| # taz.de -- Joseph Vogl über sein neues Buch: „Das Finanzregime ist beunruhi… | |
| > Joseph Vogl untersucht die gegenseitigen Abhängigkeiten von Staaten und | |
| > Märkten. Er analysiert die Herausbildung souveräner Enklaven als „vierte | |
| > Gewalt“. | |
| Bild: Wortmächtig: der Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl. | |
| taz: Herr Vogl, Sie sprechen angesichts der jüngsten Krisenpolitik von | |
| einem Staatsstreich. Wer hat gegen wen geputscht? | |
| Joseph Vogl: Wenn ich den Begriff des Staatsstreichs verwende, meine ich | |
| damit nicht die gegenwärtige Bedeutung, den Putsch oder den Umsturz. | |
| Sondern den älteren Begriff, wie er im 17. Jahrhundert kursierte. Dort war | |
| der Staatsstreich eine radikale Form der Staatsräson und bedeutete | |
| ungewöhnliche Maßnahmen zur Sicherung der bestehenden Ordnung in | |
| Situationen des Notstands. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass | |
| übliche Maßregeln der politischen Klugheit nicht mehr funktionieren und | |
| dass man für extreme Fälle politischer Not extreme Mittel benötigt. | |
| Die aber zum allgemeinen Arsenal von Regierungspolitik gehören? | |
| Interessant ist, dass sich im Staatsstreich, wie ich ihn verstehen möchte, | |
| der Machtursprung offenbart. Das heißt, es werden all jene Kräfte gesammelt | |
| und aktiviert, die der Regierung zur Verfügung stehen. Im Jahr 2008 konnte | |
| man das besonders gut verfolgen, als zur Sicherung des Finanzsystems ein | |
| informelles Konsortium aus staatlichen Instanzen, privaten Akteuren, | |
| Notenbanken, internationalen Organisationen etc. zusammengetreten ist. | |
| „Troikas“ eben. | |
| Man hat Maßnahmen ergriffen, die ebenso informell waren, im regellosen Raum | |
| und an roten Linien entlang operierten. Man hat etwa Regeln des | |
| Budgetrechts außer Kraft gesetzt und Notfallmaßnahmen verabschiedet, die | |
| dem üblichen Regierungshandeln widersprechen. Das hörte man immer wieder: | |
| Not kennt kein Gebot. | |
| Sie behaupten, dass vergangene Krisen weniger ein Kollaps als viel mehr ein | |
| „Aggregat zur Kapitalakkumulation“ waren. Ist das in der letzten | |
| Finanzkrise auch geglückt? | |
| Mit Sicherheit, denn es wurden ja ganz klare Prioritäten gesetzt in der | |
| sogenannten Krisenbewältigung. Zunächst wurden private Schulden mit | |
| öffentlichen Geldern refinanziert. Die Ausfälle von Finanzinvestoren und | |
| Banken, die sich ja mit einer überraschenden Vehemenz sozialisierten, hat | |
| man mit Steuergeld und mit Mitteln der Zentralbanken reprivatisiert. | |
| Erst in zweiter Hinsicht tauchte die Frage auf, wie sich die Folgen davon – | |
| Staatsschulden, Budgetkürzungen, Minuswachstum, steigende Arbeitslosigkeit | |
| – therapieren lassen. Man hat mit sehr viel öffentlichem Geld eine | |
| Finanzlage wiederhergestellt, die vor der Krise existierte, samt der damit | |
| verbundenen Verteilungspolitik. Siehe die europäischen Krisenländer wie | |
| Portugal, Spanien und natürlich Griechenland. | |
| Jenseits des Staatsstreichs analysieren Sie aber auch eine kontinuierliche | |
| Entwicklung in der gegenseitigen Abhängigkeit von Staaten und Märkten. | |
| Ja. Es lässt sich zeigen, dass die Finanzierung staatlicher Macht seit der | |
| frühen Neuzeit mit der Entwicklung von Finanzmärkten einhergeht. Im Laufe | |
| des 16. Jahrhunderts sind Ausnahmesituationen – etwa Finanznöte wegen hoher | |
| Kriegskosten – durch die Etablierung des Steuerstaats und durch rechtliche | |
| Garantien für die Gläubiger von Staatsschulden mehr und mehr auf Dauer | |
| gestellt worden. Die Entstehung von Zentralbanken brachte diese | |
| Verstetigung dann in die Form einer Institution. | |
| Das zeigte sich zunächst mit der Bank of England seit 1694: Private | |
| Gläubiger schlossen sich zu einem Konsortium zusammen und erhielten für | |
| ihre Kredite feste Zinseinnahmen durch die Abtretung von Steuermonopolen. | |
| Auf diese Weise wurden private Investoren unmittelbar in die Ausübung von | |
| Regierungspolitik einbezogen. Schließlich hat sich mit Zentralbanken eine | |
| Enklave innerhalb der Regierungsorgane installiert, die sich dem Zugriff | |
| von Exekutive und Legislative weitgehend entzieht. | |
| Es kam zu dem, was Sie einen Souveränitätseffekt nennen. | |
| Unter anderem. Private Financiers wurden mit souveränen Kompetenzen | |
