# taz.de -- Haiti im Ausnahmezustand: Zur Cholera das Wahlchaos | |
> Nach der von Unregelmäßigkeiten begleiteten Abstimmung geht die Angst vor | |
> neuer Gewalt in Haiti um. Viele Kandidaten fordern die Annullierung der | |
> Wahl. Sie werfen Staatschef Prèval Betrug vor. | |
Bild: Haitianische Polizisten sichern ein Wahllokal in Port-au-Prince ab. | |
PORT-AU-PRINCE/PARIS dapd/afp | Nach der chaotischen Präsidentschaftswahl | |
in Haiti befürchten die internationalen Geberländer neue Gewalt in dem | |
krisengeschüttelten Karibikstaat. Die Vereinten Nationen berichteten über | |
zahlreiche Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung am Sonntag, bei der auch | |
ein neues Parlament gewählt wurde. Die aussichtsreichsten | |
Präsidentschaftsanwärter warfen Staatschef René Préval und der Wahlbehörde | |
Betrug vor und forderten eine Annullierung der Abstimmung. | |
Es gab Berichte über Gewalt und Einschüchterungsversuche sowie gestohlene | |
Wahlurnen. Dem haitianischen Radio zufolge wurde ein Mann in der Nähe eines | |
Wahllokals in der Provinz Artibonite erschossen. Die Wahlbehörde berichtete | |
über einen weiteren Toten im Süden des Inselstaates. Ein neues, legitimes | |
Staatsoberhaupt ist damit nicht in Sicht. Doch die Hilfszusagen der | |
Geberländer sind überwiegend an die Bedingung geknüpft, dass eine | |
unbestechliche, stabile Regierung als verlässlicher Partner das Geld | |
verwaltet. | |
Zwölf der insgesamt 19 Präsidentschaftskandidaten riefen ihre Anhänger | |
bereits am Sonntagmittag in einer gemeinsamen Stellungnahme zu Protesten | |
gegen die Regierung und die Wahlbehörde auf. Bei gewaltsam ausgetragenen | |
Rivalitäten zwischen Anhängern einzelner Kandidaten waren vor der Wahl | |
mehrere Menschen ums Leben gekommen. | |
Wahlberechtigte und mehrere Kandidaten erklärten, Staatschef Préval, der | |
nicht erneut antreten durfte, wolle die Abstimmung zugunsten des Kandidaten | |
Jude Celestin beeinflussen. Die Politikerin Anne Marie Josette Bijou sagte, | |
sie habe Fotos und Unterlagen, um Betrug nachzuweisen. | |
Viele der mehr als 4,7 Millionen registrierten Wählern hatten bis Sonntag | |
entweder keinen Wahlschein erhalten, wussten nicht, wo sie ihre Stimme | |
abgeben sollten, oder suchten ihre Namen vergeblich auf den Wahllisten. | |
Viele Wahllokale öffneten zu spät. In der Stadt Grande Riu Du Nord | |
brandschatzten Jugendliche ein Wahllokal. Die Wahlbehörde erklärte bei | |
einer Pressekonferenz am Abend allerdings, in nur 56 der fast 1.5000 | |
Wahllokale seien Unregelmäßigkeiten festgestellt worden. Wie sie zu der | |
Zahl kam, sagte sie nicht. | |
Auch Wycleaf Jean, der frühere "Fugees"-Frontmann und ehemalige Bewerber um | |
das haitianische Präsidentenamt, war am Wahltag vor Ort. Unterstützer Jeans | |
erklärten über Twitter, der haitianisch-amerikanische Sänger werde | |
öffentlich keinen der 19 Präsidentschaftskandidaten unterstützen. Jean war | |
im August vom Rennen um das Präsidentenamt disqualifiziert worden. Er zog | |
mit einer Menge zum Büro der Wahlbehörde; vor dem Protestzug hatten | |
UN-Friedenstruppen und Polizisten Barrikaden errichtet. Für jegliche Gewalt | |
sei allein Préval verantwortlich, sagte der Anwalt Jean-Henry Ceant, der | |
sich ebenfalls um die Präsidentschaft bewarb. | |
Bei der Wahl geht es um die Nachfolge von Prévals, der nach zwei Amtszeiten | |
nicht mehr antreten darf. Der amtierende Staatschef unterstützt Celestin, | |
den Leiter einer staatlichen Baufirma, der als Kandidat von Prévals neu | |
gegründeter Einheits-Partei bis zum Schluss einen gut finanzierten | |
Wahlkampf führte. | |
In der Stadt Les Cayes beendete am Freitag ein Kugelhagel eine Kundgebung | |
des Musikers und Präsidentschaftskandidaten Michel "Sweet Mickey" Martelly. | |
Berichten zufolge kam dabei ein Anhänger Martellys ums Leben. Das | |
Wahlkampfteam des Musikers machte Celestin, Préval und deren | |
Einheits-Partei für den Vorfall verantwortlich. | |
Der Sieger der Präsidentschaftswahl wird Milliarden Dollar an Hilfsgeldern | |
zu verwalten haben, die Geberländer nach dem verheerenden Erdbeben vom | |
vergangenen Januar zugesagt hatten. Der künftige Präsident sieht sich | |
jedoch auch mit Millionen obdachlosen Erdbebenopfern und einer | |
grassierenden Cholera-Epidemie konfrontiert. Nach dem jüngsten Ausbruch der | |
Krankheit in Haiti sind bislang mehr als 1.600 Menschen ums Leben gekommen. | |
Erste Ergebnisse der Präsidentschaftswahl werden nicht vor dem 7. Dezember | |
erwartet. Es wird mit einer Stichwahl im Januar gerechnet. | |
Seuchenexperten: Cholera ist nach Haiti eingeschleppt worden | |
Unterdessen wollen französische Seuchenexperten zu dem Ergebnis gekommen | |
sein, dass die Cholera in den Karibikstaat eingeschleppt worden ist. "Die | |
Epidemie kann nicht lokalen Ursprungs sein", sagte Frankreichs führender | |
Experte Renaud Piarroux am Montag nach seiner Rückkehr aus Haiti. Die | |
Epidemie sei im Landesinnern ausgebrochen, nicht an der Küste und auch | |
nicht in den Lagern der Erdbebenopfer. "Das heißt, der Erreger kam von | |
außen." | |
Den haitianischen Behörden zufolge traten die erste Cholera-Fälle im | |
Oktober entlang des Artibonite-Flusses im Zentrum des Landes aus. Weiter | |
flussaufwärts liegt ein Stützpunkt nepalesischer UN-Blauhelme. Gerüchte, | |
wonach der Erreger von den nepalesischen Soldaten stammte, hatten vor zwei | |
Wochen in mehreren Städten zu gewaltsamen Protesten gegen Vertreter der | |
UN-Friedensmission MINUSTAH geführt, dabei starben mindestens drei | |
Menschen. Missions-Chef Edmond Mulet wies die Vorwürfe zurück: Keiner der | |
getesteten Blauhelme habe das Virus, auch alle Stichproben im nepalesischen | |
Lager seien negativ. | |
Bereits mehr als 70.000 Haitianer sind an der Cholera erkrankt, nach | |
Einschätzung von Piarroux könnte ihre Zahl auf 200.000 steigen. Cholera ist | |
hochansteckend. Sie verbreitet sich vor allem über Wasser und Nahrung, | |
verursacht heftigen Durchfall und Erbrechen und kann innerhalb kurzer Zeit | |
zum Tod führen, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird. | |
lon/ans | |
29 Nov 2010 | |
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Haiti | |
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