# taz.de -- Jahrestag des Halle-Anschlags: „Da ist etwas schiefgelaufen“ | |
> Vor zwei Jahren versuchte ein Attentäter in Halle, die Synagoge zu | |
> stürmen. Gemeindevorsteher Max Privorozki kritisiert die | |
> Integrationspolitik. | |
Bild: Der Eingang zur Synagoge von Halle zwei Jahre nach dem Anschlag | |
taz: Herr Privorozki, am Samstag wird Ihre Gemeinde wieder Schabbat feiern | |
– der diesmal auf den zweiten Jahrestag des Anschlags auf Ihre Synagoge | |
fällt. Mit welchen Gefühlen gehen Sie in diesen Tag? | |
Max Privorozki: Die Anspannung hatten wir schon beim letzten Jom Kippur. | |
Bei der Feier bekam ich um zwölf Uhr, als der Anschlag damals begann, | |
wieder ein beklemmendes Gefühl. Ich wusste, es wird nichts passieren. Aber | |
trotzdem war die Erinnerung wieder wach. Als wir die Tora-Lesung | |
abgeschlossen hatten, haben wir uns gemeinsam an den Anschlag erinnert und | |
ein Gebet gesprochen für die zwei Opfer, Kevin und Jana. | |
Und wie wird es am Samstag ablaufen? | |
Auch da werden wir beim Schabbat wieder für Kevin und Jana beten. Und dann | |
wird es draußen ein kleines Gedenken geben, das die Stadt und das Land | |
organisiert haben, und dem wir uns anschließen. Auch vor dem Kiezdöner soll | |
etwas stattfinden. Es wird alles aber viel kleiner als im letzten Jahr. | |
Zum ersten Jahrestag des Anschlags kamen Bundespräsident Steinmeier, | |
Familienministerin Giffey und Ministerpräsident Haseloff. | |
Ja, das war ein schönes Zeichen, aber auch ein ganz schöner Medienrummel. | |
Ich versuche inzwischen dafür zu sorgen, dass nicht ständig TV-Kameras in | |
der Synagoge sind. Das war für viele Gläubige doch eine Belastung. | |
Beim Anschlag wurde die Passantin Jana L. erschossen und im nahen Kiezdöner | |
der Mittagsgast Kevin S. Haben Sie noch Kontakt zu den Familien oder den | |
Kiezdöner-Betreibern? | |
Ich sehe Herrn Tekin, der den Kiezdöner betreibt, noch ab und an. Unsere | |
Gemeinde und die Jüdische Studierendenunion hatten nach dem Anschlag ja für | |
den Kiezdöner Spenden gesammelt, das war uns ein Anliegen. Aber nun hat | |
jeder sein Leben und seine Arbeit, mit dem er beschäftigt ist. Ich freue | |
mich aber jedes Mal, wenn ich mit Herrn Tekin spreche. | |
Wie präsent ist der Anschlag in Ihrem Gemeindealltag? | |
Wir sprechen nicht mehr darüber, das macht jeder mit sich aus. Unsere | |
Gottesdienste gingen ja auch nach dem Anschlag weiter, wir haben keinen | |
einzigen ausfallen lassen. Das kam erst mit der Corona-Pandemie, die für | |
unsere Gemeinde eine harte Zeit war. Ich kann für mich aber sagen: Ich | |
werde diese Tat nie vergessen. Das ist wie mit meinen verstorbenen Eltern. | |
Ich denke auch nicht täglich an sie, aber sie sind präsent, besonders an | |
Jahrestagen. Und dieser Tag des Anschlags wird immer in meinem Gedächtnis | |
bleiben, das wird nie weggehen. | |
Fühlen Sie sich sicher? | |
Ich würde nicht sagen, dass es noch direkte Angst gibt. Die Situation ist | |
heute eine ganz andere, die Kommunikation mit der Polizei ist eine andere. | |
Aber wir wissen, dass immer etwas passieren kann – nicht nur in unserer | |
Gemeinde. Sehen Sie, was zu Jom Kippur in Hagen passiert ist, wo der | |
Gottesdienst auch wegen eines Anschlagplans abgesagt werden musste. Es kann | |
immer etwas passieren, auch außerhalb der Gemeinden. So ist die Welt. | |
Wie haben Sie reagiert, als Sie von dem Anschlagsplan in Hagen hörten? | |
Ich hatte schon eine Warnung bekommen, bevor die Medien darüber | |
berichteten. In der Erstinformation hieß es noch, es gehe um eine Gemeinde | |
mit den Anfangsbuchstaben „Ha“. Das hätten also auch wir sein können. Aber | |
kurz darauf war klar, es geht um Hagen. Natürlich dachte ich sofort wieder | |
an die Tat bei uns. Ich habe in unserer Gemeinde bei der Jom-Kippur-Feier | |
davon erstmal nichts erzählt, erst später. Da waren alle natürlich | |
bestürzt. | |
Als am 9. Oktober 2019 der Attentäter die Synagoge stürmen wollte, war | |
keine Polizei vor Ort. Sie sagen, heute ist es besser. Was heißt das? | |
Seit dem Anschlag weiß die Polizei über alle unsere Veranstaltungen | |
Bescheid, sie ist immer live informiert. Auch ist sie mehr vor Ort an der | |
Synagoge. Es ist eine ganz andere Qualität der Zusammenarbeit. Auch die | |
