# taz.de -- Islamisten in Iran: Unterschiedliche Ziele | |
> Beim Protest gegen den Schah hatten nicht alle dieselbe Alternative vor | |
> Augen. Jetzt gilt es, sämtliche Gesellschaftsschichten zu | |
> berücksichtigen. | |
Unsere Kinder und Enkelkinder, die seit Mitte September gegen die | |
Islamische Republik rebellieren und deren Sturz fordern, stellen uns immer | |
wieder die Frage, warum wir den Aufstand gegen das Schah-Regime | |
mitorganisiert, 1979 die Revolution unterstützt und damit ihnen den | |
islamischen Gottesstaat beschert haben. Ihr habt doch wissen müssen, was | |
die Mullahs im Schilde führten, welche Vorstellung sie vom Leben hatten, | |
sagen sie vorwurfsvoll. | |
Vermutlich werden viele von denen, die solche Fragen stellen, nicht wissen, | |
dass wir damals, genau wie sie heute, von einem demokratischen Staat, von | |
[1][Gleichberechtigung, sozialer Gerechtigkeit und Freiheit] träumten. Ja, | |
Iran war damals zwar ein säkularer Staat, die Religion hatte kaum Einfluss | |
auf die Politik, sie war eine private Angelegenheit. | |
Aber das Land wurde von einer Diktatur beherrscht, die 1953 durch einen | |
[2][von den USA und den Briten organisierten Putsch] gegen die | |
demokratische Regierung von Mohamad Mossadegh an die Macht gekommen war. | |
Mossadegh hatte die iranische Ölindustrie, die bis dahin von Briten | |
beherrscht wurde, nationalisiert und er war der erste Politiker in Iran, | |
der versuchte, in unserem Land demokratische Strukturen zu etablieren. Der | |
Putsch setzte diesem Versuch ein jähes Ende. | |
Die Briten und die USA holten den Schah, der nach Italien geflüchtet war, | |
ins Land zurück, rüsteten sein Regime mit modernsten Waffen auf, | |
organisierten den Geheimdienst Savak und den gesamten Machtapparat und | |
sicherten damit ihre ökonomischen und geostrategischen Interessen, nicht | |
nur in Iran, sondern in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens. | |
Mit Recht wurde das Schah-Regime als Gendarm am Persischen Golf bezeichnet, | |
der die Aufgabe hatte, jede Opposition gegen die Interessen des Westens | |
niederzuschlagen. | |
## Volk im Trauma | |
Der Putsch war die Erniedrigung eines ganzen Volkes, er wurde zu einem | |
Trauma, das bis heute anhält. Ohne diesen Putsch hätte es nie und nimmer | |
eine Machtübernahme durch die Islamisten geben können. Die 25-jährige | |
Diktatur, die dem Putsch folgte, hielt das Land unter strenger Kontrolle. | |
Jeder Protest, jede Kritik wurde erstickt und mit Strafen bis zur | |
Hinrichtung geahndet. Allein der Besitz eines verbotenen Buchs reichte, um | |
mit mehrjährigem Gefängnis bestraft zu werden. Hätten wir da schweigen und | |
die Unterdrückung erdulden sollen? | |
Natürlich wären Reformen weitaus besser gewesen als eine Revolution. Doch | |
[3][so wie heute] zwang auch damals das Regime durch seine Weigerung, | |
Reformen zuzulassen, Kritiker und Gegner zu radikalen Positionen. Es ließ | |
keine unabhängigen Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Verbände zu. Alle | |
Rechte, wie Freiheit der Meinungsäußerung und der Versammlung, waren außer | |
Kraft gesetzt. Genauso wie die Demonstranten heute hatten wir damals das | |
Recht, ja die Pflicht, gegen das Regime zu rebellieren und seinen Sturz zu | |
fordern. | |
Für uns, die von Freiheit und Demokratie träumten, stand die Fortsetzung | |
des Weges von Mossadegh auf der Tagesordnung der Geschichte. Dem entsprach | |
