| # taz.de -- Juristin über Abtreibungsparagraf 219a: „Eine verfassungswidrige… | |
| > Paragraf 219a verbietet die Werbung für Abtreibung. Doch das Gesetz | |
| > verstößt gegen mehrere Grundrechte, sagt die Juristin Ulrike Lembke. | |
| Bild: „Der Staat kommt seiner Schutzpflicht nicht nach“, sagt Juristin Ulri… | |
| taz: Frau Lembke, [1][die Ärztin Kristina Hänel muss 6.000 Euro zahlen], | |
| weil sie auf ihrer Webseite schreibt, dass sie Abtreibungen macht. Sie | |
| sagen, der dafür verantwortliche Paragraf 219a sei verfassungswidrig. | |
| Warum? | |
| Ulrike Lembke: Da kommen mehrere Grundrechte in Betracht. Zunächst geht es | |
| um die Berufsfreiheit von Ärzt*innen, die nicht sagen dürfen, was sie | |
| machen – das allein soll ja schon strafbar sein. 1998 hat das | |
| Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die regelkonforme ärztliche | |
| Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen unter die Berufsfreiheit fällt. | |
| Diese kann zwar durch Gesetze eingeschränkt werden. Allerdings müssen die | |
| Gesetze selbst verfassungskonform sein, also ein legitimes Ziel haben, das | |
| nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden kann. | |
| Was ist das Ziel von Paragraf 219a? | |
| Der Gesetzgeber sagt, Schwangerschaftsabbrüche sollen nicht | |
| kommerzialisiert und normalisiert werden. Das ist erst mal ein legitimes | |
| Ziel – denn ich denke, niemand will krasse Auswüchse wie Agenturen, die | |
| Abtreibungen gegen Provision vermitteln, oder leuchtende Werbereklamen. | |
| Allerdings gibt es schon die Berufsordnung für Ärzt*innen – die regelt in | |
| Paragraf 27 allgemein die Vermeidung einer dem ärztlichen Selbstverständnis | |
| zuwiderlaufenden Kommerzialisierung. Das ist ein milderes Mittel. | |
| Also wäre reißerische Werbung auch ohne Paragraf 219a verboten? | |
| Ja, auch das steht explizit in Paragraf 27 der Berufsordnung. Deshalb ist | |
| eine Regelung mithilfe des Strafrechts, der schärfsten Waffe des Staates, | |
| unangemessen; das gibt es ja auch bei keiner anderen ärztlichen | |
| Dienstleistung. In Bezug auf nichtärztliche Dritte wäre eine | |
| Ordnungswidrigkeit denkbar. | |
| Die CSU ist strikt gegen Vorschläge, den Paragrafen abzuschaffen. Das sei | |
| „unvereinbar“ mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach | |
| „das Leben im Mutterleib originär unter dem Schutz der Verfassung“ stehe, | |
| sagte Bayerns Justizminister Winfried Bausback. | |
| Justizminister sollten die Rechtsprechung umfassend kennen und überdies | |
| vielleicht darauf verzichten, mündige Bürgerinnen auf ihre Gebärmutter zu | |
| reduzieren. Wenn hier in Diskussionen über die Gesamtregelung zum | |
| Schwangerschaftsabbruch eingestiegen werden soll, treffen wir primär auf | |
| unauflösliche juristische Widersprüche. | |
| Und die wären? | |
| Der Schwangerschaftsabbruch ist unter bestimmten Umständen rechtmäßig oder | |
| zumindest straffrei – dann kann man nicht gleichzeitig die Information | |
| darüber verbieten. Schon 2006 hat das Bundesverfassungsgericht in einem | |
| anderen Fall erklärt: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von | |
| Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne | |
| negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen | |
| seine Dienste in Anspruch nehmen können.“ | |
| Internationale Studien zeigen, dass Verbote niemals die Zahl der Abbrüche | |
| verringern, sondern diese nur gefährlicher machen. Eine Informationssperre | |
| wird kein ungeborenes Leben schützen. In Frankreich gibt es sämtliche | |
| Adressen auf einer Webseite der Regierung. Wenn der Staat bestimmte Formen | |
| der Information oder Werbung vermeiden will, dann muss er eben selbst | |
| informieren – und zwar umfänglich. | |
| Reichen die Informationen aus den Beratungsstellen nicht? | |
| Wer sagt mir denn, dass meine Beratungsstelle selbst überhaupt über alle | |
| für mich relevanten Adressen bundesweit verfügt und mir die dann auch gibt? | |
| In meinen Augen ist das durchaus ein Eingriff in das Recht auf freie | |
| Arztwahl und in die Informationsfreiheit. Der Staat überlässt staatlich | |
| zertifizierten Stellen die Verantwortung, statt sie selbst zu übernehmen. | |
| Und wir wissen ja, wo Frauen landen, wenn sie selbst im Netz suchen: Auf | |
| den Seiten von radikalen Abtreibungsgegnern, die mit Holocaustvergleichen | |
| und Bildern von blutigen Föten arbeiten. Diese krasse Verletzung der | |
| Intimsphäre und des Persönlichkeitsrechts von Frauen begeht der Staat zwar | |
| nicht selbst – aber er schafft eine Situation, in der das fast zwangsläufig | |
