| # taz.de -- Krieg in Sudan: Mein Abschied von Khartum | |
| > Als die Kämpfe näher kamen, war es Zeit zu gehen. Zurück bleibt der Traum | |
| > von einem besseren Sudan. Chronik einer Flucht. | |
| Bild: Das einst lebendige Khartum ist zu einer Geisterstadt geworden | |
| Wann verändert sich dein Land von einem Ort, zu dem du gehörst, in einen | |
| Ort, aus dem du weglaufen musst? Die Antwort ist einfach: Wenn die Häuser | |
| um dich herum beschossen werden. | |
| Am 15. April brach in meiner Stadt Khartum zwischen Sudans Armee, den SAF, | |
| und den Rapid Support Forces, RSF, [1][ein bewaffneter Konflikt] aus – ein | |
| so absurder Konflikt, dass ihn niemand kommen sah. Obwohl die Führer beider | |
| Streitkräfte sich öffentlich gegenseitig bedrohten, hielten die meisten von | |
| uns Sudanesen das für eine bloße Taktik, um sich Vorteile in der | |
| bevorstehenden politischen Einigung zu verschaffen. Als wir dann die | |
| Geräusche schwerer Artillerie hörten, erlitten wir einen kollektiven | |
| Schock. | |
| So wie viele Familien behandelte auch meine Familie den Konflikt als etwas, | |
| dessen Ende in Sicht ist. Zwei Tage lang war der Gefechtslärm weit weg, | |
| unser Viertel war relativ sicher und wir überstanden die Strom- und | |
| Wasserausfälle. Aber am vierten Tag ohne Strom beschlossen wir, umzuziehen. | |
| Das bedeutete damals lediglich, unser Haus zu verlassen und in einer | |
| sicheren Gegend mit Strom und Wasser eine Wohnung zu mieten, und wir fanden | |
| schnell eine. Das Internet war eine Lebenslinie, über die wir sichere | |
| Straßen und Medikamente und Dinge des Grundbedarfs ausfindig machten. | |
| Wir mieteten die Wohnung. Aber in der Nacht bekamen wir Panik, weil die | |
| Artillerie lauter war denn je. Die Aussicht aus unserem Fenster war | |
| fürchterlich. Später erfuhren wir, dass Khartums Flughafen bombardiert | |
| worden war und ein Treibstofflager in Flammen stand. | |
| ## Gehen oder bleiben? | |
| Wir beschlossen, wieder nach Hause zu gehen. Auf dem Rückweg waren die | |
| Straßen leer. Die wenigen Menschen, die wir trafen, rieten uns davon ab, | |
| weiter zu gehen. Wir konnten Gewehrfeuer hören. Ich sagte meiner Mutter und | |
| meiner Schwester im Scherz, ein Objekt in Bewegung sei schwerer zu treffen | |
| als ein regloses. Das überzeugte sie, weiter zu laufen. | |
| Zu Hause waren wir überrascht, weil der Strom wieder da war. | |
| Stadtbedienstete hatten die Sache in die eigenen Hände genommen. Die | |
| sozialen Medien waren voll von Bildern der „wahren Helden“, die Khartum | |
| unter großer Gefahr wieder Strom und Wasser brachten. | |
| Das gab uns die Chance, [2][das Zuckerfest – Eid – zu feiern.] Zwischen | |
| Gebeten und Besuchen bei Nachbarn diskutierten wir die Lage. Dank des | |
| Internets verfolgten wir die Nachrichten, aber waren auch Fake News und | |
| Propaganda ausgesetzt. Verschiedene Wahrnehmungen führten zu | |
| unterschiedlichen Wahrheiten. Die Erklärungen beider Seiten widersprachen | |
| sich. | |
| Es wurde diskutiert, Partei für eine Seite zu ergreifen. Für viele, die | |
| Teil der Revolution gewesen waren, stellten SAF und RSF aber eine Einheit | |
| dar: Am 3. Juni 2019 hatten sie die friedlichen Sitzblockaden aufgelöst und | |
