# taz.de -- Jüdisches Leben in Tunesien: Die Synagoge in El Hamma brennt | |
> Von den ehemals 150.000 in Tunesien lebenden Juden sind heute noch knapp | |
> 1.000 übrig. Seit dem Hamas-Angriff auf Israel herrscht Angst. | |
Bild: Tunis am 21. Oktober | |
TUNIS taz | Die kleine jüdische Gemeinde in Tunesien lebt in Angst. Bei | |
einem Protest gegen die israelische Bombardierung von Gaza hat eine | |
aufgebrachte Menge den jüdischen Tempel der tunesischen Stadt El Hamma bei | |
Gabes am 17. Oktober niedergebrannt. Videos des ehemals auch als Synagoge | |
genutzten, in Flammen stehenden Baus werden derzeit in jüdischen Gemeinden | |
auf der ganzen Welt geteilt. Der Angriff forderte zwar keine Opfer, ist | |
aber Teil einer Kette von Vorfällen, die mit antisemitischen Äußerungen von | |
Staatspräsident Kais Saied im Oktober 2020 begann. | |
„Man wolle jüdisches Verhalten wie Stehlen nicht weiter akzeptieren“, sagte | |
Kais Saied damals in einem Armenviertel von Tunis. Ressentiments gegen die | |
noch 1.000 in Tunesien lebenden Juden werden ansonsten selten öffentlich | |
geäußert, doch die Grenzen zwischen der antiisraelischen Stimmung und einer | |
Hetze gegen Juden verschwimmen. | |
Schon vor seiner Wahl im Jahr 2019 hatte Präsident Saied eine | |
Normalisierung der Beziehungen zu Israel strikt ablehnt und gefordert, | |
niemandem, der einen israelischen Pass besitzt, die Einreise nach Tunesien | |
zu gestatten. Doch die Forderung wurde bisher nie umgesetzt, zu wichtig ist | |
die jüdische Wallfahrt auf die Ferieninsel Djerba für das Touristenland | |
Tunesien. | |
Zu der ältesten Synagoge Afrikas, el-Ghriba, strömen in jedem Mai tausende | |
jüdischer Pilger aus der ganzen Welt. Der Legende nach wurde el-Ghriba aus | |
den Überresten des ersten jüdischen Tempels in Jerusalem errichtet. Doch | |
anders als früher waren seit Saieds Amtsbeginn keine Regierungsvertreter | |
bei der stets von einem riesigen Polizeiaufgebot bewachten Veranstaltung. | |
In diesem Jahr eröffnete ein zuvor wegen Islamismusverdacht beurlaubter | |
Sicherheitsbeamter am Abschlusstag das Feuer auf die Menschenmenge vor der | |
Synagoge. Zwei jüdische Pilger und drei tunesische Polizeibeamte kamen ums | |
Leben. Schon einmal war die jährlich stattfindende Wallfahrt zur | |
El-Ghriba-Synagoge Ziel von Islamisten. Im Jahr 2002 starben bei einem | |
Bombenanschlag 20 Menschen, die Mehrheit deutsche Touristen. Al-Qaida | |
bekannte sich später zu der Tat. | |
## „Wir Juden sind verängstigt“ | |
„Wir Juden sind verängstigt. Jedes Mal, wenn Palästinenser getötet werden, | |
werden im Gegenzug die Juden in Tunesien angegriffen. Das ist zu einem | |
Ritual geworden“, beklagte Rafram Chaddad, ein tunesisch-jüdischer | |
Künstler, der sich seit Jahren für die Palästinenser einsetzt. „Ich würde | |
es nicht wagen, mich zu dieser Zeit auf der Straße zu zeigen“, sagt | |
Chaddad. | |
Präsident Saied berief wenige Stunden nach dem Anschlag vom 17. Oktober | |
eine [1][Dringlichkeitssitzung im Parlament] ein. „Jeden Tag werden | |
Massaker an der palästinensischen Bevölkerung verübt“, sagte er vor | |
laufenden Kameras des Staatsfernsehens Watanya. „Aber heute geht es um den | |
Kampf gegen den internationalen Zionismus. Wir wollen nicht, dass man sagt, | |
dass wir gegen die Juden sind. Wir sind nicht gegen die Juden, und wir | |
waren nie die Ursache für den Holocaust, dem die Juden ausgesetzt waren.“ | |
„Seine Worte waren sehr wichtig“, sagte Chaddad, „sie reichen aber nicht | |
aus, um eine Welle des Antisemitismus, die das Land mit dem Krieg in Gaza | |
ergreifen könnte, zu verhindern.“ Präsident Saied entschuldigt den Anschlag | |
in El Hamma nicht. Stattdessen heizt er die Stimmung gegen Israel an und | |
verbindet seine Parolen mit antisemitischen Chiffren wie der vom | |