| ausgestattet, Finanzmärkte ins Regierungshandeln integriert. | |
| Der Liberalismus hingegen tut ja so, als hätte man es mit einem Gegensatz | |
| von Staat und Markt zu tun. | |
| Seit seiner Entstehung verfolgte der Liberalismus zwei Ziele: einerseits | |
| die Reduktion feudaler Abhängigkeiten, die Bekämpfung fürstlicher, | |
| monarchischer Willkürakte; andererseits ging es um die Einrichtung einer | |
| bürgerlichen Selbstregierung. Das wurde von den Marktgesetzen erhofft. Die | |
| Devise lautete: Über Märkte werden Gesellschaften besser als durch | |
| Regierungen regiert. Märkte schaffen soziale Ordnung. Unter Berufung auf | |
| Marktgesetze wird die Gesetzeskompetenz des Staats angezweifelt. | |
| Marktmechanismen haben also eine gleichsam souveräne Position erlangt. So | |
| beobachtet der Liberalismus die Welt: hier nur politische Willkür, dort die | |
| schönen und ewigen Gesetzmäßigkeiten des Marktes. Eine polit-ökonomische | |
| Legende. | |
| Eine Legende, die nützlich sein kann. | |
| Weil sie blinde Flecken erzeugt. So möchte der Liberalismus erstens | |
| vergessen machen, dass ökonomisches Regieren, die Anpassung von | |
| Gesellschaften an Marktsysteme, eine eminent politische Angelegenheit war | |
| und ist. Und zweitens sind für einen radikalen Wirtschaftsliberalismus so | |
| mächtige Institutionen wie Zentralbanken allenfalls Anomalien, die man | |
| ertragen oder wegretouchieren muss. Auch hier gilt ein technokratisches | |
| Selbstverständnis, das die politische Interventionskraft solcher Institute | |
| ignoriert oder bagatellisiert. | |
| Wirtschaftsliberale behaupten, die EZB kapituliere vor der Politik. Sie | |
| kritisieren einen anderen Aspekt, wenn Sie die EZB als „vierte Gewalt“ | |
| bezeichnen. | |
| Die EZB kapituliert nicht vor der Politik, im Gegenteil: Sie macht ganz | |
| konkrete Politik. Das ist ihr Auftrag. Sie wurde als völlig unabhängige | |
| Regierungsinstanz eingerichtet nach dem Modell der Bundesbank. Der berühmte | |
| Paragraf 107 des Maastrichter Vertrags hatte das geregelt. Die EZB ist | |
| weder nationalen Parlamenten und Regierungen noch dem Europaparlament | |
| gegenüber verantwortlich. Zugleich regiert sie unmittelbar in die Haushalte | |
| der Euroländer hinein. | |
| Für die Unabhängigkeit gibt es plausible Gründe. | |
| Ja, man hat sie immer wieder hergebetet: Preisstabilität, | |
| Inflationsbekämpfung, Sicherung des Finanzsystems. Das bringt es mit sich, | |
| dass unabhängige Zentralbanken nur eine wesentliche Verantwortung kennen: | |
| die Herstellung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen gegenüber den | |
| Finanzmärkten. | |
| Was bedeuten solche souveränen Enklaven für die Demokratie? Sie sprechen | |
| nicht von Postdemokratie, sondern von Parademokratie. | |
| Der Begriff Postdemokratie suggeriert immer, dass wesentliche Prozesse der | |
| Entdemokratisierung auf neoliberale Reformen und auf die Deregulierung von | |
| Märkten seit den achtziger Jahren zurückzuführen sind. Wenn ich von | |
| Parademokratie spreche, meine ich etwas anderes. Nämlich die Tatsache, dass | |
| sich neuzeitliche Demokratien nur unter der Bedingung entwickelten, dass | |
| bestimmte Regierungsinstanzen wie Zentralbanken konsequent aus diesen | |
| Prozessen herausgenommen wurden und sich als unabhängige Enklaven oder | |
| Inseln platzierten. Das Finanzwesen sollte immun gegen demokratische | |
| Zumutungen werden. | |
| Ihre Gegenwartsdiagnose lautet, dass es zu einer Radikalisierung | |
| ökonomischen Regierens gekommen ist, in der es „um die Entwicklung einer | |
| Regierungsform geht, in der ökonomische Dynamiken die sozialen | |
| Lebensprozesse bestimmen“. Also eine Art Biopolitik? | |
| Das sind drei parallele Entwicklungen. Erstens werden staatliche | |
| Souveränitätsrechte wie Besteuerung und Budgethoheit beschränkt oder | |
| kassiert. Dramatischster Fall ist Griechenland. Zweitens werden | |
| Regierungsaufgaben internationalisiert. Nationale Institutionen, | |
| internationale Organisationen wie Weltbank oder IWF, Abkommen wie TTIP und | |
| private Akteure wie Ratingagenturen haben zusammen Netzwerke einer | |
| transnationalen Exekutive erzeugt. | |
| 11 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Tania Martini | |
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