Sicherheitsumbauten, die das Landeskriminalamt uns empfohlen hat, haben wir | |
begonnen. Das ist sehr kompliziert und aufwendig, aber es ist auf dem Weg. | |
Sie fühlen sich besser geschützt? | |
Auf jeden Fall. Aber wir wissen: Hundertprozentige Sicherheit gibt es | |
nicht. | |
Vor kurzem wurde bekannt, dass eine Polizistin aus Bitterfeld dem | |
inhaftierten Attentäter sympathisierende Briefe schrieb. Unglaublich, oder? | |
Für mich zeigt das, dass die Polizei wirklich Bestandteil unserer | |
Gesellschaft ist. Die Polizei hat ihre Probleme – so wie alle anderen auch. | |
Natürlich ist der Vorfall unglaublich, aber er steht nicht für die ganze | |
Polizei. Dass die Polizei immer alles falsch macht, egal was passiert, das | |
teile ich nicht. Das habe ich auch in dem Prozess gegen den Attentäter so | |
gesagt. Für mich war das größte Problem bei dieser Tat, dass seine Familie | |
nichts gegen die Radikalisierung gemacht hat. Er saß einfach zu Hause, auf | |
Kosten von Mutter und Vater, und wir haben sogar noch erfahren, dass auch | |
die Mutter antisemitische Ansichten hatte – eine Ethiklehrerin, die mit | |
Kindern arbeitet! Das ist doch das eigentlich Unfassbare. | |
Sie kritisierten nach den anti-israelischen und antisemitischen Protesten | |
bundesweit auch die Politik, sprachen von einem Versagen in der | |
Integrationspolitik. Warum? | |
An diesen Demonstrationen, auch bei uns in Halle, nahmen viele teil, die | |
hier zugewandert sind. Bei uns in Halle hat die Polizei gut reagiert, aber | |
anderswo wurden Israel-Fahnen verbrannt. Da ist doch etwas in der | |
Integration schiefgelaufen! Es gibt Beiräte, Runde Tische, Konferenzen zu | |
Antisemitismus – aber was ändert sich danach wirklich? | |
Was muss sich ändern? | |
Für die Politik heißt Integration meistens, die deutsche Sprache zu | |
erlernen und einen Beruf zu finden. Das ist wichtig, unbestritten. Aber | |
genauso wichtig ist es, die Werte und Regeln dieses Landes zu kennen und zu | |
eigenen zu machen. Und eine davon ist, dass Antisemitismus hier nicht | |
willkommen ist. Als wir aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland | |
kamen, mussten wir auch lernen, dass wir nicht mehr in einer Autokratie, | |
sondern in einer Demokratie leben. Es ist nicht selbstverständlich, dass | |
die Leute das sofort aufnehmen. Das muss die Politik anleiten, in | |
Integrationskursen und Schulen, auch heute. Das ist eine sehr lange, | |
nachhaltige Aufgabe, die leider vergessen worden ist. | |
Nach dem Anschlag verkündete die Bundesregierung ein Maßnahmepaket, die | |
Landesregierung in Sachsen-Anhalt schloss eine Sicherheitsvereinbarung mit | |
den jüdischen Gemeinden ab. Ist das zu wenig? | |
Das war alles richtig. Wir brauchen weniger Worte und mehr Taten. Vor allem | |
müssen Recht und Gesetz konsequent umgesetzt werden. Zuletzt aber ging es | |
immer weiter. In Hamburg wurde ein Mann brutal angegriffen, der auf einer | |
Israel-Kundgebung stand. Und in Hagen, wo jetzt der Anschlag vereitelt | |
wurde, wurde im Frühjahr aus Angst vor Antisemiten eine Israel-Fahne vor | |
dem Rathaus abgehängt. Wie kann das sein? | |
In Halle startete nach langer Diskussion an einer Grundschule jüdischer | |
Religionsunterricht. Ein Erfolg? | |
Ja, das hat das Bildungsministerium durchgesetzt und das hat mich wirklich | |
gefreut. Jahrelang hieß es, das sei logistisch sehr schwierig – und nun | |
geht es. Das zeigt: Wenn man etwas wirklich möchte, dann findet man Wege. | |
Wie bei den Jüdischen Kulturtagen, die gerade in Sachsen-Anhalt laufen. Da | |
hätten wir uns schon vor Jahren gewünscht, dass das Land hierfür die | |
Verantwortung trägt, so wie im Staatsvertrag vereinbart. Aber letztlich | |
haben wir es immer in Halle organisiert. Dieses Jahr nun finanziert das | |
Land erstmals die Kulturtage. Darüber bin ich sehr froh. | |
Ihre Gemeinde ist aktiv, es gibt Religionsunterricht und Jüdische | |
Kulturtage, in Sachsen-Anhalt werden zwei Synagogen gebaut. Das jüdische | |
Leben ist präsent wie lange nicht. Kann man sagen, dass der Attentäter | |
versagt hat? | |
Sie haben es selbst beantwortet: Ja, so ist es. | |
9 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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