# taz.de -- Die Mannschaft von Jogi Löw: Deutsche Tugenden? Gibt’s nicht! | |
> Die Brasilianer können besser kämpfen, rennen und foulen. Trotzdem soll | |
> Deutschland wieder das alte sein. Die DFB-Elf braucht Jogi-Fußball. | |
Bild: Warum wird so getan, als müsse man dem Bundestrainer Fußball erklären? | |
BERLIN taz | Lahm? Muss rechts spielen! Klose? Muss vorne rein! Schön | |
spielen? Ist was für Weicheier. Wir Deutsche haben zu kämpfen und zu | |
rennen, es muss regnen, und dann läuft das Ding. Das haben wir immer so | |
gemacht. Seit 1954. Das weiß jedes Kind. Nur dieser Joachim Löw wollte es | |
einfach nicht kapieren. | |
„Deutsche Tugenden“ hätten den Einzug ins Halbfinale ermöglicht, schnarrte | |
die FAS im Leutnantssound. Also der dringend nötige Wechsel von Eleganz zu | |
„Kampfkraft“. Deutschland will wieder das alte sein. Das folgt | |
gesellschaftspolitischen Mentalprozessen. Und ist so irre, dass man | |
verzweifeln könnte. Machen wir aber selbstverständlich nicht, sondern | |
fragen: Warum wird so getan, als müsse man den Bundestrainer über Fußball | |
aufklären? | |
Unter der Oberfläche der etwa 30 Millionen deutschen WM-Experten gibt es | |
zwei Stränge. Erstens geht es um Deutungshoheits- und damit Machterhalt von | |
Lobbyisten, Medien und Altstars, die sich ihre Welt nicht vom Sohn eines | |
Schönauer Ofensetzers heil machen lassen wollen und damit kaputt. Löw ist | |
keiner von ihnen, er ist einer vom Rand. Schlimmer: aus Freiburg, wo der | |
Fußball von Volker Finke erneuert wurde. | |
Zum Zweiten handelt es sich um eine Verachtung des Schönen und Guten | |
(„Schönspieler“ ist hier das Pendant zu „Gutmensch“), das aufgrund ein… | |
falschen Analyse für minderwertig befunden wird. Zum Dritten drückt sich im | |
Beharren auf dem Hässlichen ein anachronistischer Selbsthass der Marke | |
Berti Vogt aus: Der Deutsche ist halt ein Kühlschrank. | |
## Befreiung vom Wankdorf-Fluch | |
Ist er nicht. Joachim Löw hat es bewiesen. Er hat die Springerstiefel ins | |
Eck gestellt. Hat dieses Land vom Wankdorf-Fluch befreit; das ist dieser | |
absurde Glaube, Deutsche seien durch ihr Blut verpflichtet, hässlichen | |
Fußball zu arbeiten, um die Schönspieler anderer Länder fertigzumachen. | |
Stattdessen spielen wir modernen, attraktiven und erfolgreichen Fußball. | |
Zum Mitschreiben: Es gibt keine „deutschen Tugenden“, gab es nie, wird es | |
nie geben. | |
Es gibt einen europäisch geprägten internationalen Spitzenfußball, zu dem | |
selbstverständlich Mentalität gehört. Mentalität ist Teamspirit, | |
Siegeswille, die Bereitschaft, das Nötige dafür zu tun, und damit | |
vielleicht am ehesten das, was man früher Tugend nannte. | |
Löws Team hat von den letzten 31 Pflichtspielen 28 gewonnen und nur eines | |
verloren. Hat man das ohne Mentalität geschafft? Mentalität und Matchplan, | |
aber dazu noch Wissenschaft, Organisation, Aufstellung, Fitness, | |
individuelle Zutaten und vor allem Glück werden entscheiden, wer | |
Weltmeister wird. Das wusste man aber schon vor der WM. | |
Teams von Verbänden (nicht Ländern) werden deshalb Weltmeister, weil sie es | |
jetzt bringen und nicht, weil sie es früher mal gebracht haben. Aus der | |
Vergangenheit einen Anspruch oder ein Konzept für die Gegenwart abzuleiten | |
ist Fußballunterhaltung, okay. Aber es entspricht der üblichen Denkfaulheit | |
in der deutschen Gesellschaft, die aus Angst und Ignoranz gespeist wird. | |
