Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Konflikt in der Ostukraine: Von Krieg und Aprikosen
> Die Kleinstadt Switlodarsk befindet sich an der Grenze zu den
> Separatisten-Gebieten. Die Wirtschaft liegt am Boden, viele Kinder sind
> traumatisiert.
Bild: Tristesse in Switlodarsk: Die Stadt liegt nahe der Gebiete prorussischer …
Switlodarsk taz | Wenn es in Switlodarsk dunkel wird, dann richtig.
Gespenstisch dunkel. Niemand eilt in den kaum beleuchteten, von kräftigen
Tannen umsäumten und fast menschenleeren Straßen von einer Kneipe in die
nächste. In der 10.000-Einwohner-Stadt gibt es nur ein einziges Café – mit
einer Fläche von zehn Quadratmetern, einem Tisch, drei Stühlen und einer
zwei Meter langen Theke. Es öffnet am späten Vormittag und schließt am
frühen Nachmittag.
Gemütlich ist es trotzdem im Café „Modna Kawa“. Gemütlichkeit ist in der
Stadt, die nur zwei Kilometer von der Front zur „Volksrepublik Luhansk“
entfernt liegt, ein seltenes Gut. Kaum Autos sind auf der Straße. Nur ab
und zu mal zerreißt ein dunkles „Bum, bum“ der Artillerie von der Front die
Stille. Vor allem nachts, aber auch tagsüber.
Die Wohnungen und Häuser sind alle renovierungsbedürftig. Die BBC hatte
Anfang des Jahres in einem großen Beitrag über den zunehmenden Drogen- und
Alkoholkonsum in der Stadt berichtet. Viele Kinder fänden, wenn sie nach
Hause kämen, betrunkene oder bekiffte Eltern vor, so die BBC.
„Hier kann man nur leben, wenn man drei Jobs gleichzeitig hat“, meint der
Taxifahrer Alexander. Durchschnittlich bekomme ein Arbeiter 200 Euro im
Monat. Nur im Kohlekraftwerk liege der Lohn zwischen 500 und 700 Euro.
Lebensmittel sind teurer als in Kiew. Und wer sich auch einmal 150 Gramm
alten holländischen Gouda leisten möchte, muss dafür 7 Euro auf den Tisch
legen. Dass die Wohnungen sehr preisgünstig zu erwerben sind – 4.000 Dollar
für drei Zimmer –, ist ein schwacher Trost. Wer kann, zieht weg – in eine
andere ukrainische Stadt, nach Polen oder Russland.
## Ein Hotel aus besseren Zeiten
Das zehnstöckige Hotel „Donbass“ im Zentrum der Stadt hat auch schon
bessere Zeiten gesehen. Die letzten Renovierungsmaßnahmen dürfte es in den
70er Jahren gegeben haben. Damals hatte der Stadtstrand Touristen aus der
gesamten Sowjetunion angezogen. Doch heute suchen nur noch Militärs,
OSZE-Beobachter*innen und Journalist*innen das Hotel auf. Es ist
gespenstisch ruhig, von den Wänden bröckelt der Putz. Die Dame an der
Rezeption ist ganz aufgeregt, wenn sie, was selten vorkommt, Gästen Zimmer
zuweist.
Auf den Straßen von Switlodarsk ist kein Militär zu sehen. Checkpoints auf
der Zufahrtsstraße werden jedoch von schwer bewaffneten Soldaten bewacht.
[1][In ukrainischer Sprache], was hier unüblich ist, verlangen sie von
einigen Fahrgästen im Bus die Papiere, auch Autofahrer müssen an den
Checkpoints Dokumente vorlegen.
„Früher sind sie aus allen Himmelsrichtungen zu unserem Markt gekommen“,
sagt eine Verkäuferin. Doch nun gingen die Geschäfte schlecht. Fast nur
Rentner*innen begutachten die Angebote. Um 14 Uhr leert sich der Markt.
„Hier sind wir vor drei Jahren beschossen worden. Ganze Marktstände wurden
dabei vernichtet. Doch die Regierung hat uns nicht mal eine Kopeke gegeben,
um einen Stand wieder aufzubauen“, klagt sie. „Wir sind den Herrschenden
hier und auf der anderen Seite der Front egal.“
Vor dem Krieg hatte sie bei den Finanzbehörden der Kreisstadt Debalzewo
ihre Steuererklärung abgegeben. Nun ist Debalzewo in der Hand der
Separatisten und ihre zuständige Finanzbehörde in Bachmut. Da das Bachmuter
Finanzamt von ihrem Geschäft keine Unterlagen besaß, wurde sie in die
höchste Steuerklasse eingestuft. „Gerne hätte ich denen in Bachmut die
Unterlagen gezeigt. Doch wie? Ich kann doch nicht nach Debalzewo fahren. Zu
den Separatisten“, schimpft sie.
