# taz.de -- Kritik an jüdischer Autorin: Wer ist hier marginalisiert? | |
> Deborah Feldman polemisiert gegen jüdische Einwanderer aus der ehemaligen | |
> Sowjetunion. Sie selbst ist eine viel gehörte Stimme der jüdischen | |
> Community. | |
Bild: Deborah Feldman am 1. November in der Sendung von Markus Lanz | |
Seit dem 7. Oktober ist die US-amerikanisch-deutsche Autorin Deborah | |
Feldman ein gern gesehener Gast in deutschen Talkshows. Die Aussteigerin | |
der ultraorthodoxen Satmarer-Sekte, die seit zehn Jahren in Berlin lebt, | |
erzählt dort von ihrem persönlichen Erleben als Jüdin („Ich fühle mich | |
bedroht“); Berichte, die viele andere Juden (und Nichtjuden) irritieren, | |
weil die Realität wenig hergibt, was ihr Gefühl bestätigt. | |
Feldman behauptet, man dürfe in Deutschland „nur auf eine bestimmte Art und | |
Weise über Israel sprechen“, nämlich positiv über die Pläne der rechten | |
israelischen Regierung. [1][Im Guardian behauptet sie] in einem viel | |
zitierten Gastbeitrag, wer die deutsche Reaktion auf den Angriff der Hamas | |
kritisiere, werde marginalisiert. Das schrieb eine, die seit anderthalb | |
Monaten nichts als ungeteilte [2][öffentliche Aufmerksamkeit für genau | |
diese Kritik] erhält. Unerwähnt lässt Feldman auch die unzähligen seit dem | |
7. Oktober [3][veröffentlichten offenen Briefe], die ihr zustimmen. | |
Dass Feldman in einer verkehrten, kontrafaktischen Realität zu leben | |
scheint, bewies sie einmal mehr im Interview [4][mit dem niederländischen | |
Medium NRC]. Darin sprach sie nicht nur verächtlich über den Großteil der | |
in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, nämlich über diejenigen, die | |
[5][in den 1990er Jahren aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion] | |
eingewandert sind, sondern unterstellte ihnen Privilegien, „Macht und | |
Einfluss“. | |
Und sie sprach ihnen ab, wirklich jüdisch zu sein: Feldman fühle sich nicht | |
vertreten von Deutschen, „die eigentlich aus der Sowjetunion kommen und vom | |
Judentum gar keine Ahnung haben, sich aber hier als Juden positionieren | |
mussten, weil sie nur wegen ihres Jüdischseins einen Pass bekommen haben“. | |
## Unsichtbarkeiten jüdischer Realität | |
Deutsche aus der Sowjetunion, die von Judentum keine Ahnung haben sollen, | |
aber einen Pass bekommen haben, hä? Eine, die vorgibt, die jüdische | |
Gegenwart genau zu analysieren, offenbart, dass sie keine Ahnung hat. | |
Jüdinnen und Juden, die in den 90er Jahren über das sogenannte | |
Kontingentflüchtlingsgesetz nach Deutschland einwanderten, waren keine | |
Deutschen. Feldman meint vermutlich sogenannte [6][Russlanddeutsche], die | |
ungefähr zur selben Zeit aus der ehemaligen Sowjetunion einwanderten. Auch | |
die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Einreise unterschieden sich bei | |
beiden Gruppen fundamental. | |
Ein großer Teil jüdischer Realität in Deutschland lässt sich wie folgt | |
herunterbrechen: Plattenbau, [7][Altersarmut], Kriegserfahrung, Abwertung | |
von Lebenserfahrung. Mehr als 93 Prozent der jüdischen Zugewanderten sind | |
auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Die meisten Älteren der ehemals | |
Zugewanderten sind zwar top ausgebildet, arbeiten zum Großteil aber weit | |
unter ihren Qualifikationen. | |
Einen deutschen Pass gab es, wie von Feldman behauptet, für die ehemals | |
„jüdischen Kontingentflüchtlinge“ nicht als Einreisegeschenk. Dieser konn… | |
erst nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne beantragt werden. Knapp die | |
Hälfte der Jüdinnen und Juden in Deutschland – ehemals jüdische | |
Zugewanderte – hat ukrainische Wurzeln. Der russische Angriffskrieg ist für | |
sie sehr nah. All diese Juden machen zwar den Großteil der jüdischen | |
Gemeinschaft heute aus, erleben seit Beginn ihrer Einwanderung vor über 30 | |
Jahren aber, im Gegensatz zu Feldman, tatsächlich Marginalisierung – auf | |
sozialer wie ökonomischer Ebene. | |
## Rassistischer Mediendiskurs | |
Feldman knüpft mit ihren Aussagen übrigens an den rassistischen Diskurs der | |
90er Jahre an. Die „jüdischen Kontingentflüchtlinge“, hieß es damals, se… | |
ja gar keine „echten“ Juden und hätten sich ihre Papiere zur Einreise nur | |
erschlichen. Dahinter stecke die „Russenmafia“, so las man es in | |
zahlreichen Medien. | |
Jüdische Zugewanderte wurden mit Russlanddeutschen in einen Topf geworfen | |
und pauschal als Russen abgestempelt – ganz unabhängig von ihrer | |
tatsächlichen Herkunft. | |
Feldmans Aussagen zeugen von Ignoranz und Überheblichkeit. Sie entlarvt | |
sich selbst, wenn sie von Marginalisierung spricht, sich aber nicht zu | |
schade dafür ist, für ihre eigene politische Agenda die vulnerabelsten | |
Juden in diesem Land anzugreifen. Wer einen Streitraum innerhalb der | |
jüdischen Community fordert, kann nicht 90 Prozent ihrer Mitglieder mal | |
eben für nicht jüdisch erklären. | |
Dass Feldman in Talkshows und Zeitungen hofiert wird, ihrem individuellen | |
Erleben so viel Platz eingeräumt wird, lässt ihre Position wie eine | |
Mehrheitsmeinung aussehen. Jüdisches Leben findet aber vor allem fernab | |
einer bequemen Berliner Blase, wie sie sich Feldman geschaffen hat, statt. | |
Bei Fakten wie diesen zu bleiben, wäre ein erster Schritt, um miteinander | |
streiten zu können. | |
20 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/nov/13/germany-jewish-critic… | |
[2] /Kundgebung-zum-Gaza-Konflikt/!5972270 | |
[3] /Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154 | |
[4] https://www.nrc.nl/nieuws/2023/11/15/de-pro-israelische-houding-van-duitsla… | |
[5] /Juedische-Kontingentfluechtlinge/!5727852 | |
[6] /Alltagsbewaeltigung-in-der-Diaspora/!5760396 | |
[7] /Altersarmut-von-juedischen-Menschen/!5950460 | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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