# taz.de -- Kommentar Deutschland - Brasilien: Löw? 7:1! | |
> Bundestrainer Joachim Löw lässt gegen Brasilien Jogi-Fußball spielen. Das | |
> Ergebnis ist eine Erniedrigung des Gastgebers. | |
Bild: Der Dirigent des Jogi-Fußballs. | |
Die WM 2014 wird bleiben als die WM, bei der Deutschland den Gastgeber | |
Brasilien mit 7:1 geschlagen hat. Und zwar mit Jogi-Fußball. Mag sein, dass | |
Bundestrainer Joachim Löw sogar noch perfektere Spiele verantwortet hat, | |
aber wenn man die sportliche Wichtigkeit (WM-Halbfinale), die Konstellation | |
(gegen den Gastgeber und fünfmaligen Weltmeister) und die weltweite | |
Aufregung berücksichtigt, so wird diese Partie für viele Jahre, die kommen, | |
identitär mit ihm verknüpft bleiben. Kinder, werden wir sagen: Jogi Löw! | |
7:1! Unglaublich. | |
Das ist in Ordnung, denn im Fußball geht es um die Erzeugung und Bewahrung | |
großer Gefühle. Und es gibt kein anderes deutsches WM-Spiel – das 3:2 von | |
Bern 1954 jetzt mal außen vor –, das ähnlich spektakulär war wie dieses | |
Halbfinale. Kurz gesagt: So ein schönes Spiel haben wir noch nicht gesehen. | |
Das lag auch an den Brasilianern, aber dazu kommen wir noch. Das | |
Bemerkenswerte besteht darin, dass Löw im achten Amtsjahr die Zukunft mit | |
Strategie, erstaunlichem Mut und beträchtlicher Schönheit gewonnen hat. | |
Und das, obwohl viele ihm in der lauten und unsachlichen öffentlichen | |
Auseinandersetzung der letzten Tage das Gegenteil einreden wollten und nach | |
den „deutschen Tugenden“ riefen, die es nie gab. Löw ließ sich nicht auf | |
ein Duell der Physis, der Standards oder der Tricks ein, sondern ließ | |
Jogi-Fußball spielen, einen atemberaubenden Umschalt- und | |
Kombinationsfußball, der das spielerische Potenzial der deutschen | |
Mannschaft zeigte und nutzte. | |
Was man auch sah: Mit Manuel Neuer, Philipp Lahm und Thomas Müller und | |
vielleicht auch Mats Hummels hat das Team drei oder vier Spieler, die auf | |
ihren Positionen solitär sind. Löws Abrücken von den vier Vorstoppern und | |
der damit verbundene Wechsel von Lahm auf die rechte Seite haben das Team | |
zum jetzigen Zeitpunkt defensiv und offensiv besser gemacht hat. | |
Lahm (zwei Assists) und Müller (ein Tor, zwei Assists) gewannen die Bälle | |
häufig so früh und so hoch, dass es erst gar nicht gefährlich werden konnte | |
und fanden auf der Seite auch den Raum zum Umschalten, der Lahm in der | |
Zentrale vorher gefehlt hatte. Dort ist Bastian Schweinsteiger in seiner | |
Spätphase sehr gut aufgehoben. Die Wege nach vorn geht Khedira, der | |
überraschend noch körperlich und spielerisch in Topform gekommen ist. | |
## Fatal offensiv | |
Die Pässe spielt Kroos. Derweil Vize-Kapitän Schweinsteiger mit kleinen | |
Pässen ordnet, variiert, strukturiert. Es ist allerdings klar, dass in Belo | |
Horizonte zwei Spiele stattgefunden haben. Luiz Felipe Scolari hatte die | |
Seleção offensiver agieren lassen als sonst. Es sollte das Team zu einem | |
frühen Tor führen und eine Welle, auf der es hätte reiten können. Es erwies | |
sich als fatal. Sie gaben dafür die Ordnung auf und konnten dadurch auch | |
ihre gewaltige Physis nicht mehr an den Mann bringen. Müllers 0:1 nach | |
einer Kroos-Ecke war ein Gegentor, wie es nicht fallen darf, aber doch | |
immer mal passiert. | |
Das Problem war, dass Brasilien danach in sich zusammenschnurzelte wie ein | |
Luftballon, in den man mit der Nadel pikst. Im Grunde versuchten die | |
Brasilianer, den Eindruck zu erwecken, sie seien ein gutes Team – und | |
wurden von den Deutschen der Hochstapelei überführt. Dass Scolaris Team in | |
der Rückwärtsbewegung Räume nicht schließen kann, das war Löws Spielansatz | |
gewesen. Aber die Deutschen mussten diese Räume nicht groß suchen, sie | |
hatten Platz ohne Ende, weil die einen Brasilianer nach vorn rannten und | |
die anderen alle Klose deckten. | |
Selbst Mesut Özil kam dadurch deutlich besser ins Spiel als zuvor. | |
Womöglich war die dysfunktionale Reduzierung auf den Zwang zum Titel, die | |
ständige Drohung mit der Schmach von 1950 und die Angst vor einem Leben als | |
Sündenbock für die Spieler einfach nicht auszuhalten. Bei allem Respekt vor | |
den spezifischen kulturellen Gepflogenheiten konnte man sich im Angesicht | |
der Tränen und des Flehens um Vergebung des Eindrucks nicht verwehren: | |
Dieser Umgang mit Fußball ist einfach nicht gesund. | |
## Strategie, Balance, Eleganz, Spektakel | |
Es gibt sehr wahrscheinlich gar keine direkten Auswirkungen von Fußball auf | |
die gesellschaftliche Entwicklung von Ländern. Aber man könnte Dinge | |
ableiten. Wir Deutsche sind eine Gesellschaft des Verteidigens, der | |
Angsthasen, des Das-haben-wir-immer-so-gemacht. Joachim Löw, Sohn eines | |
Schwarzwälder Ofensetzers, hat mit dieser Haltung radikal gebrochen. Und | |
zwar in dem Moment, als es wirklich galt. Der Mann, der angeblich nicht | |
coachen kann, hat einen mutigen Mix aus Strategie, Balance, Eleganz und | |
Spektakel auf den Platz gebracht. Auch wenn diese WM nicht den Weltfußball | |
definiert: Jogi-Fußball definiert diese WM. Das muss man nun allerdings dem | |
Gegner auch noch am Sonntag im Finale klarmachen | |
„Die Deutschen haben heute wie Brasilianer gespielt", sagte Scolari. Aber | |
das ist das Denken der Vergangenheit. Die Wahrheit ist: Die Deutschen haben | |
wie Deutsche gespielt. Sie haben dadurch die brasilianische Mittelmäßigkeit | |
entblößt und die eigene überwunden. So hat Joachim Löws Team diese WM | |
bereits vor dem Finale gewonnen. Denn wie auch immer es ausgeht: Besser, | |
schöner, aufwühlender und in der Erinnerung bleibender wird es nicht mehr. | |
Es ist faszinierend. | |
9 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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