# taz.de -- Nach Haitis Präsidentschaftswahlen: "Das Volk ist wütend" | |
> Überfälle auf Stimmlokale, tausende Namen fehlen auf den Wahllisten. Die | |
> Haitianer erwarten nichts vom Wahlergebnis. Sie glauben, die regierende | |
> Inite-Partei hat getrickst. | |
Bild: Frustrierte Wähler protestieren auf den Straßen von Port-au-Prince. Sie… | |
PORT-AU-PRINCE taz | Willy hat mit dem Finger Zeile für Zeile über die | |
Namensliste gestrichen, die außen neben dem Eingang zum Wahllokal hängt. | |
Der Elektriker hat sein ganzes Erwachsenenleben lang im Lycée National | |
gewählt. Auch vor fünf Jahren, als er zuletzt für einen Präsidenten für | |
Haiti gestimmt hat. Seither ist seine Adresse gleich geblieben. Aber sein | |
Name ist aus den Wählerlisten verschwunden. Er kann nicht wählen. Seine | |
Frau Marlie hingegen, mit der er am Sonntag gekommen ist, darf. Sie hat den | |
im Wahllokal tintengeschwärzten rechten Daumen. Er nicht. "Unser Präsident | |
ist unfähig", schimpft Willy. "Er hat Berge von Dollars aus dem Ausland | |
bekommen und verschwendet, während eineinhalb Millionen Landsleute auch | |
zehn Monate nach dem Erdbeben noch in Zelten leben. Und jetzt ist er nicht | |
einmal in der Lage, eine Wahl zu organisieren." | |
Willy hat den scheidenden Präsidenten zwei Mal gewählt. Aber die letzten | |
fünf Jahre René Preval haben ihn einfach nur wütend gemacht. Dass Preval | |
dem Land zum Abschied auch noch einen Nachfolger aus seinem engsten Kreis | |
aufdrängen will, macht die Sache schlimmer. "Jude Célestin, dieser | |
Vagabund, hat 13 Kinder mit fast ebenso vielen Frauen", sagt Willy über den | |
Mann, dem der scheidende Präsident das Amt übergeben will, "mit seinem 13. | |
Kind ist er Schwiegersohn von Préval geworden." Jude Célestin, der | |
Präsidentschaftskandidat der machthabenden Partei "Inite" (Einheit-Partei), | |
war bis zum vergangenen Sommer ein in der großen Öffentlichkeit | |
unbekannter, leitender Beamter. In Haiti gilt es vielen als ausgemachte | |
Sache, dass er nur mit Hilfe von Geld und Fälschungen zum Präsidenten | |
werden könnte. Célestin war zuständig für Infrastrukturarbeiten. | |
In den Wochen vor der Wahl haben seine Anänger das ganze Land mit seinem | |
Konterfrei vor dem grün und gelben Hintergrund der Inite-Partei | |
vollgekleistert. Jude Célestin klebt jetzt an den Mauern, flattert über die | |
Straßen und wird von kleinen Flugzeugen durch den Himmel über Haiti | |
gezogen. "Er hat unbegrenzt Geld", sagt Willy. Er selbst findet schon lange | |
keine Arbeit mehr als Elektriker. Obwohl das Kabelwirrwarr längs der | |
Straßen von Port-au-Prince nach Reparaturen verlangt. Und obwohl nur jene | |
wenigen Haushalte, die sich private Generatoren leisten können, ständig | |
Strom haben. | |
"Kommt wählen! Laßt uns Haiti gemeinsam wieder aufbauen!" steht auf dem | |
Poster vor dem großen Wahllokal. Aber von den Menschen, die diese | |
Aufforderung an diesem letzten Sonntag im November wörtlich nehmen, blitzen | |
viele genauso ab, wie Willy. In Raum Nummer vier sagt eine lächelnde junge | |
Frau: "Ich erwarte nichts Gutes von diesen Wahlen." Die 23jährige | |
medizinisch-technische Assistentin Natasha ist an diesem Tag | |
Wahlbeobachterin für die haitianische Gruppe CNO. Seit sechs Uhr morgens | |
sitzt sie auf einer der im hinteren Teil des Klassenraums gestapelten | |
hölzernen Pulte. Neben und hinter ihr sitzen die Wahlbeobachter der | |
Kandidaten. | |
Als erstes ist Natasha an diesem Wahlmorgen aufgefallen, dass die | |
Wahlunterlagen zu spät geliefert wurden. Das hat den Wahlbeginn um eine | |
