Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kommunalwahl in Brandenburg: Hier kennt man keine Parteien mehr
> Im brandenburgischen Lieberose kandidiert bei der Kommunalwahl am 9. Juni
> keine Partei mehr. Bringen Bürgerlisten Schwung in die Kommunalpolitik?
Bild: Ein brandenburgisches Kleinod: Lieberose mit Blick auf das alte Rathaus
Lieberose taz | Die Frage, wer in Lieberose Bürgermeisterin wird,
entscheidet sich am Marktplatz des Landstädtchens im Südosten Brandenburgs.
Am [1][Markt 6] betreibt Amtsinhaberin Petra Dreißig ein Café und eine
Bäckerei. Ein paar Häuser weiter befindet sich am Markt 12 der Blumenladen
von Kerstin Michelchen. Sie ist die Herausforderin und Vorgängerin von
Dreißig.
Diese Nähe der beiden Kandidatinnen ist es allerdings nicht, die Lieberose
über Brandenburg hinaus bekannt gemacht hat. Es ist die Tatsache, dass zur
Kommunalwahl am 9. Juni keine einzige Partei mehr antritt. „Von den
Parteien ist keiner mehr da, da will sich niemand die Hosen anziehen“, sagt
Kerstin Michelchen, die für das „Bündnis Freie Liste Lieberose“ antritt.
Petra Dreißig formuliert es diplomatischer. „Den Parteien fehlt die
Bürgernähe.“
Das 1.500 Menschen zählende Lieberose ist ein Kleinod. Auf dem Marktplatz
sind neben Café und Blumenladen das Rathaus und die hübsche Wendische
Kirche ein Augenfang. Es gibt ein [2][barockes Schloss samt Park] und der
von der Stadt als Veranstaltungsort genutzten ehemaligen Samendarre.
Richtung Cottbus erstreckt sich auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz das
„wilde Herz der Lausitz“. Zu dieser [3][„Naturwelt Lieberoser Heide“]
gehört nicht nur Deutschlands größte Sandwüste, sondern auch der „Urwald
von morgen“, ein [4][Pionierwald, der ohne Eingriff des Menschen wachsen
darf.]
Odett Arnold kann aus dem Stand weitere Sehenswürdigkeiten nennen.
„Wunderschön ist die eiszeitlich geprägte Hügellandschaft“, sagt die in
Lieberose geborene [5][Tourismusexpertin]. „Auf dem [6][Heideradweg] können
Sie von der Lieberoser Heide bis ins [7][Schlaubetal] radeln, und
vielleicht gibt es bald auch einen Skywalk zur Lieberoser Wüste“. 25
Millionen Euro hat das Land Brandenburg für die touristische Erschließung
des Truppenübungsplatzes und den Bau eines Erlebniszentrums locker gemacht.
Das Geld stammt aus den Mitteln für ehemalige Bergbauregionen. Auch ein
Kompetenzzentrum des Landesforsts zum Thema Waldbrandbekämpfung soll in das
Gebäude. Doch ob alles so kommt, steht in den Sternen.
## Ideen und Enttäuschungen
Bürgermeisterin Petra Dreißig weiß, dass es in Lieberose schon viele Ideen,
aber auch zahlreiche Enttäuschungen gegeben hat. Den vorerst letzten
Rückschlag hat sie selbst miterlebt. Als Ende April der Bebauungsplan für
die touristische Nutzung der Wüste aufgestellt werden sollte, war die
Stadtverordnetenversammlung (SVV) nicht beschlussfähig. Dabei war das
Interesse riesig. „Sechzig Leute waren in den Versammlungsraum der Darre
gekommen“, sagt Dreißig. „Was soll man in so einem Augenblick machen?“
An den Parteien lag es nicht, dass nur fünf der zehn Verordneten gekommen
waren – erst mit sechs hätte der Bebauungsplan aufgestellt werden können.
„Der einzige Vertreter der Linken ist bereits gestorben“, sagt die
48-Jährige, die am 9. Juni für die Liste „Aufbruch neue Zeit“ kandidiert.
