| # taz.de -- Kleine Kulturgeschichte der Milch: Milch ist ein Plural | |
| > Milch macht's. Sie galt über Jahrtausende als Lebenselixier. Heute wird | |
| > sie als industrieller Rohstoff in ihre Bestandteile zerlegt und neu | |
| > komponiert. | |
| Bild: Von fettarm bis laktosefrei: Längst gibt es nicht mehr nur „die“ Mil… | |
| Derzeit pflastern volle Milchflaschen in der Londoner Brick Lane das | |
| Parkett einer Galerie. 1.461 waren es, als die Ausstellung am 16. März | |
| öffnete. Täglich stellt der syrische Künstler Ibrahim Fakhri eine Flasche | |
| dazu: für jeden Tag, seitdem vor über vier Jahren die Katastrophe in seinem | |
| Heimatland ausgebrochen ist, ein Liter Milch. Man muss diesen symbolischen | |
| Akt nicht erklären, vor allem nicht auf der britischen Insel, wo | |
| traditionell viele Leute den Tag mit einem Schritt vor die Tür beginnen, um | |
| die Flasche ins Haus zu holen, die der Milchmann dagelassen hat. | |
| Dass dieses Bild so eingängig ist, liegt an der tiefen Verankerung der | |
| Milch in der Kultur. Sie ist die erste Nahrung, Mittel zum Leben, weiblich | |
| konnotiert. Sie kommt aus dem Euter der Kuh, wird gleichwertig zur | |
| Muttermilch angesehen, in manchen Kulturen ist ihr symbolischer Wert sogar | |
| noch größer. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurden der Milch immer | |
| wieder magische Kräfte nachgesagt. | |
| Es ist noch nicht lange her, dass Bergleute sie im Ruhrgebiet nach getaner | |
| Arbeit tranken, um die Lunge zu reinigen. Hindus warten derzeit wieder auf | |
| das Milchwunder. Zuletzt geschah es 2010. Gläubige reichen einer Statue von | |
| Ganesh einen Löffel Milch. Wenn sie verschwindet, reist die Kunde, dass die | |
| elefantenköpfige Gottheit Durst hat, in Minuten um die Welt. Dann stehen | |
| Hindus Schlange, um den Gott aus Tetra-Paks zu nähren. | |
| In Europa wird der Mythos Milch vor allem in der Werbung weitergetragen. | |
| „Milch macht müde Männer munter“, hieß es in den ersten Nachkriegsjahren | |
| mit einem machohaften Augenzwinkern. Es war die Zeit der Milchbars, neben | |
| Lucky Strikes und Coca-Cola ein weiterer erfolgreicher Export aus den USA. | |
| Heutzutage heißt es allerdings nur noch: Die Milch macht’s. Regelmäßig | |
| haben Lebensmittelschützer hierzulande Erfolg, wenn sie gegen Sprüche wie | |
| „die Extra-Portion Milch“ (Ferrero Kinder-Riegel) oder „So wichtig wie das | |
| tägliche Glas Milch“ (Ehrmann Monsterbacke-Joghurt) bei übersüßten | |
| Produkten gerichtlich zu Felde ziehen. | |
| ## Fettarm und laktosefrei | |
| Milch ist heute ein industrieller Rohstoff. Milchprodukte bestehen | |
| buchstäblich nicht mehr aus „ungeteiltem Gemelk“, wie einst der Gesetzgeber | |
| formulierte. Milch ist „länger haltbar“, sie steht fettarm oder laktosefrei | |
| im Kühlschrank. Joghurt wird Magermilchpulver beigemischt, damit er | |
| cremiger wird, oder es kommen probiotische Bakterien für einen gesunden | |
| Darm hinein. Babymilchpulverprodukte werden damit beworben, dass sie der | |
| Muttermilch immer ähnlicher werden. | |
| Es sind vor allem neue Verfahren der Mikrofiltration, die erlauben, Milch | |
| immer feiner in ihre Bestandteile zu zerlegen und zielgruppengenau neu zu | |
| komponieren. Wir sprechen von der Milch zwar in der Einzahl, das Wort ist | |
| ein sogenanntes Singularentum, das keinen Plural kennt. Genauer betrachtet | |
| aber kommt man zu dem Schluss: Milch ist nie gleich Milch. | |
| Das gilt schon für das Rohprodukt, kommt man denn ran. Selbst in einer | |
| Großstadt wie Berlin, in der es eigentlich nichts nicht gibt, sei es | |
| schwarzer indischer Kardamom oder frische persische Datteln, müssen | |
| Tagesausflüge unternommen werden, um rohe Milch zu beschaffen. Die | |
| Hygiene-Vorschriften sind streng. In Deutschland dürfen sie nur Höfe direkt | |
| abgeben. Für Vorzugsmilch, die gleich nach dem Melken gefiltert und auf | |
| vier Grad abgekühlt werden muss, gibt es nur noch 40 Erzeuger. | |
| ## Milch riecht nach Milch | |
| Im Handel ist sie kaum zu finden. Mit einem Fettanteil von knapp 4 Prozent | |
| riecht solche Milch auch noch nach Milch. Außerdem schmeckt sie süßer als | |
| die Produkte aus dem Supermarkt. Ihre Textur ist im Mund viel cremiger. | |
| Wegen der fehlenden Homogenisierung bleiben auf den Innenseiten der Lippe | |
| nach einem Schluck Fetttröpfchen hängen. Unwillkürlich möchte man sich den | |
| Milchbart abwischen. | |
| Dass manche das ganze Leben hindurch Milch genießen können, ist einem | |
| evolutionären Zufall zu verdanken. Vor etwa 7.500 Jahren setzte sich in | |
| Nordeuropa eine Genmutation durch, die verhindert, dass der | |
| Erwachsenenkörper die Produktion von Laktase einstellt. Sonst bilden nur | |
| Säuglinge und Kinder, wenn sie gestillt werden, dieses Enzym, um den | |
| Milchzucker, die Laktose, verdauen zu können. Unter Nordeuropäern ist die | |
| Laktoseintoleranz unter Erwachsenen besonders niedrig. Aber schon in | |
| Italien leiden mehr als 50 Prozent der Bevölkerung darunter – ein Grund, | |
| warum Latte macchiato und Cappuccino nördlich der Alpen viel beliebter sind | |
| als in ihrem Heimatland. | |
| Allerdings: Die Skepsis gegenüber Milch wächst. Sie wird für Allergien | |
| verantwortlich gemacht, kam während der Ehec-Krise ins Zwielicht. Vorbei | |
| sind die Zeiten, da in deutschen Schulen Milch verteilt wurde. Gut möglich, | |
| dass es bald nicht mehr so selbstverständlich sein wird, wenn ein Künstler | |
| die Milch als Symbol verwendet. In London kommt heute nur noch bei 8 | |
| Prozent der Haushalte morgens der Milchmann vorbei. | |
| 22 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jörn Kabisch | |
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