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# taz.de -- Deutsche Haltung zu Nahost: Paternalistischer Philosemitismus
> Kritik am Staat Israel wird schnell mit Antisemitismus gleichgesetzt.
> Statt vernünftiger Argumente findet man eine Kultur des Vermeidens.
Bild: Freidensbewegte am 24. November vor dem Bundeskanzleramt
Deutschlands Juden und Jüdinnen haben wieder Angst um ihr Leben: eine
zutiefst beschämende Tatsache, hat das Land doch alles darangesetzt, seine
faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten und den Anti-Antisemitismus und
die bedingungslose Unterstützung Israels zur Staatsräson zu machen.
Doch einigen Juden und Jüdinnen geht es nicht um das vielerorts beklagte
Fehlen der Empathie angesichts der brutalen Attacken vom 7. Oktober. In
[1][einem offenen Brief beschrieben mehr als hundert in Deutschland lebende
jüdische SchriftstellerInnen, JournalistInnenen, WissenschaftlerInnen und
KünstlerInnen] ein politisches Klima, in dem jede Form des Mitleids mit
palästinensischen Zivilisten mit der Unterstützung von Hamas-Terroristen
gleichgesetzt wird. Die Folgen sind Verstöße gegen die Bürgerrechte und das
Canceln kultureller Veranstaltungen und die Gefährdung des demokratischen
Rechts auf Dissens.
Dass Deutschland hier einen paternalistischen Philosemitismus praktiziert,
indem es meint, andersdenkende Juden belehren zu müssen über ihr
Jüdischsein und über die einzige korrekte Haltung in diesem Krieg, wirkt
besonders absurd, wenn es jüdische MitbürgerInnen sind, die diese unbequeme
Beobachtung aussprechen müssen. Kritik am Staat Israel wird schnell mit
Antisemitismus gleichgesetzt; statt vernünftiger Argumente findet man eine
Kultur des Vermeidens, ein synchronisiert wirkendes Schweigen.
Deutschlands bedingungslose Unterstützung Israels halte das Land davon ab,
„[2][das Töten von Zivilisten in Gaza zu verurteilen, während es sich
erlaubt, die Bedrohung anders denkender Juden zu ignorieren, in Deutschland
wie auch in Israel]“, wie die deutsch-amerikanische Autorin Deborah Feldman
schreibt. Viele der Menschen, die am 7. Oktober ermordet wurden, hatten
sich einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts verpflichtet. Doch sie
seien, so Feldman, zugunsten der radikalen Siedler in der West Bank nicht
geschützt worden: „Für viele liberale Israelis ist das Versprechen des
Staats, Sicherheit für alle Juden zu gewährleisten, entlarvt worden als
selektiv und an Bedingungen geknüpft“.
Die Lage ist aufgeheizt, doch es müsste möglich sein, einige Tatsachen
gleichzeitig denken und aussprechen zu dürfen: das Recht Israels, sich zu
verteidigen; dass nach Angaben des der Hamas unterstehenden
Gesundheitsministeriums in Gaza bereits über 14.000 [3][Zivilisten getötet
worden seien]; der Horror der von Hamas verübten Gräueltaten; die
Vertreibung von knapp zwei Millionen Menschen und die Zerstörung ihrer
Häuser und Städte. Stattdessen wird in Gut und Böse, Schwarz und Weiß
argumentiert.
Das Verhältnis Deutschlands zu seiner Vergangenheit ist „kompliziert“,
heißt es: es gibt auch ein Trauma des Täters, das in einem langen,
schmerzhaften Prozess aufgearbeitet werden muss. Das Ergebnis ist
beunruhigend: Die zutiefst ausländerfeindliche AfD feierte neulich einen
Sieg bei einer Landratswahl in Südthüringen, womit erstmals seit 1949 eine
rechtsextreme Partei an den Hebeln der Macht sitzt – eine Entwicklung, die
in den deutschen Medien teilweise weniger Empörung ausgelöst hat als das
kürzlich erfolgte Bekenntnis eines sich bisher als jüdisch ausgebenden
Autors, dass er doch nicht jüdischer Herkunft sei.
## Fetischisierung von Jüdischsein?
Über die letzte documenta-Ausstellung und die propalästinensische
BDS-Kampagne, die von einem Bundestagsbeschluss 2019 als antisemitisch
eingestuft wurde, weil sie die Existenz Israels in Frage stelle, wurde
heftig debattiert, doch man sucht vergeblich nach einer öffentlichen
Diskussion, die sich mit der konkreten Realität Israels oder mit der
Zukunft seiner Bewohner auseinandersetzt.
Deutschland, so Feldman, fetischisiere das Jüdischsein; tatsächlich kann
dem Land eine zwanghafte Beziehung zur eigenen Vergangenheit attestiert
werden: Ein immer noch nicht verarbeitetes Ressentiment wird auf
Randgruppen projiziert und die muslimischen MitbürgerInnen beispielsweise
für den wachsenden Antisemitismus verantwortlich gemacht. Doch die
Statistiken belegen, dass Judenhass kein reiner Import ist: Von den
antisemitischen Vorfällen aus 2022 sind laut Bundespolizei 84 Prozent von
deutschen Rechtsextremen verübt worden.
Unlängst schrieb der preisgekrönte israelische Journalist Haggai Matar, die
einzige Möglichkeit, die Palästinenser daran zu hindern, sich gegen ihre
Unterdrücker aufzubegehren, bestehe darin, die Unterdrückung und die
Verweigerung ihrer Rechte zu beenden. „Es wird Gerechtigkeit, Sicherheit
und eine lebenswürdige Zukunft für uns alle geben oder für keinen von uns“.
Es wird zunehmend klar, gerade unter Israelis, dass es keine „Ausrottung“
von Terror geben kann, wenn die Ursachen dieses Terrors nicht beseitigt
werden.
## Kein Blankoscheck
„Wer sich für unschuldige Kinder in Flüchtlingslagern einsetzt, wer sich
einbringt für universelle Menschenrechte und damit für die Lehren, die aus
dem Zweiten Weltkrieg gezogen werden mussten, der ist kein Antisemit. Jede
andere Behauptung ist Gaslighting“, so Feldman. In Haaretz warnt die
israelische Journalistin Amira Hass davor, einem verwundeten, verletzten
Israel einen „Blankoscheck [zu] geben, zum hemmungslosen Töten, Zerstören
und Pulverisieren“.
Vielleicht kann Deutschland im Laufe dieser Tragödie erkennen, dass seine
Verantwortung aus dem Holocaust – die größte Lehre seiner entsetzlichen
Geschichte – darin besteht, den Mechanismen der Dehumanisierung, der
Diskriminierung und der Gewalt gegenüber allen marginalisierten Gruppen
entgegenzuwirken, wo immer sie praktiziert werden.
Dass ein Vizekanzler mit einer jungen Schriftstellerin im Fernsehen
diskutiert, bei Markus Lanz mit Deborah Feldman – das Äquivalent in den USA
wäre in etwa Kamala Harris, die mit Ta-Nehisi Coates debattieren würde,
eine angesichts der hermetischen Kreise der Macht nahezu unmögliche
Vorstellung –, lässt hoffen.
7 Dec 2023
## LINKS
[1] /Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154
[2] https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/deborah-feldman-habeck-entschei…
[3] https://www.nzz.ch/international/israel-die-hohen-opferzahlen-in-gaza-sorge…
## AUTOREN
Andrea Scrima
## TAGS
Antisemitismus
Israel
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israelkritik
Juden
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