| über 100 Menschen getötet, am 25. Oktober 2021 hatten sie gemeinsam | |
| geputscht und die zivile Übergangsregierung gestürzt. | |
| Manchen mag die Wahl des geringeren Übels verlockend erscheinen, aber das | |
| erfordert eine mentale und moralische Geschmeidigkeit, die die meisten von | |
| uns Sudanesen nicht beherrschen. | |
| ## Wenn eine Granate in das Haus gegenüber einschlägt | |
| [3][Neben der Politik] gab es ein weiteres, schwieriges Gesprächsthema: | |
| Gehen oder bleiben? | |
| Am 25. April fiel eine Granate in unsere Straße auf das Haus direkt | |
| gegenüber, und damit war die Entscheidung für uns gefallen. Wir packten | |
| unsere Sachen und machten uns auf den Weg nach Osten, zu meiner Oma nach | |
| Port Sudan. Es war eine vertraute Strecke, die wir früher als Familie oft | |
| gereist waren, etwa 12 Stunden unter normalen Umständen. | |
| Erst brauchte ich Geld. Bargeld vom Konto abheben ging nur noch mit einer | |
| App, die nur selten funktionierte. Manche Freunde kamen gar nicht an ihr | |
| Geld heran. Die meisten Menschen hatten ihre Aprilgehälter noch nicht | |
| erhalten, als die Kämpfe ausbrachen. Nun hatten sie überhaupt nichts. | |
| Packen war anstrengend. Wir verteilten unser Bargeld auf verschiedene | |
| Taschen, für jeden etwas, denn die Wahrscheinlichkeit, ausgeraubt zu | |
| werden, war sehr hoch. Geschichten von Freunden und Bekannten, die an | |
| RSF-Straßensperren alles verloren, bereiteten uns auf das Schlimmste vor. | |
| Eine weitere Möglichkeit war, dass jemand verletzt wird. Darüber konnten | |
| wir nicht einmal sprechen, wir nahmen einfach alles Erste-Hilfe-Material | |
| mit und beteten, dass wir es nicht brauchen würden. | |
| ## Der Versuch, nicht auf verkohlte Leichen zu schauen | |
| Die Fahrt dauerte drei Tage. Erst übernachteten wir bei einem Verwandten | |
| auf der anderen Seite der Stadt in der Nähe des Busbahnhofs. Frühmorgens | |
| fuhren wir nach Atbara, einer Stadt im Nordosten Sudans. | |
| Die Nilbrücken zu überqueren, zum ersten Mal seit Ausbruch des Konflikts, | |
| war fürchterlich. Wir versuchten, nicht auf die verkohlten Leichen in | |
| ausgebrannten SAF- und RSF-Fahrzeugen zu gucken. Das einst lebendige | |
| Stadtzentrum Khartums war eine Geisterstadt. Je näher wir dem ersten Ort | |
| kamen, der als sicher galt, desto mehr fraß mich das Schuldgefühl auf, | |
| meine Stadt zurückzulassen. | |
| Ich dachte an meine Onkel, die beschlossen hatten, in Khartum in ihren | |
| Häusern zu bleiben. Ihre Begründung war einfach: ein leeres Haus ist ein | |
| leichtes Ziel. Für die RSF zum Plündern und Einquartieren, für die SAF zum | |
| Bombardieren ohne Sorge um zivile Opfer. Sie wollten nicht das, wofür sie | |
| ihr Leben lang hart gearbeitet hatten, zum Schlachtfeld werden lassen. | |
| Bleiben als Form des Widerstands | |
| Ich begann, in ihrer Entscheidung zum Bleiben Widerstand zu erkennen – | |
| Widerstand, zu dem ich nicht fähig war, weil ich mich selbst und meine | |
| Liebsten schützen wollte. | |
| Ich versuche, diese Scham zu bekämpfen, indem ich mir sage, dass wir das | |
| Recht haben, unterschiedliche Entscheidungen zu treffen, dass unser | |