auch die Parole „Unabhängigkeit und Freiheit“, die zu Beginn des Aufstands | |
gerufen wurde. Wie glücklich waren wir, als Millionen auf den Straßen den | |
Sturz des Regimes forderten, als das Regime kapitulierte, als wir die Tore | |
des berüchtigten Eviner Gefängnisses in Teheran aufbrechen und die | |
Gefangenen befreien konnten. | |
## Blinde Hoffnung | |
Alle fühlten sich glücklich, jeder hoffte auf die Erfüllung seiner Wünsche | |
und Bedürfnisse. Aber nicht jeder träumte von Demokratie und Freiheit. Es | |
gab auch Kräfte im Land, die andere Träume hatten, zum Beispiel Träume von | |
einem islamischen Gottesstaat. Auf diesem Auge waren wir blind. Wir hatten | |
unsere Gegner unterschätzt, wussten nicht, welche Kraft der Islam hatte, | |
wie hoch der Einfluss der Geistlichkeit war. | |
Wir hatten uns nicht vorstellen können, dass Millionen Menschen nicht | |
unserem Ruf nach Freiheit und Demokratie, sondern [4][dem Ruf Ajatollah | |
Chomeinis] und seinen Anweisungen folgen würden. Chomeini versprach nach | |
seiner Übersiedlung aus dem irakischen Exil nach Paris dem Volk den Himmel | |
auf Erden, und die Massen glaubten ihm, sahen sein Antlitz im Mond und | |
hielten ihn für den Messias, den verborgenen Imam, der sie aus ihrem Elend | |
retten und für Gerechtigkeit sorgen werde. | |
Chomeini richtete seine Appelle an die „Barfüßigen und Habenichtse“, wie … | |
die verarmten Massen nannte, wir hingegen appellierten an Intellektuelle, | |
Akademiker, Studenten und Angehörige der Mittelschicht. Die breiten | |
bildungsarmen, unaufgeklärten Massen, die die Mehrheit der Bevölkerung | |
bildeten, kannten wir kaum, wussten nicht, wie gläubig, ja abergläubig sie | |
waren. Daher konnten wir uns auch nicht vorstellen, dass die Islamisten | |
irgendwann die Macht übernehmen könnten. | |
Nicht wir, sondern die Islamisten waren in der Lage, Millionen Menschen zu | |
mobilisieren. Damit konnten sie sich wenige Monate vor dem Sturz des | |
Schah-Regimes an die Spitze des Aufstands stellen. Von da an wurde die | |
Parole der Revolution durch „Islamische Republik“ ergänzt. „Unabhängigk… | |
Freiheit, Islamische Republik“, skandierten fortan die Millionen | |
Demonstranten, wobei kaum jemand wusste, wie eine islamische Republik | |
überhaupt aussehen sollte. | |
## Die totale Islamisierung | |
Mit Hilfe dieser Massen übernahmen die Islamisten die Macht. Ihr Ziel war | |
die totale Islamisierung der Gesellschaft, eine Gesellschaft wie die, die | |
die Taliban in Afghanistan später schon einmal praktiziert haben und nun | |
wieder aufzubauen versuchen. Alles sollte sich nach den Wünschen Chomeinis | |
und seiner Weggefährten nach dem Islam richten. Damit sollte das Volk eine | |
neue Identität bekommen, eine islamische Identität. | |
Dass sie dieses Ziel auch nach 44 Jahren nicht erreicht haben, ist der | |
iranischen Zivilgesellschaft, allen voran iranischen Frauen, zu verdanken. | |
Diese Zivilgesellschaft, die die Revolution unterstützte, um Freiheit, | |
Gerechtigkeit und Unabhängigkeit zu erlangen, war dieselbe, die von | |
Anbeginn gegen die Pläne der Islamisten Widerstand leistete. Ihr ist auch | |
zu verdanken, dass die Menschen sich schrittweise von den Islamisten | |
abwendeten. | |
Unsere Kinder und Enkelkinder, die sich heute mutig der klerikalen Despotie | |
entgegenstellen, sind ein Produkt dieses zähen, über die Jahrzehnte | |
andauernden Widerstands. Es bedurfte eines langen Prozesses und des | |
