# taz.de -- Nach dem Erdbeben in Haiti: Die zwei Leben des Ovinel Henry | |
> Ein Fuß nach dem anderen. "Du musst dir Zeit nehmen", sagt die | |
> Therapeutin. Ovinel Henry hat keine Zeit. Er will wieder laufen. Wie | |
> Menschen in Haiti mit ihrer Versehrtheit leben. | |
Bild: Schritt für Schritt: Ovinel Henry übt mit seiner Therapeutin Treppen st… | |
PORT-AU-PRINCE taz | Das erste Leben von Ovinel Henry endete kurz vor 17 | |
Uhr am 12. Januar 2010. Das zweite Leben nimmt seinen Anfang nach dem | |
schweren Beben, das die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince an jenem | |
Dienstagnachmittag erschütterte. Ovinel Henry lebt - aber alles ist anders | |
geworden. Als er sechs Tage nach der Erderschütterung langsam wieder | |
beginnt, seine Umgebung wahrzunehmen, dauert es eine ganze Weile, bis er | |
merkt, dass sein linkes Bein vom Oberschenkel abwärts amputiert ist. "Als | |
ich aufgewacht bin, war das Bein weg", sagt der 50-Jährige. | |
Ovinel Henry stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe der haitianischen | |
Hafenstadt Les Cayes. "Wir waren arm und hatten kein Land." Er arbeitet als | |
als Tagelöhner bei der Feldbestellung. Für 150 bis 175 Gourdes schneidet er | |
Zuckerrohr während der Erntezeit. Rund 3 bis 3,50 Euro pro Tag kann er so | |
verdienen - wenn es Arbeit gibt. Als er im Dezember vergangenen Jahres | |
wieder einmal längere Zeit ohne Job ist, fährt er nach Port-au-Prince. | |
Sein Bruder Vanel lebt dort mit seiner Familie in Cité Plis, einem der | |
Armenviertel ganz in der Nähe des Stadtzentrums. "Irgendwie findest du | |
schon was," habe Vanel gesagt, "die Stadt bietet immer was." Eine feste | |
Anstellung und ein besseres Leben bietet sie jedenfalls nicht. Ein-, | |
zweimal findet Olivel Arbeit als Gärtner in einem Privathaus - zu wenig, um | |
zu leben. | |
Dann kam der 12. Januar. Ovinel Henry ist tagsüber durch einige | |
Stadtviertel gelaufen, in denen Ein- und Mehrfamilienhäuser mit Gärten | |
liegen, in der Hoffnung auf einen Job. Vergeblich. Er ist gerade nach Hause | |
gekommen, als die Erde anfängt zu beben, die Wände schwanken, die Luft | |
füllt sich mit Staub und infernalischem Schreien. Er schafft es gerade | |
noch, aus dem engen Häuschen zu laufen. Dann hört er ein lautes Krachen. An | |
mehr erinnert er sich nicht mehr. | |
Henry verliert das Gleichgewicht, fällt hin. Die Betonsteine einer | |
umstürzenden Mauer zertrümmern seinen linken Fuß. "Mein Bruder hat mich aus | |
den Trümmern herausgeholt und mit Nachbarn ins Krankenhaus gebracht." | |
Mehrmals wird Henry operiert. Zweimal muss nachamputiert werden, da sich | |
der Stumpf wieder infiziert. Sein Bruder und dessen Frau versorgen ihn | |
während seines Aufenthaltes im Hôpital Général. | |
Hier beginnt Olivel Henrys zweites Leben: in einem Obdachlosenlager auf der | |
Place Petión - in Nähe des ehemaligen Regierungssitzes, der seit dem | |
Erdbeben auch in Trümmern verlassen daliegt. Knapp 2.000 Menschen leben in | |
dem Quartier, wo das Standbild des ehemaligen Staatspräsidenten Alexandre | |
Petión in der Mittagssonne Schatten auf die kreuz und quer verspannten | |
Zeltplanen wirft. | |
Weit über 1.300 Zeltstädte verteilen sich nach wie vor über das Stadtgebiet | |