| Widerstand unserer jeweiligen Erfahrung entspricht. Und gemeinsam werden | |
| wir eine Lebenswelt schaffen, die RSF und SAF nicht einfach benutzen, | |
| manipulieren oder sogar auslöschen können. | |
| Der Bus war voller verängstiger Menschen. An jeder Straßensperre begannen | |
| die alten Frauen auf den hinteren Sitzen, laut zu beten. Zweimal hielt die | |
| RSF den Bus an. Alle Männer mussten aussteigen und wurden überprüft, ob sie | |
| SAF-Soldaten seien. An der Einfahrt nach Atbara gab es dann einen | |
| SAF-Checkpoint, da wurden die Männer überprüft, ob sie RSF-Milizionäre | |
| seien. | |
| Die Nacht in Atbara gab uns Energie für die acht Stunden Weiterfahrt nach | |
| Port Sudan. Atbara war sicher genug, sodass wir in der Nacht herumlaufen | |
| konnten und meinem Neffen und meiner Nichte ein Gefühl von Normalität | |
| schenkten. Sie ließen sich von den Einheimischen überzeugen, dass Atbara | |
| schöner ist als Khartum, und am Morgen bettelten sie darum, noch einen Tag | |
| zu bleiben, um den Park und den Bahnhof zu besichtigen. Aber unsere | |
| Fahrkarten waren gebucht, wir mussten weiter. Die Geräusche schwerer | |
| Artillerie hatten wir hinter uns gelassen. | |
| Port Sudan ist Heimat fernab der Heimat. Ich bin dort geboren, meine Mutter | |
| ist dort geboren, wir haben dort alle Zuckerfeste und Ferien verbracht, und | |
| die vertrauten Straßen und Gesichter verdrängten den Schmerz, Khartum | |
| verlassen zu haben. Man kann sich normal bewegen. Port Sudan ist jetzt | |
| faktisch Sudans neue Hauptstadt, weil auch immer mehr internationale | |
| Organisationen aus Khartum herziehen. | |
| ## Eine nächste Flucht, diesmal raus aus Sudan | |
| Aber völlig sicher ist die Stadt nicht, mit ihrer Geschichte tribaler | |
| Konflikte und einer RSF-Basis, obwohl die Sudanese Armed Forces jetzt die | |
| Kontrolle haben. Niemand weiß, wie es weitergeht. Das wichtigste | |
| Gesprächsthema ist, wann die Banken wohl wieder öffnen. Meine Tante | |
| arbeitet in einer Firma in Port Sudan, jeden Tag kommen Dutzende von Leuten | |
| zu ihr ins Büro und bitten um Arbeit. | |
| Wir sind gezwungen, an eine weitere Flucht zu denken, und diesmal muss es | |
| raus aus Sudan sein. | |
| Ich dachte immer, Sudan zu verlassen würde einfach sein, wenn die Zeit | |
| gekommen ist. Ich wuchs auf in Frust über mein Land und wie es regiert | |
| wird. Zu gehen schien immer wie ein Traum, für den die Zeit noch nicht reif | |
| war. Nun muss ich einsehen, dass der Grund für den Aufschub immer die | |
| Hoffnung gewesen ist, dass ich Teil einer wirklichen Veränderung in Sudan | |
| sein könnte; eine Hoffnung, die auf einer Liebe gründet, die ich mir selbst | |
| nicht eingestehen oder begreiflich machen konnte. | |
| Jetzt bleibt uns wenig Raum für die Entscheidung, wie, wann und wohin zu | |
| gehen. Wir möchten diesen Raum mit Würde füllen. | |
| Die Autorin ist sudanesische Datenanalystin und Journalistin und lebte bis | |
| vor kurzem in Khartum. 2022 nahm sie an einem Workshop der | |
| taz-PanterStiftung in Berlin teil. Aus dem Englischen von Dominic Johnson | |
| 14 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lujain Alsedeg | |
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