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# taz.de -- Buch über westliche Demokratien: Die schwächelnde Demokratie
> Colin Crouch unterzieht sein Buch „Postdemokratie“ einer Korrektur und
> warnt in seinem neuen Buch vor nostalgischen Pessimismus.
Bild: In Polen will die Regierung das Abtreibungsrecht einschränken
Es kommt selten vor, dass ein Sozialwissenschaftler gleich im Vorwort eines
neuen Buches einräumt, er habe sich in seiner früheren Darstellung geirrt.
Der [1][britische Soziologe Colin Crouch], bekannt geworden mit seinem 2003
im Original und 2008 auf Deutsch erschienenen Buch „Postdemokratie“,
bekennt sich zu früheren Irrtümern.
[2][Anfang des 21. Jahrhunderts hatte er konstatiert, die Demokratie
verkomme in vielen westlichen Gesellschaften zur bloßen Hülle], Parteien
und Regierungen manipulierten die öffentliche Meinung, sie reagierten kaum
noch auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger, die Macht konzentriere
sich in den Händen kleiner Eliten und in den Chefetagen der Wirtschaft.
In „Postdemokratie revisited“ stellt er knapp zwanzig Jahre später fest, er
habe seinerzeit die Vitalität der [3][verfassungsmäßigen Ordnung und der
demokratischen Institutionen noch überschätzt]. Überall in der entwickelten
Welt sei es um die Demokratie schlechter bestellt als zu Beginn des
Jahrhunderts, schreibt Crouch.
Inzwischen hätten fremdenfeindliche, populistische und nationalistische
Bewegungen – Crouch nennt sie „nostalgischer Pessimismus“ – demokratisc…
Institutionen wie Justiz, Rechtsstaat und Parlament zwar nicht sturmreif
geschossen, aber sie seien keineswegs mehr unantastbar.
## Die Zeichen der Zeit erkennen
Wie sehr sich die politischen Koordinaten nach rechts verschoben haben,
lässt sich an dem Umstand ablesen, dass viele der traditionell eher staats-
und verfassungskritisch eingestellten linken Parteien und Bewegungen
inzwischen vehement den Rechtsstaat und Parlamentarismus verteidigen. Sie
haben die Zeichen der Zeit erkannt.
Ein Blick nach Ungarn, Polen, Brasilien oder in die USA des Donald Trump
genügt, um Anschauungsmaterial für Crouchs These zu finden. Aber das
Beispiel USA zeigt auch, dass es sich keineswegs um eine unumkehrbare
Entwicklung handelt.
Unterschätzt hat Colin Crouch seinerzeit zudem die Funktion der sozialen
Medien. Sah er früher in ihnen noch ein emanzipatorisches Werkzeug, eine
demokratiefördernde Technologie, ist das Internet in seinen Augen heute ein
manipulatives Instrument in den Händen gigantischer Konzerne und
Diktaturen.
Aber der Autor beobachtet nicht nur einen zunehmenden Verfall westlicher
Demokratien, er beschreibt auch gegenläufige Tendenzen, etwa die zunehmende
Bedeutung sozialer Bewegungen. Der Feminismus oder die weltweite
Klimabewegung haben mehr Präsenz und Gewicht gewonnen, als Crouch sich 2003
vorstellen konnte.
## In schlechtem Zustand
Für den „schlechten Gesundheitszustand der Demokratie“ macht der Autor die
Globalisierung und die Macht der weltweit operierenden Konzerne
verantwortlich. Ihnen stehen relativ ohnmächtige Nationalstaaten gegenüber,
deren Autorität zudem von dem (Irr-) Glauben untergraben wird, Regierungen
seinen grundsätzlich inkompetent, Konzerne hingegen effizient.
Die Demokratie hat schlicht nicht mithalten können mit der globalen
Ausbreitung des Kapitalismus. In Erinnerung ist beispielsweise noch der
Auftritt Mark Zuckerbergs vor dem Europaparlament, der selbst eine
scheinbar mächtige transnationale Vereinigung wie die EU wie einen
zahnlosen Tiger aussehen ließ.
Aber Colin Crouch, der griffig und verständlich formuliert und den
soziologischen Fachjargon vermeidet, ist kein Dogmatiker und Schwarzmaler,
der den Untergang der Demokratie vor Augen hat. Die Demokratie mag in den
vergangenen Jahrzehnten an Kraft verloren haben, geblieben ist immer noch
ein umfangreiches Arsenal rechtsstaatlicher Institutionen, Haltungen und
Werte. Und die gilt es zu verteidigen.
Manches, was Crouch empfiehlt, klingt vage und nach Allgemeinplätzen, etwa
bessere Bildung als Mittel gegen Manipulation durch soziale Medien; ein
Revival der Gewerkschaftsbewegung, wenn möglich unter weiblicher Führung;
oder intensive internationale Zusammenarbeit auf Staats- und
Regierungsebene, um die global agierenden Konzerne angemessen zu besteuern
oder die Zerstörung des Klimas abzuwenden.
## Was Corona zeigte
Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Die Coronapandemie hat deutlich gemacht,
wie abhängig wir sind von einem halbwegs solidarischen Gemeinwesen mit
funktionierenden Institutionen. Und wenn Covid-19 hinter uns liegt, sollte
eine Lehre sein, dass der Markt allein nicht für ein adäquates
Gesundheitssystem sorgt.
Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus hätten im Übrigen
gezeigt, so der Autor, dass die ungarische Regierung als einzige in Europa
weit über das vernünftige Maß an Einschränkungen hinausgegangen sei. Crouch
sieht uns nicht auf dem Weg in die Coronadiktatur.
„Postdemokratie revisited“ ist mehr als reine Bestandsaufnahme und Analyse.
Den Vormarsch der neoliberalen Globalisierung und des nostalgischen
Pessimismus, den Crouch konstatiert, verbindet er mit einem Mahn- und
Weckruf: Unterstützt die zivilgesellschaftlichen Gruppen, damit diese die
selbstzufriedenen Parteien und eine gleichgültige Öffentlichkeit
aufrütteln! Stärkt internationale Organisationen wie die EU als
Gegengewicht zu mächtigen Konzernen! Verteidigt die Unabhängigkeit der
Justiz, die unabhängigen Medien und die Autonomie der Wissenschaft!
6 Jun 2021
## LINKS
[1] https://www.mpifg.de/forschung/wissdetails_de.asp?MitarbID=90
[2] /Archiv-Suche/!581940&s=Martini+colin+crouch&SuchRahmen=Print/
[3] /Joseph-Vogl-ueber-sein-neues-Buch/!5017253
## AUTOREN
Otto Langels
## TAGS
Demokratie
Populismus
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Krise der Demokratie
Eiserner Vorhang
Demokratie
Polen
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