vertrauensverhältnis
zwischen Patient und Arzt endlich wieder möglich wird. Das alles ist für
mich ein elementares Grundrecht, und das wird gerade ausgehebelt.“
## Im November erscheint der zweite Teil von Frau Hartwigs Bericht über das
Gesundheitswesen.
31 Oct 2012
## LINKS
[1] http://www.patient-informiert-sich.de
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Gabriele Goettle
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