halbe Stunde verzögert. Dann sind immer neue Wähler gekommen, deren Namen | |
nicht mehr in den Listen stehen. "Das sind Fehler der Wahlkommission", sagt | |
Natasha. "Unsere Elite soll dafür sorgen, dass das Land funktioniert. | |
Stattdessen organisiert sie Wahlen, die es noch schlimmer machen. Das wird | |
neue Demonstrationen auslösen. Und das Land, die Schulen und wir alle | |
riskieren neue Blockaden." | |
Mit ihren Augen und einem Ohr verfolgen Natasha und ihre Freundin Nadège | |
das Geschehen in dem Klassenraum im Lycée National. Mit dem anderen Ohr | |
hören sie die Live-Berichterstattung des haitianischen Rundfunks über die | |
Kopfhörer eines Handy-Radioa. Sie erfahren von Urnen an mehreren Orten des | |
Landes, die schon vor der Eröffnung der Wahllokale mit angekreuzten | |
Stimmzetteln gefüllt sind. Von Demonstranten in Delmas, die eine Straße | |
blockieren, um ihr Wahlrecht einzuklagen. Von Polizisten in Carrefour, die | |
nur Wähler mit Parteiausweis der Inite in das Lokal lassen. Von zwei | |
Lastern voller junger Männer, die ein Wahllokal in Tabarre stürmen, die | |
Stimmzettel zerreissen und die Computer stehlen. Unterdessen schauen die | |
beiden anwesenden haitianischen Polizisten tatenlos zu. Die UN-Soldaten | |
kommen erst eine Stunde nach dem Überfall. Und von Trou du Nord, wo | |
Maskierte ein Wahlbüro überfallen haben und mit den Urnen verschwunden | |
sind. "Schockierend", sagt Nadège über den Verlauf der Wahlen. Die | |
21jährige hatte wenige Monate vor dem Erdbeben mit dem Medizinstudium | |
begonnen: Sie will "dem Land helfen". Seit dem 12. Januar liegt ihre | |
Universität am Boden. Ihr Studium ist unterbrochen. | |
Am Mittag gibt Kandidat Jude Célestin seine Stimme in dem Lycée National | |
ab. Während er wählt, wird das Wahllokal zu einem Demonstrationsplatz mit | |
ohrenbetäubendem Lärm und viel Gedrängel. Dutzende junger Männer bahnen | |
sich schubsend und gröhlend den Weg durch die Gänge und Balkons auf den | |
drei Etagen der Schule. Sie skandieren "Célestin prézidan". Von draußen | |
kommt das gleichlautende Echo weiterer Célestin-Unterstützer. Sie stehen in | |
gelb-grünen T-Shirts auf der Straße, inmitten des Latrinen-Geruchs, der von | |
der Zeltstadt auf der anderen Straßenseite herüberweht, und werden von | |
Männern mit gelben Helmen begleitet. | |
Die Célestin-Anhänger sind nicht die einzigen, die an diesem Wahlsonntag in | |
Lastwagen zu dem Wahllokal gekarrt worden sind. Ein paar Meter weiter, und | |
durch eine dicht geschlossene Reihe von UN-Blaumhelmsoldaten von den | |
Célestin-Anhängern getrennt, tanzen und skandieren in pinkrosa gekleidete | |
Leute. Sie wollen, dass der Sänger "Sweet Micky", bürgerlich Michael | |
Martelly, Präsident wird. Auch die Micky-Anhänger sind gut organisierte | |
mobile Einsatztruppen. Noch bevor Célestin das Wahllokal verläßt, erobern | |
mehrere Dutzend "Micky-Anhänger" die Balkons des Wahllokals. Von oben rufen | |
sie auf die stinkende Straße herunter, was sie von der Partei des | |
scheidenden Präsidenten Préval und seines Kandidaten Célestin halten: "Das | |
ist Gift - das ist Cholera". | |
Mirlande Manigat hält ihren im Wahlbüro mit Tinte markierten rechten Daumen | |
in die Kameras. Mit ihrem Zeige- und Mittelfinger formt sie dazu ein | |
Siegeszeichen. Die frühere Universitätsprofessorin hat den am 12. Januar in | |
sich zusammengesackten Präsidentschaftspalast noch in seiner alten Pracht | |
von innen erlebt. Im Jahr 1988 war ihr Mann - bis zu einem Militärputsch - | |
ein paar Monate lang Präsident. Jetzt möchte die 70jährige selbst | |
Präsidentin werden und in das klimatisierte Zelt auf dem Friedhof | |