Eine andere Marktfrau berichtet, dass sie als Alleinstehende Unterstützung
beantragt habe. Mit der Begründung „Sie sind doch verheiratet“ habe man
ihren Antrag abgelehnt. Die Unterlagen über ihre Scheidung liegen in
Debalzewo und sind damit für die ukrainischen Behörden nicht existent. Für
diese gilt sie immer noch als verheiratet. Alle Dokumente, die einen
Stempel der „Volksrepubliken“ von Luhansk oder Donezk tragen, mit Ausnahme
von Geburts- und Sterbeurkunden, erkennen die ukrainischen Behörden nicht
an.
## In der Geisterstadt
Kontakt zur anderen Seite hat sie jedoch weiter, zu Freundinnen und
Verwandten. Politik klammert sie in den Gesprächen mit ihren Verwandten
aber aus. „Vor einem Jahr haben die Separatisten den Übergangspunkt Majorsk
geschlossen“, klagt sie. Doch mit Politik habe diese Entscheidung nichts zu
tun. „Wenn wir gezwungen sind, den Umweg über Russland zu nehmen, um
[2][nach Lugansk zu kommen], lässt sich mit uns mehr Geld machen, als wenn
wir die 100 Kilometer direkt nach Lugansk fahren würden“, erklärt sie die
fehlende Bereitschaft der Separatisten, den Checkpoint Majorsk wieder zu
öffnen. Es gehe abwärts mit Switlodarsk, fürchtet sie. „Irgendwann wird
Switlodarsk eine Geisterstadt sein“.
Ein Besucher der protestantischen Gemeinde von Switlodarsk bestätigt die
informellen Kontakte, die nicht nur zwischen Bewohner*innen beiderseits
der Front, sondern auch zwischen den Militärs bestünden. „Wenn du mit
jemandem aus dem Nachbardorf gemeinsam auf der Schule warst und nie den
Kontakt hast abreißen lassen, telefonierst du auch jetzt mit ihm“, sagt der
Gläubige. So komme es oft vor, dass Militärs der einen Seite die andere
warnten, indem sie ihnen Zeitpunkt und Ziel des nächsten Beschusses vorab
mitteilten.
Alles in allem, sagt der Mann, arbeite die Zeit für die Ukraine. Die
Menschen in den „Volksrepubliken“ würden verstehen, dass man in den von
Kiew kontrollierten Gebieten besser leben könne. Dadurch würde langfristig
den Herren der „Volksrepubliken“ die Loyalität ihrer Untertanen
abhandenkommen. Protestanten, Baptisten und Muslime würden dort in den
„Volksrepubliken“ verfolgt. Lediglich der orthodoxen Kirche räume man ein
Existenzrecht ein.
## Wo Kinder nur mit Schwarz malen
Nicht alle BewohnerInnen von Switlodarsk wollen sich mit der Perspektive
einer Geisterstadt abfinden. Zu diesen zählen die Aktivistin Olga Vovk (26)
und Andrij Poluchin (30). Das Paar ist vor drei Jahren von der Hauptstadt
Kiew nach Switlodarsk gezogen, weil es Leben in die Stadt bringen will.
Ein Kicker, eine Tischtennisplatte, Pinsel, Kreide, Farbstifte, Sessel, ein
Stuhl, von dem man auf eine Matte springen kann, und Weihnachtsgebäck
fallen dem Besucher ins Auge, der das Jugendzentrum „VPN-Zone“ betritt.
Die VPN-Zone ist ein Ort, den Jugendliche aller Altersgruppen jeden
Nachmittag aufsuchen können. Hier können sie reden, spielen und malen, auch
unter Anleitung der Leiterin Olga Vovk. „Hier in dieser Stadt sind alle
Kinder traumatisiert“, sagt Vovk, die aus dem westukrainischen Lwiw stammt.
„Sie alle haben schon im Keller gesessen, während draußen die Artillerie
donnerte.“
Sie bietet hier den Kindern und Jugendlichen ein niederschwelliges Angebot.
Das Projekt wird betrieben von der Stiftung „Die Stimmen der Kinder“. Die
Stiftung organisiert seit zwei Jahren in Ortschaften an der Front
Maltherapien. In der VPN-Zone ist immer etwas los. Wer mit Olga Vovk reden
will, kann das tun; wer sich lieber einen Film ansehen, kickern oder
Tischtennis spielen will, kann auch das.
Olga Vovk ist die Koordinatorin der „Arttherapie“ in Switlodarsk. Dabei
lassen die Betreuer*innen Kinder Bilder malen, die dann gemeinsam
besprochen werden. „Wenn wir ein Kind malen lassen, geben wir nie ein Thema
vor“, sagt Vovk. „Schon gar nicht bitten wir darum, traumatische
Erinnerungen zu thematisieren. Das Kind, oder besser gesagt, das
Unterbewusstsein des Kindes, entscheidet immer selbst, was es malt.“
In den meisten Fällen nähmen die Kinder zuerst den Stift mit der schwarzen
Farbe in die Hand und zeichneten nur in Schwarz. Mit der Zeit werden die
Zeichnungen der Kinder farbig und leuchtend, irgendwann griffen sie gar
nicht mehr nach dem schwarzen Stift. „Dies zeigt, dass sich ein
schwermütiger Zustand mit Kreativität überwinden lässt“, sagt Vovk.