von Port-au-Prince. 1,3 Millionen Menschen sind seit dem Beben ohne ein | |
festes Dach über dem Kopf und auch noch elf Monate nach der | |
Naturkatastrophe, bei der rund 300.000 Personen starben, auf die | |
Unterstützung ausländischer Hilfsorganisationen angewiesen. | |
Aufbereitetes Trinkwasser muss nach wie vor angeliefert werden, denn die | |
städtische Wasserversorgung ist seit dem Beben zusammengebrochen. | |
Mobiltoiletten sorgen wenigstens für ein Minimum an Hygiene - ein Glück für | |
die Menschen in den Lagern in Zeiten der Cholera. Allein rund um den | |
Präsidentenpalast leben etwa 60.000 Menschen meist nur durch einen dünnen | |
Zeltstoff vom Nachbarn getrennt. | |
Das kleine Zelt, in dem Ovinel Henry lebt, teilt er mit sieben weiteren | |
Personen. Auf knapp zwölf Quadratmeter wohnen außerdem sein Bruder, dessen | |
Frau, drei Kinder, eine Schwester der Frau und deren Kleinkind. Geld | |
verdient nur einer: Henrys Bruder Vanel verkauft am Eingang des | |
eingezäumten ehemaligen Parkgeländes Getränke. Ein alter, quer gelegter | |
ausgedienter Großkühlschrank ist mit Blockeis vollgepackt. | |
Dazwischen verschweißte Wasserbeutel. Softdrinks warten auf Käufer. "Heute | |
habe ich einmal Wasser verkauft", sagt Vanel und zeigt die vier Gourdes, | |
die er aus der Hosentasche geholt hat. "Wenn das Geschäft gut geht, dann | |
verdiene ich täglich um die 100 Gourdes." | |
Mit den umgerechnet zwei Euro muss der 35 Jahre alte Familienvater seine | |
Mitbewohner ernähren. Das reicht gerade mal für eine tägliche warme | |
Mahlzeit, die meist aus Reis mit etwas Tomatensoße besteht. Wenn der | |
Beinamputierte Henry nicht seinen Bruder hätte, wüsste er nicht, wovon er | |
leben sollte. "Wie soll ich Geld verdienen", fragt er, während er auf einem | |
kleinen Mäuerchen sitzt und sich seinen Beinstumpf massiert. | |
Den Nachbarn geht es auch nicht besser. Die wenigstens haben eine Arbeit | |
bei einem der zahlreichen Cash-for-Work-Aufräumprogramme gefunden, mit | |
denen ausländische Hilfsorganisationen versuchen, den Erdbebenopfern | |
wenigstens ein Minieinkommen zu verschaffen. Aus Mangel an Arbeit sind | |
"Kleinunternehmen" entstanden. Auf der Place Petión kann man sich die Haare | |
schneiden lassen, wenn der Mann den Preis zahlen kann: 75 Gourdes (1,50 | |
Euro). Die Nagelmaniküre kostet 125 Gourdes (2,50 Euro). Aber es gibt zwei | |
Nagelstudios und drei Friseure. Dazwischen wird Essen verkauft, Gemüse, | |
Maggiwürfel und Öl. | |
Ein Mensch mit Behinderung hat noch weniger Chancen, hier ein Auskommen zu | |
finden. Zwischen 8.000 und 10.000 Menschen, denen infolge des Erdbebens | |
Gliedmaßen amputiert wurden, die gelähmt oder in ihrer Bewegungs- und | |
Greiffähigkeit dauerhaft eingeschränkt sind, soll es in Haiti inzwischen | |
geben. Genaue Statistiken darüber gibt es noch immer nicht. An den wieder | |
funktionierenden Ampeln strecken sich heute vermehrt bettelnde Hände | |
entgegen, die Achseln auf einfache Holzkrücken gestützt. Oder ein | |
mitleiderregender Armstumpf. | |
Henry wird nie mehr Zuckerrohr im Akkord schneiden können. Daran ist gar | |
nicht zu denken. Und eine Umschulung? Worauf? Es gibt keine Stellen in | |