Der Spitzenfußball hat sich, anders als einige seiner Beobachter, | |
weiterbewegt. Löw weiß das. Und das wirft man ihm vor. | |
## Attraktivität und Qualität sind messbar | |
Jede WM ist ein Zusammenprall jahrelanger Planung mit der Realität. Zur | |
Planung gehört die Umstellung auf defensives Denken, mit dem Wissen, dass | |
man mit der Gegentorquote der letzten Jahre nicht den Titel holt. | |
Doch erst in der Realität stellt man fest, dass Mesut Özil (noch) nicht in | |
der Lage ist, eine gute WM zu spielen. Man stellt fest, dass Mario Götze | |
und auch Toni Kroos (noch) nicht so gut sind, wie man manchmal hofft. Man | |
muss erkennen, dass der Strategiespieler Schweinsteiger und Khedira nur | |
eingeschränkt verfügbar sind. Wenn auch noch mit Marco Reus der besondere | |
Tempodribbler fehlt, sinkt nicht nur die Attraktivität des Spiels, sondern | |
auch die Qualität. | |
Das ist der Punkt: Attraktivität und Qualität sind messbar, und zwar an der | |
Zahl der herausgespielten Chancen. Diese Zahl entscheidet in der Regel | |
auch, wer ein Fußballspiel gewinnt. Deutschland hat im Viertelfinale gegen | |
Frankreich bis kurz vor Schluss überhaupt keine Chancen aus dem Spiel | |
heraus kreiert. Man kann argumentieren, dass man das nach der Führung durch | |
ein Standardtor auch nicht brauchte. | |
Dennoch ist das der Faktor, der die objektive Wertigkeit der deutschen | |
Vorstellung relativiert. Die Überhöhung des Sieges speist sich | |
hauptsächlich aus der vermuteten Emanzipation vom Diktat des schönen | |
Spieles. Es ist aber keine Strategie oder Ideologie, es ist die schlichte | |
Realität eines solchen Turniers. | |
## Gegen Brasilien benötigt: die Löw-Tugend | |
Deutschland spielt immer noch Jogi-Fußball. Aber es ist ein reduzierter | |
Fußball. Ihm fehlt das Spielerische. Das, was ihn besonders machte. Es war | |
immer harte Arbeit, aber sie sah leicht aus. Jetzt riecht man den Schweiß, | |
der bei einer WM auch immer Angstschweiß ist. | |
Es soll nur keiner glauben, man könne die Seleção an diesem Dienstag mit | |
Kämpfen und Rennen schlagen. Die Brasilianer haben sich nach den | |
Niederlagen von 1982 und 1986 europäisiert. Die beiden letzten Titel (1994 | |
und 2002) wurden mit Effizienzfußball gewonnen. Der Individualismus wurde | |
so weit zurückgedrängt, bis er sich bei dieser WM auf Neymar reduzierte, | |
der nun nicht mehr dabei ist. | |
Wenn man das Spielchen mitmachen wollte, dann müsste man von | |
brasilianischen Tugenden sprechen, wenn man Kämpfen, Rennen, Härte, | |
taktisches Foulen und Standards meint. Die enorme Körperlichkeit und die | |
Power der Brasilianer in der ersten Hälfte gegen Kolumbien hätten wohl auch | |
das deutsche Team eingeschüchtert. | |
Das heißt: Die Löw-Elf braucht neben dem Duell der Physis (unterlegen) und | |
dem Duell der Standards (ausgeglichen) eine besondere Waffe. Die kann im | |
moralisch Heiklen liegen, wenn man dem taktischen Fouler Luiz Gustavo zu | |
zwei Gelben Karten verhilft. Die wird darin bestehen, dass wir – dieser | |
Vergleich ist ausnahmsweise zulässig – einen viel besseren Torwart haben | |
als 2002. Ansonsten aber kann sie nur darin bestehen, auch Löw-Fußball zu | |
spielen, Chancen aus dem Spiel heraus zu kreieren. | |
Kurz gesagt: Deutschland muss gegen die brasilianischen Kämpfer Löw-Tugend | |
auf den Platz bringen und drei-, viermal atemberaubend kombinieren. | |
8 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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