## Angst vor dem Kohle-Aus
Dann erzählt sie noch die Geschichte eines ihrer Schützlinge. Die
14-jährige Olga habe eines Tages einen verdorrten Aprikosenbaum gezeichnet.
Zur Erklärung habe das Mädchen gesagt: „Wir hatten einen schönen
Aprikosenbaum in unserem Hof. Wir sind immer um ihn herumgelaufen und haben
uns Früchte geholt, so viele, wie da waren.“
Doch eines Tages, so die Teenagerin, habe sich ein Geschoss direkt unter
den Aprikosenbaum gebohrt. Seitdem trage der Baum keine Früchte mehr. Nun
kämen ihr immer, wenn sie Aprikosen sehe, der Aprikosenbaum auf ihrem Hof
und der Krieg in den Sinn.
Nicht nur die Kinder und Jugendlichen, auch die HelferInnen brauchen Hilfe.
Jede Woche mache eine Psychologin mit den Kunsttherapeut*innen
Supervision. „Wenn wir sehen, dass sich ein Kind merkwürdig verhält,
Anzeichen von Stress an den Tag legt, ziehen wir die Psychologin auch schon
mal außer der Reihe zu Rate“, erzählt Olga Vovk.
„Ein weiteres Problem ist“, erklärt ihr Mann Andrij Poluchin, „dass niem…
in eine Frontstadt investieren will. Wir brauchen hier aber die
Wirtschaft.“ Er ist der Koordinator der Vereinigung „An der Kontaktlinie“
im Gebiet Donezk. In dieser Organisation arbeiten Aktivist*innen,
Beamt*innen und Kleinunternehmer*innen von Orten mit, die an der
427 Kilometer langen Front liegen. Ihnen allen sind eine hohe
Arbeitslosigkeit sowie eine schlechte und zerstörte Infrastruktur
gemeinsam. Daran versucht die Vereinigung etwas zu ändern.
Derzeit versucht Andrij Poluchin, ein Werk der Metallindustrie in die Stadt
zu holen. Noch sei das Kohlekraftwerk von Switlodarsk ein wichtiger und
guter Arbeitgeber für 2.500 Menschen. Nirgends in der Stadt werde so gut
bezahlt wie dort. Doch auch die Ukraine wolle aus der Kohleindustrie
aussteigen. Für Switlodarsk bedeute das, dass eines Tages auch der
wichtigste Arbeitgeber wegbrechen werde.
23 Dec 2021
## LINKS
[1] /Sprachenstreit-in-der-Ukraine/!5369869
[2] /Krieg-in-der-Volksrepublik-Luhansk/!5665066
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Ostukraine
Volksrepublik Lugansk
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
Russland
Wladimir Putin
Russland
Russland
Ostukraine
Wirtschaftssanktionen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Früherer Präsident der Ukraine: Poroschenko-Vermögen eingezogen
Ukraines Ex-Präsident soll mit Terrorgruppen in den Separatistengebieten
kooperiert haben. Er selbst weilt zurzeit im Ausland – und wehrt sich.
Ukrainischer Regisseur verhaftet: In Neapel schnappt die Falle zu
Aufgrund eines Ersuchens Russlands wird Jewhen Lawrenchuk in
Untersuchungshaft genommen. Die Anschuldigungen sind diffus.
Konflikt zwischen Westen und Russland: Drei Gipfel zur Besänftigung
Nicht nur die USA sollen am 10. Januar mit Moskau sprechen. Nato und OSZE
wollen nachziehen. Russlands Außenminister Lawrow kündigt „harte Linie“ a…
Jahrespressekonferenz von Putin: Eine Nato-Erweiterung bleibt tabu
Bei seinem Auftritt vor Journalisten äußert sich Russlands Präsident auch
zur Außenpolitik. In Sachen Ukraine seien jetzt die USA am Zug.
Stoltenberg appelliert an Putin: Nato fordert entspannte Weihnachten
Zu Weihnachten appelliert der Nato-Generalsekretär an Moskau, für
Entspannung zu sorgen. Putin stellt sich am Donnerstag Fragen von
Journalist*innen.
Konflikt in der Ostukraine: Russisches Säbelrasseln
Nach mehrtägigen Militärmanövern verlegt Moskau zusätzliche Einheiten an
die Grenze zur Ukraine. Dort stehen jetzt rund 90.000 Soldaten.
Russisch-ukrainische Beziehungen: Die Feindin umarmen
Zwei Sportlerinnen umarmen sich für ein Foto und ernten Hass. Das
ukrainisch-russische Verhältnis bleibt vergiftet, die Verhandlungen
stocken.
Russland und die EU: Europas Botschaft an Moskau
Die EU verlängert die Wirtschaftssanktionen gegen Russland. So wie der
Kreml in der Ostukraine agiert, bleibt ihr auch nichts anderes übrig.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.