Haiti, die für in der Bewegung Behinderte geeignet wären. Außerdem hat | |
Ovinel gerade mal fünf Jahre die Schulbank gedrückt. | |
Dafür geht er jetzt jeden Tag wieder ins Hôpital Général - drei | |
Häuserblocks entfernt von seinem Notlager. Im Hinterhof eines Nebengebäudes | |
der Universitätsklinik ist eine Physiotherapiepraxis für | |
Bewegungseingeschränkte und Amputierte eingerichtet. Magen David Adom, das | |
"Rote Schild Davids", des israelischen Mitgliedsverbandes des | |
Internationalen Roten Kreuzes, stellt die Physiotherapeuten. Dazu gehört | |
noch eine Prothesenwerkstatt, die vom deutschen Projektpartner LandsAid | |
betrieben wird. In zwei Jahren sollen einmal Angestellte des haitianischen | |
Roten Kreuzes die Therapieeinrichtung und die Werkstatt übernehmen und | |
eigenständig weiterführen. | |
Es ist Henrys zweiter Tag, an dem er seinen Oberschenkelstumpf in den | |
Kunstharzschaft seiner Beinprothese zwängt, die ihm von Markus Gilbert von | |
LandsAid angepasst wurde. Der Orthopädiemechanikermeister hat sich | |
freiwillig gemeldet, um drei Wochen in Haiti zu helfen. Henrys Mund ist | |
zusammengekniffen vor Konzentration - die gesamte Körpermuskulatur ist | |
angespannt. Vorsichtig setzt er den linken Kunstfuß auf den Boden und | |
belastet ihn. Noch ein Schritt. "Du musst kleinere Schritte machen", | |
ermahnt ihn Shany Shiraz mit heiserer Stimme in Englisch. | |
Rechter Fuß, linker Fuß. "Du musst dir Zeit nehmen", fügt Guy Thomas, der | |
Kreyol-Übersetzer, den Worten der israelischen Physiotherapeutin hinzu. | |
Aber Henry hat keine Zeit. Man merkt es richtig: Er will seine Gehfähigkeit | |
wiedererlangen. Und dazu gehören anscheinend die großen, raumgreifenden | |
Schritte, die die haitianischen Bäuerinnen und Bauern in den Bergen gewohnt | |
sind, wenn sie oft Stunden lang ihre Waren auf dem Kopf zu den Märkten in | |
den Städten balancieren. | |
"Er ist ein Naturtalent", versichert Shiraz. Die 31-Jährige arbeitet | |
normalerweise am The Chaim Sheba Medical Center at Tel Hashomer, dem | |
größten Krankenhaus in Tel Aviv. Jetzt ist sie freiwillig gekommen, um den | |
Menschen in Haiti, "wieder auf die Beine zu helfen", wie sie sagt. "Bisher | |
habe ich noch niemanden gesehen, der in so kurzer Zeit gelernt hat, mit | |
einer Prothese zu laufen." Ungläubig beobachtet sie ihren Patienten, wie er | |
entschlossenen Schritts über den rissigen Betonboden des Krankenhaushofes | |
balanciert, Stufen an einer Therapietreppe hinauf- und hinuntergeht. | |
"Du musst kleinere Schritte machen", sagt sie immer wieder, "bald kannst du | |
wieder ohne Stock laufen." Nach fast einer Stunden Therapie sieht Ovinel | |
Henrys müde und erschöpft aus. Jetzt drückt ihn Shiraz mit dem Rücken an | |
die Wand. Er muss sich mit angewickelten Knien emporrecken. Eine | |
kraftraubende Anstrengung. "Toll machst du das", freut sich Shany. "Jetzt | |
tanzen wir." Und schon hat Ovinel Henrys mit einem breiten Lachen die | |
zierliche Frau im Arm. Den wiegenden Schritt und den Hüftschwung des | |
haitianischen Kompa-Tanzes macht ihm auch mit seiner neuen Prothese keine | |
Schwierigkeiten. | |
20 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Hans-Ulrich Dillmann | |
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