Bürgermeisterin war sie 2019 für die „Freie Liste Lieberose“ geworden. Die
aber tritt nun nicht mehr an. Weil ein anderer Verordneter seit drei Jahren
nicht mehr kommt und drei andere sich kurzfristig krank meldeten, stand
Petra Dreßig mit leeren Händen da.
Die Bürgermeisterin eröffnete die Sitzung der Stadtverordneten dennoch, sie
wollte die Anwesenden wenigstens über den Stand der Planungen informieren.
„Die Naturwelt ist wichtig für Lieberose“, sagt Dreißig.
Der wirtschaftliche Aufschwung, der Brandenburg inzwischen zu einem der
dynamischsten Wirtschaftsstandorte in Deutschland gemacht hat, ist an
Lieberose bislang vorbeigegangen. Statt der guten häuften sich zuletzt die
schlechten Nachrichten.
Das Restaurant in der Darre, wo sich die SVV trifft, hat keinen Pächter
mehr, und der Berliner Augenarzt, an den die Brandenburger
Schlösserstiftung das Schloss verkauft hat, hat [8][das wichtige Festival
zeitgenössischer Kunst, den „Rohkunstbau“], dort vergrault. Nun kommen
keine Kunsttouristen mehr aus Berlin, Cottbus oder Dresden. Das Schloss
steht leer, der Augenarzt will es zum Hochzeithotel umbauen lassen.
Einer, der sich sehr für eine andere Nutzung eingesetzt hat, ist Dieter
Klaue. Sein [9][„Förderverein Lieberose“] hat an markanten Gebäuden der
Kleinstadt Erklärtafeln angebracht, holt Lesungen in die Darre, steht neben
den Vereinen für das, was im ländlichen Raum Zivilgesellschaft bedeutet.
## Ein großer Frust
Dass nun überhaupt keine Partei mehr in Lieberose antritt, überrascht ihn
nicht. „Die Parteien wagen sich nicht mehr zu uns vor“, sagt er, „sie hab…
auch keine Ortsgruppen mehr.“ Allerdings sei es für Parteien auch nicht
besonders erfolgversprechend, im ländlichen Raum anzutreten. „Es gibt einen
großen Frust auf die Bundespolitik, das ist hier die Stimmung.“
Nicht nur die SPD, deren Ministerpräsident Dietmar Woidke zuletzt alles auf
seinen Nimbus als zupackender Landesvater setzt, ist in Lieberose nicht
angetreten, sondern auch die AfD. Dennoch hat Dieter Klaue einen
Stimmungswechsel beobachtet. „Der Frust wird immer größer“, sagt er. „Es
gibt schon einen Rechtsruck, das spürt man, auch wenn die AfD nicht
antritt.“
Können Bürgerlisten wie die von Petra Dreißig und Kerstin Michelchen neuen
Schwung in kleine Städte wie Lieberose bringen? Klaue ist da skeptisch.
„Die Bürgermeisterin arbeitet ehrenamtlich“, sagt er: „Die wichtigen
Entscheidungen werden im Amt Lieberose/Oberspreewald in Straupitz
getroffen.“ Hinzu kommt, dass Lieberose zum östlichen Zipfel des
Landkreises Dahme-Spreewald gehört. Bei der Wirtschaftsförderung im
berlinnahen Wildau, heißt es hinter vorgehaltener Hand, gäbe es andere
Prioritäten.
Wird in der ostdeutschen Provinz gerade eine postparteipolitische
Kommunalpolitik erprobt? Einen Trend will David Kolesnyk am Beispiel von
Lieberose nicht ableiten. „Für die Kommunalwahlen treten in Brandenburg wie
schon bei der Wahl 2019 in jeder zweiten Gemeinde Kandidierende der SPD
an“, sagt der Generalsekretär der [10][brandenburgischen SPD] der taz.
Auch für die Kreistage sei die Kandidatenlage unverändert. Dort liegt die
SPD mit 1.030 Kandidatinnen und Kandidaten an erster Stelle, gefolgt von
CDU und Freien Wählern mit jeweils 951. Von 335 auf 569 gestiegen ist die
Zahl der AfD-Kandidaten. Die rechtsextreme Partei liegt damit aber immer
noch hinter den Grünen, für die 656 Personen kandidieren.
