# taz.de -- Kommentar Weltmeister Deutschland: Höflich, sachlich, dominant | |
> Was symbolisiert die Weltmeisterschaft für Deutschland? Vielleicht das: | |
> ein Land, das sich modernisiert hat und den Takt vorgibt, ohne großkotzig | |
> zu wirken. | |
Bild: Bastian Schweinsteiger und Joachim Löw nach dem Finale. Das neue Deutsch… | |
Die deutschen Erfolge bei Fußballweltmeisterschaften waren immer | |
Ereignisse, in denen sich gesellschaftliche Entwicklungen ausdrückten. Sie | |
waren Symbole. Oder sie wurden dazu gemacht, wer kann das schon so genau | |
sagen? 1954 waren Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, „Wir sind wieder wer“ | |
und „Schwamm drüber“. 1974, das war der Erfolg des Modells Bundesrepublik | |
gegenüber der DDR. 1990 schließlich die Wiedervereinigung. Und 2014? | |
Zunächst das: Dieser Titel ist nicht einfach die Fortsetzung der letzten | |
Weltmeisterschaft, auch wenn allenthalben Figuren von damals hervorgekramt | |
werden oder Sepp Maiers Kabinenvideos im Spätprogramm laufen. | |
1990, das war, ein halbes Jahr nach dem Fall der Mauer, jener Moment, an | |
dem plötzlich auch in Westdeutschland Nationalfahnen auftauchten. „Das geht | |
gegen uns“, war das Gefühl bei vielen Einwanderern. Ein Gefühl, das sich | |
bald in Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen bewahrheiten sollte. | |
Das Bild, in dem die deutschtümelnde Vereinigungseuphorie und der deutsche | |
Erfolg im Fußball zusammenkam: der feixende Deutsche vor dem | |
Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, die rechte Hand zum Hitlergruß | |
erhoben, mit vollgepinkelter Jogginghose und gehüllt in das gleiche Trikot, | |
in dem Matthäus-Augenthaler-Völler Weltmeister geworden waren. | |
Natürlich konnte man dafür nicht die deutsche Mannschaft verantwortlich | |
machen. Aber es fügte sich zusammen. Um im Jargon jener Zeit zu bleiben: Da | |
wuchs etwas zusammen. Und das war nicht schön. „Es tut mir leid für den | |
Rest der Welt, aber wir werden in den nächsten Jahren nicht zu besiegen | |
sein“, prahlte der damalige Teamchef Franz Beckenbauer nach dem Sieg im | |
Finale von Rom. Die Einwanderer waren in diesem „Wir“ nicht vorgesehen, und | |
auch andere Leute in diesem Land, Menschen von sittlichem und ästhetischem | |
Empfinden, zählten sich lieber zu diesem „Rest der Welt“ denn zu diesem | |
„Wir“. | |
Dieser Rest der Welt aber hatte für diese Deutschen nichts übrig. Mag sein, | |
dass sie sportlich gesehen dieses eine Mal das Finale und den Titel | |
vielleicht verdient hatten. Aber es war ein hässliches Spiel, vorgetragen | |
von Figuren wie Beckenbauer und Lothar Matthäus, Repräsentanten einer | |
überkommenen Männlichkeit und, in Gestalt des DFB, organisiert von einer | |
Institution, an der Re-Education, 1968 und Einwanderung spurlos | |
vorbeigegangen waren. | |
Was hierzulande als Krönung der Wendejahre 1989/90 verstanden wurde, galt | |
andernorts als Grund zur Sorge: Ein Deutschland, das alle politischen und | |
moralischen Beschränkungen zu überwinden schien und in alter Größe und | |
Großkotzigkeit ungefähr wieder dort anzuknüpfen drohte, wo es 1945 hatte | |
aufhören müssen. Weltmeister. Über alles in der Welt. | |
Es kam anders. Es kam besser. Nicht ohne Kämpfe, nicht ohne Rückschläge. | |
Aber es kam besser, als man damals befürchten konnte. | |
## Maracana, das neue Deutschland | |
Die Mannschaft, die am Sonntag im Maracana den Titel errang, hat mit ihren | |
großmäuligen Vorgängern nur wenig zu tun. Aber sie hat etwas mit den | |
Entwicklungen zu tun, die diese Gesellschaft in den letzten zwei | |
Jahrzehnten durchlebt hat. Natürlich, offensichtlich zuvörderst die Özils | |
und Khediras und Boatengs, die es beim Titel 1990 nicht gab. Wie sollte es | |
auch? Es gab sie auch sonst nicht, nicht im Bundestag, nicht in den Medien, | |
außer vielleicht radebrechend in der „Lindenstraße“. | |
Aber das ist nicht alles. Der jetzige Titel ist der Triumph eines Fußballs, | |
der auf der Höhe der Zeit ist, ausgewogen und flexibel in der Taktik, | |