Scheiterns der Reformversuche, bis der Widerstand die heutige Qualität | |
erreicht hat. Dieser Prozess und zuletzt die gegenwärtigen Proteste haben | |
schrittweise die Fratzen der korrupten Islamisten entlarvt, die hinter | |
religiösen Masken getarnt waren. | |
Dennoch sollte man nicht übersehen, dass weite Teile der Bevölkerung an | |
diesem Prozess nicht beteiligt waren. Noch pilgern täglich Tausende Frauen | |
und Männer zu dem Brunnen in Jamkaran, in dem sich vermeintlich der | |
verborgene Imam Mahdi (der schiitische Messias) befinden soll, werfen ihre | |
Bittschriften und Spenden hinein, mit der Hoffnung, der „verborgene Imam“ | |
werde ihre Wünsche erfüllen. | |
## Aus den Fehlern lernen | |
Nun kann man hoffen, dass die Akteure der gegenwärtigen Proteste unsere | |
Fehler nicht wiederholen und mit Blick auf die gesamte Bevölkerung und auf | |
die Bedürfnisse unterschiedlicher Gesellschaftsschichten strategisch und | |
planmäßig vorgehen und dabei bedenken, dass sie nur erfolgreich sein | |
können, wenn sie die Massen für sich gewinnen können. Daher müssen sie | |
konkrete Forderungen stellen und eine für das Volk glaubwürdige Alternative | |
anbieten. | |
Auch sollten sie nicht, wie wir damals, den Gegner unterschätzen und nicht | |
die Tatsache außer Acht lassen, dass Millionen Menschen existenziell von | |
dem Regime abhängig sind, dass jene, die auf Seiten des Regimes kämpfen, | |
einer ideologischen Gehirnwäsche unterzogen wurden. Vor allem aber sollten | |
sie die Brutalität der Gottesmänner nicht unterschätzen, die alles zu | |
verlieren haben und daher niemals freiwillig das Feld räumen werden. Sie | |
werden kein Verbrechen scheuen, um ihre Macht zu behalten. | |
Schließlich sollten die Akteure bedenken, dass kaum ein Land an einem | |
demokratischen, unabhängigen Staat Iran interessiert ist. Die neuen | |
Verbündeten der Islamischen Republik, [5][Russland und China], nicht und | |
schon gar nicht die arabischen Nachbarstaaten, für die ein | |
selbstbestimmtes, gleichberechtigtes Land in ihrer Nachbarschaft ein Horror | |
wäre. Auch westliche Staaten lassen sich eher von ökonomischen und | |
geostrategischen Interessen leiten als von ihren Bekundungen zu | |
Menschenrechten und Demokratie. | |
Folglich sollte, um jede Art der Wiederholung der Geschichte zu vermeiden, | |
jede Einmischung der Außenmächte unterbunden werden. Die Iranerinnen und | |
Iraner haben immer wieder gezeigt, dass sie zum Kampf gegen Despoten, gegen | |
Unterdrückung und Unrecht bereit sind, sie haben aber auch oft | |
Enttäuschungen erlebt. Auch jetzt gibt es breite Solidarität mit den | |
Aufständischen, die mit bewundernswertem Mut und Opferbereitschaft der | |
Diktatur der Mullahs die Stirn bieten. | |
Aber man will auch die Gewissheit haben, nicht wieder vom Regen in die | |
Traufe zu kommen. Liebe Kinder und Enkelkinder, ich bin zuversichtlich, | |
dass es uns gemeinsam gelingen wird, diesen brutalen und | |
menschenfeindlichen islamischen Gottesstaat für immer zum Teufel zu | |
schicken. Aber wir haben noch einen langen, mühsamen Weg vor uns. | |
4 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-in-Iran/!5893454 | |
[2] /Treibende-Kraft-beim-Sturz-Mossadeghs/!5060830 | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=GlVIeEYOAnA | |
[4] /40-Jahre-Islamische-Revolution/!5567037 | |
[5] /Russland-und-China-gegen-Sanktionen/!5148063 | |
## AUTOREN | |
Bahman Nirumand | |
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