Als stabil bezeichnet der SPD-Mann die Lage, auch vor dem Hintergrund von
Anfeindungen, die es schon vor den jüngsten Übergriffen gegeben habe.
Allerdings räumt Kolesnyk ein, dass sich die SPD-Kandidaten nicht
gleichmäßig übers Land verteilen. „Das ist im Speckgürtel anders als in d…
Fläche“, sagt er. „Dort gibt es auch viele, die sagen, jetzt bin ich 70 und
trete nicht mehr an.“
## Nicht frei von Streit
Dass Kerstin Michelchen noch mal antritt, hat einige in Lieberose
überrascht. Als sie 2019 gegen Petra Dreißig verloren hat, hat sie einfach
hingeschmissen. Nicht einmal ihren Sitz in der Stadtverordnetenversammlung
hat sie wahrgenommen.
Doch nun will Michelchen es noch mal wissen. „Die vergangenen fünf Jahren
waren verlorene Jahre für Lieberose“, sagt sie, spricht von einer
Selbstbedienungsmentalität, ohne dafür Beispiele zu nennen. Sollte sie als
Bürgermeisterin abermals verlieren, will sie diesmal aber ihr Mandat
wahrnehmen. „Ich halt meinen Mund nicht mehr“, verspricht sie.
Petra Dreißig sagt, auch ohne Parteien sei die Kommunalpolitik nicht frei
von Streit. „Es ist selten, dass mal einer sagt, der andere hat recht, und
deshalb stimme ich für seinen Vorschlag.“ Im Grunde sei das nicht anders
als bei den etablierten Parteien. „Wenn die einen was einbringen, stimmen
die anderen aus Prinzip dagegen.“
Dennoch hofft sie, dass es nach dem 9. Juni endlich auch um Sachpolitik
geht. „Wir wollen doch alle das Beste für Lieberose.“
28 May 2024
## LINKS
[1] https://markt-6.de/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Lieberose
[3] https://www.naturwelt-lieberose.de/
[4] https://www.wildnisstiftung.de/projects/naturwelt/
[5] https://teg-lds.de/
[6] https://www.naturwelt-lieberose.de/highlights/heideradweg
[7] https://www.schlaubetal-naturpark.de/
[8] https://www.rohkunstbau.net/
[9] http://www.lieberose-niederlausitz.de/foerderverein/
[10] https://spd-brandenburg.de/
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Wahlen in Ostdeutschland 2024
Brandenburg
Parteien
Kommunalwahl
Wahlen in Ostdeutschland 2024
Wahlen in Ostdeutschland 2024
Kommunalwahl
Schwerpunkt AfD
zeitgenössische Kunst
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommunalwahlen in Brandenburg: Galgenhumor am Grill
Die Grünen erlebten bei der Kommunalwahl in Brandenburg ein Debakel. Zu
Besuch bei einer Wahlparty in Lauchhammer.
Demo gegen Rechtsextremismus in Cottbus: Die längste Kaffeetafel der Lausitz
Trotz strömenden Regens demonstrieren in Cottbus mehrere hundert Menschen
für Demokratie. Das passt in der Stadt längst nicht allen.
Kommunalwahl in Thüringen: Verfassungsfeinde auf Wahlzetteln
In Thüringen tritt Neonazi Tommy Frenck bei der Landratswahl in
Hildburghausen an, offiziell zugelassen. Wie wehrhaft ist die Demokratie im
Kommunalen?
Politischer Raumgewinn: AfD gibt sich als lokaler Kümmerer
Das kommunale Mandat ist Sprungbrett für Landtagsmandate. Die AfD will
daher bei der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern punkten. Ihre Devise: Ran ans
Volk!
Kunstfestival in einem Schloss: Zärtliches Brandenburg
Raus zur Kunst: Am Samstag eröffnet die 25. Ausgabe des Kunstfestivals
Rohkunstbau und lädt für drei Monate zur Landpartie ins Schloss Lieberose.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.