höflich und sachlich im Auftreten. Erfolgsorientiert, aber nicht besessen. | |
Selbst [1][Manuel Neuer], in der Rolle des Siegfrieds, ist nur auf dem | |
Platz von furchteinflößender Gestalt, ansonsten aber von geradezu | |
verstörender Nüchternheit. Und nie im Leben käme es Joachim Löw in den | |
Sinn, seine Mannschaft für unschlagbar zu erklären. Die Größe dieser | |
Mannschaft zeigte sie im Moment ihres größten Triumphs – [2][beim | |
Halbfinalsieg über Brasilien], als sie den Gegner mit Respekt behandelte, | |
nach Abpfiff sogar mit Mitgefühl. | |
Vielleicht ist es Merkel-Deutschland, das Weltmeister geworden ist. Ein | |
zivilisiertes Land, in dem aber bestimmte Traditionen fortleben, ohne | |
bedrohlich zu sein: Organisation, Infrastruktur, Arbeit. Anfang des | |
Jahrtausends hatte man den Anschluss verloren. Man hat dies erkannt, sich | |
an anderen – [3][namentlich den Spaniern] – orientiert und sich | |
hochgearbeitet. Jetzt ist Deutschland wieder dominant. | |
Wenn man will, kann man darin eine Allegorie dafür entdecken, wie das | |
Merkel-Deutschland in Europa den Takt vorgibt: Höflich, aber in der Sache | |
eindeutig. Und [4][durchaus patzig], wenn etwas mal nicht so läuft, wie man | |
es sich vorgestellt hat. Ein Land, das zwar Sinn für gutes Benehmen hat, | |
aber alles Sentimentale dem Erfolg unterordnet. Das man sich zum Vordbild | |
nimmt. Das aber mit seiner Klassensprecherhaftigkeit auch allen etwas auf | |
den Keks geht. | |
## Schwarz-Rot-Gold ist sowas von 2006 | |
Über den Wandel unter Joachim Löw und Jürgen Klinsmann ist viel geschrieben | |
worden seit der Heim-WM 2006. Aber auch zu damals gibt es einen | |
Unterschied: Das Thema damals: der „Partypatriotismus“ und die erstaunte | |
Freude darüber, dass man endlich Flagge zeige, dass endlich „Normalität“ | |
herrsche. War es natürlich nicht. Wer penetrant darauf besteht, „endlich | |
normal“ zu sein, ist eines gewiss nicht: normal. | |
Bei diesem Turnier spielten derlei nationale Befindlichkeitsthemen nur eine | |
untergeordnete Rolle. Womöglich war sogar die Beflaggung geringer als 2006 | |
und bei den nachfolgenden Turnieren. Und die Gespräche schienen sich eher | |
über fachliche Fragen – Lahm rechts oder in der Mitte? – zu drehen. | |
Vielleicht war dieses 7:1 bändigend: Derart jenseits alles Vorstellbaren, | |
dass man eher [5][still und ungläubig das Geschehen verfolgte] und sofort, | |
analog zum [6][Understatement aus dem deutschen Team], sich gedanklich dem | |
nächsten Spiel zuwandt (Herberger! Doch zu etwas nütze, der alte Plunder.) | |
Fortschritt aber ist nur selten unumkehrbar, im Fußball wie sonst im Leben. | |
Nach der [7][Niederlage im EM-Halbfinale 2012] flammte die | |
[8][schwachsinnige Hymnendebatte] auf. Auch in diesem Turnier drang durch | |
die Forderung „Schluss mit der Schönspielerei“ oder der Kritik an Mesut | |
Özil der Wunsch durch, zum Alten und Bewährten zurückzukehren. Löw hat | |
diese reaktionäre Sehnsucht bemerkt, aber [9][ihr nicht nachgegeben]. „Nur | |
die deutschen Tugenden hätten nicht mehr gereicht“, sagt er nach dem | |
Finale. Ein im traditionellen Sinn „Deutsch“ begründeter (Nützlichkeit!) | |
Abgesang auf das Preußische. Eine wunderbare Pointe. | |
Diese Pointe konnte sich Löw leisten, weil er gewonnen hatte, und wer weiß, | |
was passiert wäre, wenn Gonzalo Higuaín seine [10][Chance zu Beginn des | |
Spiels] verwertet hätte. | |
Hat er aber nicht. Deutschland ist Weltmeister. | |
Über diesen Titel wird man vielleicht mit einigem zeitlichen Abstand sagen | |
können: Deutschland wurde Weltmeister, weil es sich modernisiert hat. Weil | |
dieses Land ein anderes, ein besseres ist. Und vielleicht wird man sogar | |
sagen: Dieser Titel steht eigentlich für nichts – außer für ziemlich guten | |
Fußball. Nicht das Schlechteste, was man über diese Mannschaft sagen kann. | |
14 Jul 2014 | |
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## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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