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# taz.de -- Todesurteile des Mullah-Regimes: Irans blutige 15 Minuten
> Mit den Hinrichtungen will das iranische Regime die Protestierenden
> einschüchtern. Doch es erreicht damit nur das Gegenteil.
Bild: Die Welt schaut jetzt auf die Menschen in Iran, so auch die Demonstrantin…
Es gibt da ein Zitat, das Hannah Arendt zugeschrieben wird. Iranerinnen
teilen es derzeit wie eine Prophezeiung, wenn sie gefragt werden, ob ihnen
dieses Mal, nach 43 Jahren Islamischer Republik, der Sturz des Regimes
gelingen wird. Ob sie mit ihrer Bewegung, die sie längst Revolution nennen,
das schaffen können, woran die Generationen vor ihnen gescheitert sind?
Ihre Antwort: „Alle Diktaturen wirken stabil, und das 15 Minuten bevor sie
kollabieren.“
Diese 15 Minuten scheinen für viele angebrochen zu sein. „Diese Revolution
ist sicher“, schreibt die berühmte – derzeit inhaftierte –
Frauenrechtsaktivistin Bahareh Hedayat [1][jüngst in einem offenen Brief]
aus ihrer Zelle im Evin-Gefängnis. „Die Beseitigung dieser kriminellen
Regierung wird definitiv kostspielig und riskant sein, aber es führt kein
Weg daran vorbei, diese Kosten zu zahlen und sich den Gefahren zu stellen.“
Wie hoch die Kosten noch sein werden, lässt sich nach drei Monaten, nach
rund 500 Toten, über 18.000 Inhaftierten und einer [2][potenziellen
Hinrichtungswelle], die spätestens am 8. Dezember eingeläutet wurde, nur
erahnen. Mit Mohsen Shekari, 23, wurde die erste Person im Zusammenhang mit
der aktuellen Protestbewegung hingerichtet, vier Tage später [3][Majidreza
Rahnavard]. Wenige Wochen nach ihrer Festnahme, ohne Rechtsbeistand, mit
Zwangsgeständnissen, vorgeführt in einem Scheinprozess, exekutiert, ohne
Wissen der Familien.
Mindestens 28 Personen droht dasselbe Schicksal. Auf der Liste der
potenziellen Todeskandidaten befinden sich laut
Menschenrechtsorganisationen auch Minderjährige, wie die zwei Brüder
Mohammad und Ali Rakhshani, 16 und 15 Jahre alt, aus der Provinz
Sistan-Belutschistan. Dass auch Jugendliche exekutiert werden, ist kein
Novum in Iran. Das Alter der Strafmündigkeit liegt für Mädchen bei 9
Jahren, für Jungs bei 15. Zwar wurde 2013 ein Gesetz verabschiedet, nach
dem Richter auf ein Todesurteil verzichten können, wenn sie bezweifeln,
dass der Jugendliche zum Zeitpunkt der Tat bei klarem Verstand war. Doch
haben Irans Richter in den vergangenen Jahren kaum davon Gebrauch gemacht,
so die selbst inhaftierte Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotudeh in einem
Artikel [4][für die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte]. Das
heißt: Auf die Gnade der iranischen Justiz ist nicht zu hoffen. Trotzdem
versuchen es die verzweifelten Angehörigen.
## Die Protestierenden lassen sich nicht einschüchtern
Es ist schmerzhaft, zu sehen, wie Mütter und Großmütter etwas unbeholfen
vor wacklige Handykameras treten und die Behörden und die
Weltöffentlichkeit anflehen, ihre Kinder und Enkel zu retten. Etwa der
Radiologe Hamid Ghareh-Hassanlou, ein Arzt, der in den entlegensten
Gebieten des Landes Schulen gebaut hat. Oder die Rapper Saman Yasin und
[5][Toomaj Salehi]. Salehis Zwangsgeständnis wurde unlängst als perfides
Video, untermalt mit seiner eigenen Musik, veröffentlicht. Oder die zwei
Brüder Farzad und Farhad Tahazadeh aus Oshnavieh, einer kurdischen
Kleinstadt, aus der laut kurdischen Nachrichtenagenturen allein sechs
Protestierende zum Tode verurteilt wurden.