„internationalen Zionismus“. Offiziell distanziert sich Saied vom | |
Antisemitismus, selbst wenn er Äußerungen tätigt, die stark nach | |
antisemitischen Verschwörungstheorien klingen. | |
Dabei tauscht er lediglich „Jude“ gegen „Zionist“ aus. Die Überschwemm… | |
in der libyschen Hafenstadt Derna im September mit bis zu 20.000 Opfern | |
brachte er mit dem Zionismus in Verbindung, und der Sturm über Ostlibyen | |
sei Teil einer zionistischen Verschwörung, denn dessen Namen „Daniel“ sei | |
der eines hebräischen Propheten, so Saied. Im Februar hatte eine Rede von | |
Saied gegen Migranten zu brutalen Vertreibungen aus Tunis und der | |
Hafenstadt Sfax geführt. Die [2][vertriebenen Migranten] aus | |
Subsahara-Afrika seien Teil einer Verschwörung gegen die islamische und | |
arabische Identität Nordafrikas, so der Präsident vor dem so genannten | |
Nationalen Sicherheitsrat. | |
Für Saied ist die Tragödie in Gaza eine Möglichkeit, um von der seit der | |
Coronapandemie anhaltenden Wirtschaftskrise und seiner sinkenden | |
Popularität abzulenken. Zionisten sind für ihn Feinde des Staates. Am | |
Mittwoch schlossen die Behörden einen Freizeitkomplex, der Patrick Sebag, | |
einem tunesischen jüdischen Unternehmer gehört. In einem Tweet von 2018 | |
äußerte sich dieser positiv zu einem Besuch in Israel. | |
Nun wird gegen den Unternehmer auf sozialen Medien gehetzt. Wenige Tage | |
nach den ersten Boykottforderungen wurden seine Bars und sein Club | |
geschlossen. Angeblich hatte er versäumt, die Schanklizenzen zu erneuern. | |
Viele Aktivisten der [3][tunesischen Zivilgesellschaft] haben beschlossen, | |
die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen zu beenden, die die | |
Angriffe Israels auf den Gazastreifen nicht eindeutig verurteilen. | |
Solidaritätsmärsche mit der Zivilbevölkerung von Gaza finden in der | |
tunesischen Hauptstadt mittlerweile fast täglich statt. Vor der | |
französischen Botschaft stehen immer wieder kleine Gruppen von Menschen. | |
Sie beschuldigen auf Plakaten dem Westen einer Mitschuld am Tod von | |
Palästinensern. | |
Das Thema Palästina hat das politisch gespaltene Tunesien über Nacht | |
geeint. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten ziehen durch den | |
Stadtteil Lafayette in Tunis, in dem Gründerzeitvillen und mittlerweile | |
renovierungsbedürftige Art-déco-Architektur an das jüdische Leben Tunesiens | |
erinnert. 1967, nach dem Sechstagekrieg zwischen Israel und einer | |
arabischen Staatenallianz, flohen viele der damals über 150.000 tunesischen | |
Juden nach Frankreich und Israel. Es gibt noch steinerne Zeugen der Zeit | |
des friedlichen Zusammenlebens in Lafayette. Die große Synagoge von Tunis, | |
die jüdische Schule in der Palästinastraße und ein koscherer Schlachter auf | |
der Avenue du Liberté gelten für viele Tunesier als Beweis der religiösen | |
Toleranz des 11-Millionen-Einwohner-Landes. Wie vor allen jüdischen | |
Einrichtungen in Tunis sichern schwarz uniformierte Polizisten mit | |
Maschinenpistolen die Gebäude. Die Zahl der Beamten wurde seit dem 7. | |
Oktober stark erhöht. | |
## Wut gegen Europa | |
Negative Äußerungen gegenüber Juden sind auf den Demonstrationen nur selten | |
zu hören. Die jüdische Gemeinde von Tunis empfinden viele sogar als Teil | |
der tunesischen Kultur. Auf die Frage, ob der Krieg in Gaza auch | |
Antisemitismus in Tunesien befeuern könnt, reagieren einige Demonstranten | |
gereizt. | |
Als ein französischer Journalist überrascht schrieb, die Menschenmengen | |
würden die Synagoge von Lafayette einfach ignorieren, reagierte auch der | |
politische Analyst Mohamed Dia Hammami genervt. „Zivilisiertes Verhalten | |
entspricht eben nicht dem Stereotyp, das ihr Europäer von uns Araber habt: | |