einziehen, das als provisorischer oberster Amtssitz dient. Neben Celestin, | |
"Micky" und dem Unternehmer Baker ist sie die vierte in dem Kreis jener, | |
die es schaffen könnten, Haiti zu regieren. Kaum hat Manigat ihre Stimme | |
abgegeben, protestiert sie gegen die "Machenschaften und Wahlmanöver durch | |
Inite", die Präsidentenpartei. | |
Wenige Stunden später wird sie neben "Micky", Baker und neun anderen | |
KandidatInnen - von insgesamt 18, die bis zum Schluß im Rennen um die | |
Staatspräsidentschaft geblieben sind - im Kongreßzentrum sitzen. Alle zwölf | |
gemeinsam verlangen feierlich die Annulierung dieser Wahlen: wegen Betrug, | |
Druck auf Wähler und Wahlbüroleiter sowie Fälschung. Sie fordern auch den | |
sofortigen Rücktritt von Präsident Préval. | |
Kaum ist die Pressekonferenz der 12 KandidatInnen am frühen Nachmittag | |
zuende und lange bevor die Wahllokale schließen, füllen sich die Straßen | |
von Port-au-Prince mit Demonstranten. Anders als bei den mobilen | |
Einsatzkommandos, die in den Stunden zuvor unterwegs waren, sind dieses Mal | |
auch Frauen dabei. Eine junge Frau hat nicht einmal Zeit gehabt, ihre | |
Lockenwickler aus dem Haar zu nehmen. Sie wollte unbedingt dabei sein. Auch | |
ihr Name ist aus den Stimmlisten verschwunden. Mütter haben ihre Babies | |
mitgebracht. Auch einige ältere Leute protestieren gegen die | |
Wahlfälschungen. Mit dabei sind Erdbebenopfer, die in Zeltstädten leben und | |
trotz vieler Bemühungen keine Wählerkarte bekommen haben sowie mehrere | |
Präsidentschaftskandidaten - und der Sänger Wyclaf Jean. Auch er wollte für | |
das Präsidentenamt kandidieren. Doch die Wahlkommission lehnte ihn ab. | |
Begründung: Er lebt in den USA. | |
Die Demonstranten laufen in Richtung Wahlkommission. Später, in der Nacht | |
zum Montag, werden zahlreiche weitere kleine und große Demonstrationen | |
kreuz und quer durch die Stadt ziehen. "Das Volk ist wütend", sagt eine | |
ältere Frau am Straßenrand, "es fühlt sich um sein Wahlrecht betrogen." | |
Dann prognostiziert sie: "Wenn es dunkel ist, wird das gefährlich hier." | |
Am Abend spricht der Chef der provisorischen Wahlkommission von einem | |
"Erfolg". Gaillot Dorsainvie sagt, ohne eine Miene zu verziehen, dass es | |
"nur" in 56 der insgesamt 1.500 Wahlbüros Störungen gegeben habe. Und nennt | |
das eine "extraordinäre Performance". Den Ruf nach einer Annulierung der | |
Wahlen bezeichnet er als "politische Strategie" der zwölf Kandidaten. | |
Mit diesem Optimismus steht er ziemlich allein. Bei einer Krisensitzung am | |
Nachmittag des Wahltages äußern auch die Vertreter von UNO, USA und | |
mehrerer europäsicher Länder Proteste. "Wir sind in einer politsichen | |
Sackgasse", sagt der französische Botschafter. Antonal Mortimé, Chef der | |
haitianischen Menschenrechtsgrupe, POHDH, hat mit seinen Kollegen während | |
des Wahltages Lokale in allen Teilen der Hauptstadt besucht. Sein Fazit: | |
"Zahlreiche Irregularitäten". Angefangen damit, dass "mehr als 50 Prozent | |
der Wähler nicht in den Wählerlisten stehen", weiter mit der unzureichenden | |
Sicherheit der Wahllokale bis hin zu gefälschten Stimmzetteln und | |
Wahlkabinen, die "von außen einsehbar sind". | |
Die Wahlkommission will ihre Arbeit unbeirrt fortsetzen. In dieser Woche | |
will sie erste Ergebnisse der Wahlen bekannt geben. Die Stichwahl ist - | |
falls nötig - für Januar geplant. Der Monat, in dem sich das Erdbeben zum | |
ersten Mal jährt. | |
29 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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