| # taz.de -- Inspektor im Delirium: „Er ist eine Art Höllenmaschine“ | |
| > Gary Victor und sein Übersetzer Peter Trier lesen aus dem Roman „Suff und | |
| > Sühne“, der die Korruption Haitis und der UN-Mission MINUSTAH aufgreift | |
| Bild: Schutz durch die UN: Wer gut ist, wer böse, das ist in Haiti nicht auf A… | |
| taz: Monsieur Victor, Warum sind Ihrem Inspektor Dieuswalwé Azémar die zwei | |
| W in seinem Vornamen so wichtig? | |
| Gary Victor: Azémar stammt vom Lande, und in seiner Geburtsurkunde steht ja | |
| der Vorname Dieusoitloué, also Gottseigelobt. Solche Namen geben die Bauern | |
| in Haiti manchmal ihren Kindern. | |
| Und er hat ihn [1][kreolisiert]? | |
| Ja, er hat ihn kreolisiert – und legt damit diese provinziellen Ursprünge | |
| ab, die der Name verrät. Auf diese Namensänderung ist er sehr stolz, weil | |
| sie seinen sozialen Aufstieg spiegelt. | |
| Die zwei W helfen ihm in „Suff und Sühne“, sich der Realität zu | |
| vergewissern: Er befindet sich mitten in einer Alkohol-Entziehungskur, | |
| vollgekotzt und delirierend. Trotzdem muss man sich auf seine Wahrnehmung | |
| verlassen. | |
| Auch der arme Inspektor muss sich auf seine Wahrnehmung verlassen, obwohl | |
| er stark an ihr zweifelt. Es bleibt ihm nichts übrig, als sich zu sagen: | |
| Egal, ich muss voran machen, bis ich verstehe, was hier vor sich geht. | |
| Das macht die erzählte Wirklichkeit ungewiss. Wäre der Plot sonst zu | |
| unwahrscheinlich? | |
| Nein. Im Gegenteil. Ich glaube, die Wirklichkeit übertrifft die Fiktion. | |
| Ich sage mir, während ich schreibe: Leider, leider wird die Realität in | |
| Haiti mal wieder locker darüber hinaus gehen. Und ich kriege immer den | |
| Beweis dafür, dass dem auch so ist: So heftig wie die echten Intrigen, das | |
| schaffe ich nicht. | |
| Sie spielen im Roman auf den Tod des zweiten militärischen | |
| Oberbefehlshabers der UN MINUSTAH-Mission an: General Urano Teixeira da | |
| Matta Bacellar soll sich einfach so erschossen haben,… | |
| Exakt. Das ist eine Geschichte, über die nicht viel berichtet wurde. Auch | |
| in Haiti hat man sie schnell untern Teppich gekehrt – obwohl es zahllose | |
| zweifelhafte Verwicklungen gab, die einer tieferen Untersuchung bedurft | |
| hätten. | |
| Für die bräuchte man eine Figur wie Ihren Inspektor: Ehrlich und | |
| unerschrocken. Haben Sie ihn deshalb erfunden? | |
| Alles zusammen genommen war es eher, um zu zeigen: Wenn man in Haiti | |
| ehrlich und unerschrocken ist, bewegt man sich an der Schwelle zum | |
| Wahnsinn. Wir haben eine Gesellschaft, in der diejenigen, die anständig | |
| bleiben wollen in einer ewigen Zerrissenheit leben: Sie müssen für ihre | |
| Ehrlichkeit bezahlen und ihre Folgen tragen. | |
| …und wie Azémar selbst zum Mörder werden? | |
| Nein. Er wird Alkoholiker. Er trinkt um dem sozialen Druck standzuhalten – | |
| denn wenn Sie in einer korrupten Gesellschaft leben, erwarten alle von | |
| Ihnen, dass Sie sich der anpassen, allein schon damit Sie Geld kassieren | |
| und Ihrer Familie helfen können. Aber, nein, er würde sich nicht als Mörder | |
| betrachten. Das nicht. Man kann sagen, dass er in einer Gesellschaft, deren | |
| Justiz versagt, die Gesetze nicht respektiert. Er befolgt zum Beispiel | |
| nicht das Gesetz, nachdem Killer ins Gefängnis gesteckt werden müssen. | |
| Ein paar erschießt er. | |
| Das macht er aber nicht, weil er das will. Er ist eine Art Höllenmaschine | |
| zur Herstellung von Gerechtigkeit. | |
| Er führt den Zustand der Entfremdung aber mitunter selbst herbei, etwa als | |
| er sich von einem Magier ein Amulett unter die Haut nähen lässt…? | |
| Das sollte man nicht zu wörtlich nehmen: Azémar ist eher Rationalist. Er | |
| glaubt nicht so sehr an diese Vorstellungen. Er ist aber, wie gesagt, | |
| ziemlich fertig in diesem Buch, und gerät in absolute Grenzsituationen. Da | |
| greift er auf solche Praktiken zurück, die seine Nachtseite wachrufen. | |
| Ihr Rückgriff auf Dostojewski, der sich nicht auf den Titel beschränkt, | |
| legt nahe, ihr Buch als Haiti-Diagnose zu [2][lesen]: Hatten Sie das so | |
| vor? | |
| Meine bescheidene Intention war schon, diese Diskussion über Gut und Böse | |
| aufzugreifen, ausgelöst von den Fragen: Wie ist es möglich und wann ist es | |
| notwendig, aus unsicheren Lebensumständen heraus, wie denen meines Landes, | |
| zur Tat zu schreiten? Wo wird das Handeln durch unsere Vorstellung von | |
| Moral gehemmt? Und wie lässt sich handeln, ohne den Unterschied zwischen | |
| Gut und Böse preiszugeben? Diese philosophische Reflexion über die | |
| Ungleichheit ist die meines Landes. Sie liegt auch diesem Buch zu Grunde. | |
| Sie ist hochkompliziert und schrecklich aktuell. Denn wer sich moralischen | |
| Werten unterwirft und entschlossen ist, sie zu bewahren, muss doch für sich | |
| klären, ob er die Mittel hat, sie gegen jene zu verteidigen, die Böses tun. | |
| Und wie ihm das gelingen kann, ohne das aufzugeben, was er verteidigt. | |
| 31 Mar 2017 | |
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| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Haitianische_Sprache | |
| [2] https://www.horst-juergen-gerigk.de/aufs%C3%A4tze/150-jahre-raskolnikow-dos… | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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