| passiert. Das heißt, der Staat kommt seiner Schutzpflicht nicht nach. | |
| Was ist die Schutzpflicht? | |
| Die Schutzpflicht wurde interessanterweise im ersten Abtreibungsurteil 1975 | |
| entwickelt. Bis dahin hat das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte als | |
| Abwehrrechte gegen den Staat verstanden. 1975 kam eine wichtige Dimension | |
| dazu: Der Staat muss nicht nur selbst Eingriffe in die Grundrechte der | |
| Menschen unterlassen, er muss sie auch aktiv vor privaten Dritten schützen. | |
| Es gibt also nicht nur ein Zweierverhältnis Staat–Privat, sondern ein | |
| Dreieck: Staat–Privat–Privat. | |
| Was hat das mit Schwangerschaftsabbrüchen zu tun? | |
| Die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts war damals der Auffassung, dass | |
| im Fall einer ungewollt Schwangeren dieses Dreieck aus Frau, Embryo und | |
| Staat besteht. Dass also der Staat den Embryo vor der Schwangeren schützen | |
| muss. Die Richter*innen waren sich aber keineswegs einig; eine Minderheit | |
| hat schon damals in einem Sondervotum erklärt, dass die Schutzpflicht an | |
| sich zwar eine gute Idee sei, dass sie in diesem Fall aber nicht passt, da | |
| Embryo und Frau eine „Zweiheit in Einheit“ bilden und nicht individuell | |
| betrachtet werden können. Die Mehrheit hat dennoch entschieden, dass der | |
| Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verboten ist und die Frau die Pflicht | |
| hat, eine Schwangerschaft auszutragen. | |
| Was bedeutet das? | |
| Nun ja, das ist eine spezifische Perspektive auf das Problem. Allerdings | |
| dürfte es dann weder Fristen- noch Indikationenregelung geben. Und man kann | |
| nicht auf einer „Austragungspflicht“ bestehen und gleichzeitig die | |
| Gleichberechtigung der Geschlechter wollen. | |
| Was hat das mit Gleichberechtigung zu tun? | |
| Paragraf 219a bestraft die Information über eine medizinische | |
| Dienstleistung, die nur Frauen brauchen. Auf internationaler Ebene ist der | |
| enge Zusammenhang zwischen reproduktiver Gesundheit und Gleichberechtigung | |
| längst anerkannt. Die nun schon recht alten Entscheidungen des | |
| Verfassungsgerichts zeigen ein sehr befremdliches Frauenbild. Kein Wort | |
| über die Gesundheit und körperliche Integrität der Frauen oder den Eingriff | |
| in ihre Familienplanung und Intimsphäre. | |
| In den meisten westeuropäischen Ländern wurde der Schwangerschaftsabbruch | |
| in den 1960er- und 1970er-Jahren legalisiert. Frankreich hat 2015 auch noch | |
| die Bedenkfrist gekippt. Diese sei kein angemessener Umgang mit erwachsenen | |
| Frauen. | |
| Der Ausschuss für die UN-Frauenrechtskonvention fordert von Deutschland, | |
| die Pflichtberatung und Bedenkfrist abzuschaffen und den Eingriff von den | |
| Krankenkassen zu finanzieren. Stattdessen wird eine Frau im Moment der | |
| ungewollten Schwangerschaft entmündigt: Man muss sie belehren, ihr | |
| Informationen vorenthalten, ihr sagen, dass sie Unrecht tut. Und der Fötus | |
| hat ein Leistungsrecht auf den weiblichen Körper. | |
| Und das widerspricht der Gleichberechtigung? | |
| So etwas erwartet der Gesetzgeber nur von ungewollt schwangeren Frauen. | |
| Zugleich kann niemand unter deutschem Recht zu einer Blutspende (oder gar | |
| Organspende) verpflichtet werden, selbst wenn sie lebensrettend wäre. | |
| Niemand hat ein Anrecht auf den Körper einer anderen Person. Aber eine Frau | |
| soll gezwungen werden, über Monate einen Fötus in ihrem Körper heranwachsen | |
| zu lassen und sämtliche daraus resultierenden, auch körperlichen, Folgen zu | |
| tragen. Das ist juristisch nicht schlüssig rekonstruierbar. | |
| Es besteht also Änderungsbedarf? | |
| Offensichtlich. Unser Verständnis der Grundrechte von Frauen ist ja | |
| hoffentlich nicht mehr das der 1970er-Jahre. Auch die Sachlage hat sich | |
| verändert: Selbsternannte Lebensschützer in Deutschland überziehen | |
| Ärzt*innen nicht nur mit hoch aggressiven Hetzkampagnen, sondern auch mit | |
| Anzeigen und damit verbundenen langwierigen und kostspieligen Verfahren. | |
| Dies gefährdet die reproduktive Gesundheit von Frauen massiv – und das kann | |
| doch niemand wollen. | |
| Also ist Paragraf 219a definitiv ein Fall fürs Bundesverfassungsgericht? | |
| Der Paragraf ist in meinen Augen eine verfassungswidrige Norm. Ich halte | |
| trotzdem immer den gesetzgeberischen Weg für den besseren – und den einer | |
| Demokratie angemesseneren. | |
| 6 Dec 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
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