steinewerfend und unzivilisiert.“ „Ich habe nichts gegen Juden, ich habe | |
jüdisch-tunesische Freunde“, sagt Marwa Ghozzi auf der Anschlusskundgebung. | |
Die Studentin aus der Kleinstadt Kef hält vor der französischen Botschaft | |
ein Plakat hoch: „Mörder Macron“. Ihre Wut richtet sich gegen Europa. „I… | |
lehne die zionistische Idee und damit die Existenz eines Israels ab, das | |
den Palästinensern jegliche Staatlichkeit verwehrt.“ | |
Für viele Tunesier ist die Solidarität mit den Palästinensern eine | |
Art Bürgerpflicht. So auch für Marwa. „In der Schule habe ich mehr über die | |
Leiden der Palästinenser erfahren als über unsere eigene Geschichte. Auch | |
in meiner Familie und in allen Medien war das Thema omnipräsent“, sagt sie. | |
Die Führungsriege der PLO hatte 1983 ihre Exilregierung in der Nähe von | |
Tunis aufgeschlagen. PLO-Führer Yasser Arafat galt nach mehreren | |
Flugzeugentführungen im Westen und in Israel damals noch als Terrorpate. | |
1985 bombardierte die israelische Luftwaffe das von der Öffentlichkeit | |
abgeschirmte Gelände. 50 Palästinenser und 18 Tunesier starben. Arafat war | |
während des Überraschungsangriffs nicht in Tunis. Später verlegte die PLO | |
ihren Sitz nach Algerien, doch in Tunesien hielt sich eine von dem | |
Ben-Ali-Regime immer wieder aufgewärmte antiisraelische Stimmung. Dennoch | |
hat ausgerechnet Ben Ali den Wiederaufbau der nach dem Sechstagekrieg | |
abgebrannten Synagoge von Lafayette ermöglicht. Damals wie heute unter Kais | |
Saied eignet sich das Thema als politischer Kitt für eine gespaltene | |
Gesellschaft. | |
Die Stimmung auf den Protesten ist gelassen. Seit dem Wochenende zeigen | |
Jugendliche palästinensische Filme mithilfe eines Projektors an der | |
Außenmauer des französischen Institut francaise. Die Leitung des | |
Kulturzentrums der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich hatte zuvor die | |
„Free Palestine“-Graffitis übermalen lassen. „Es ist ein aussichtsloses | |
Unterfangen, die Solidarität mit den Palästinensern mit Farbe zu | |
verbieten“, sagt Amin Laloush. Der Tunesier trägt eine Kippa, als er sein | |
Kind aus der Schule an der Rue du Palestine abholt. | |
Das von abbröckelnden Betonblöcken und zwei Polizisten geschützte Gebäude | |
wirkt heruntergekommen. Rund ein Dutzend jüdische Kinder kommen täglich zum | |
Unterricht. Über den aktuellen Konflikt in Israel und Gaza wollen die | |
Eltern nicht öffentlich sprechen. Nur ein Satz lässt sich Allouche | |
entlocken: „Solidarität mit Palästina ist der soziale Klebstoff der | |
Gesellschaft.“ Judenhass spüre er seit dem Ausbruch des Konflikts | |
tatsächlich nicht, sagt der 36-Jährige. | |
Seine Kippa trage er zwar seltener als vorher, aber das würden Juden in der | |
ganzen Welt machen. Einige der tunesischen Juden pendeln zwischen Israel | |
und Tunesien. Dies könnte in Zukunft schwieriger werden. Im tunesischen | |
Parlament wird ein Gesetz diskutiert, das jegliche Kooperation mit der | |
„zionistischen Entität“ mit hohen Haftstrafen belegen soll. | |
Ob die alljährliche jüdische Wallfahrt auf Djerba auch im nächsten Jahr | |
stattfinden kann, erscheint somit abermals ungewiss. Zudem haben in der | |
letzten Wochen der Islamische Staat und al-Qaida erneut zu Anschlägen auf | |
Juden aufgerufen. In dem nur zwei Autostunden zu der Grenze des | |
Bürgerkriegslands Libyen entfernten Djerba machen sich die Juden langsam | |
Sorgen. „Der tunesische Staat schützt uns“, sagt der Chef der Gemeinden, | |
Youssef Dibi. „Aber privat teilen uns die Polizeibeamten mit, wachsam zu | |
bleiben. Wir sind, ob wir wollen oder nicht, abhängig von der Lage in | |
Gaza.“ | |
25 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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