Ihre Namen zu nennen ist essenziell, jede Öffentlichkeit kann sie schützen.
Daher ist die Initiative europäischer Politiker, die Patenschaften für die
Betroffenen übernehmen, mehr als nur eine schöne Geste der Solidarität. Die
Patenschaften erzeugen Aufmerksamkeit und Druck auf Irans Machthaber, das
Regime, das trotz seines Paria-Status immer noch nach internationaler
Anerkennung lechzt. Deswegen haben auch Irans Rausschmiss aus der
UN-Frauenrechtskommission sowie der UN-Beschluss, eine Kommission zur
Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen im Land einzusetzen,
historische Bedeutung. Noch nie in 43 Jahren wurde die Islamische Republik
auf diese Art in puncto Menschenrechte verurteilt. Nicht umsonst hatten
Aktivisten auf der ganzen Welt Freudentränen in den Augen, als sie von den
Entscheidungen erfuhren. Zum ersten Mal, nach all den Jahren und Protesten,
stellt die Weltöffentlichkeit für einen kurzen Augenblick die Menschen in
Iran in den Mittelpunkt.
Die aktuellen Hinrichtungen rütteln an ein kollektives Trauma aus einer
Zeit, als es diese Weltöffentlichkeit nicht gab: Die Exekutionen in den
1980er Jahren, unmittelbar nach der Revolution, als täglich Dutzende
Oppositionelle, aber auch jene, die zur falschen Zeit am falschen Ort
waren, hingerichtet wurden. Eine Welle, die ihren Höhepunkt 1988 erreichen
sollte. Damals erließ Revolutionsführer Ajatollah Chomeini ein geheimes
Dekret, nach dem alle „Feinde des Islam“, die sich damals in Haft befanden
„so schnell wie möglich“ exekutiert werden sollen. Ein „Todeskomitee“
kümmerte sich um die Abwicklung. Die damaligen Gefängnisinsassen mussten
nur ein paar Fragen beantworten: Welcher Partei gehörten sie an? Waren sie
bereit, ihr abzuschwören? Waren sie Muslime? Beteten sie fünfmal am Tag?
Wer nur eine Frage „falsch“ beantwortete, wurde getötet.
Der iranische Präsident Ebrahim Raisi war damals als junger
Vize-Generalstaatsanwalt Teil dieses vierköpfigen Todeskomitees, das
mindestens 5.000 Menschen in den Tod geschickt hat. Nicht umsonst
bezeichnet man Raisi daher im Volksmund als den „Ajatollah der
Massenhinrichtungen.“ Bis heute suchen die Familien nach den
Massengräbern, in denen ihre Angehörigen verscharrt wurden.
Heute wie damals soll so die Bevölkerung eingeschüchtert und den eigenen
Anhängern signalisiert werden: Wir haben alles unter Kontrolle. Doch die
Protestierenden lassen sich nicht einschüchtern. Trotz all der Toten,
Inhaftierten, Vergewaltigten und Exekutierten. Sie schreien immer noch
„Frau, Leben, Freiheit.“ Es ist an der Weltöffentlichkeit, weiter
hinzuhören und dafür zu sorgen, dass die letzten 15 Minuten dieses Regimes
nicht blutiger werden, als sie es ohnehin schon sind.
20 Dec 2022
## LINKS
[1] https://www.iran-emrooz.net/index.php/news1/more/104772/
[2] /Hinrichtungen-in-Iran/!5900315
[3] /Zweite-Hinrichtung/!5902437
[4] https://www.igfm.de/wp-content/uploads/2020/12/MR_2020-1.pdf
[5] /Aufstand-in-Iran/!5889095
## AUTOREN
Solmaz Khorsand
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