| # taz.de -- Identitätspolitik in der Kunst: Kunst braucht Eigensinn | |
| > Im Zangengriff von Kapital und Identitätspolitik. Aktuelle Diskurse und | |
| > Wokeness sind nicht zwingend maßgebend für autonom arbeitende | |
| > Künstler*innen. | |
| Bild: Kritik an der Gesellschaft kann in der Kunst enthalten sein, aber sollte … | |
| Politische Einflussnahme sickert durch alle Ritzen. Sie bewirkt eine | |
| Domestizierung und Durchverwaltung der Kunst und lässt den Kunstgenuss zu | |
| einem Erlebnis werden, das einem beim Gähnen den Kiefer ausrenkt. Viele | |
| Rächer der Entrechteten tummeln sich in der Kunstsphäre und lassen ihrer | |
| Kontrollwut mit der Biederkeit eines mülltrennenden deutschen Hausmeisters | |
| freien Lauf. | |
| Die Lektüre des Buches von Wolfgang Ullrich „[1][Die Kunst nach dem Ende | |
| ihrer Autonomie]“ hat mir den Rest gegeben und mich dazu veranlasst, eine | |
| Gegendarstellung zu verfassen. [2][In dem Buch ruft der Leipziger | |
| Kunsthistoriker das Ende der autonomen Kunst aus]. Er bedauert den Tod der | |
| autonomen Kunst zwar, aber er stellt es so dar, als sei der | |
| Paradigmenwechsel nun mal unabwendbar, man müsse sich leider damit | |
| abfinden. Erstens möchte ich das stark bezweifeln, zweitens wäre das | |
| schrecklich, und zwar nicht nur für die Künstlerschaft, sondern für die | |
| ganze Gesellschaft. | |
| Ich behaupte, die Autonomie der Kunst hat sich parallel mit der Entwicklung | |
| der Idee vom Individuum entwickelt, einem Menschenbild, das sich seit der | |
| Rückkehr des Humanismus in der Renaissance etablierte. Über die | |
| Jahrhunderte bedeutete es die mühsame und gewaltvoll verlaufene | |
| Emanzipation des einzelnen Menschen von den Interessen des Staates und der | |
| Religion. Seit der Zeit des Kapitalismus hieß das im Kunstbereich auch | |
| Emanzipation und Selbstbehauptung von den Interessen des Marktes. | |
| Das steigende Bewusstsein dafür, dass die Interessen der Gesellschaft und | |
| die Interessen des Einzelnen mitunter auseinanderklaffen, ist eine | |
| Errungenschaft westlicher Gesellschaften. Autonom arbeitende | |
| Künstler*innen sind das beste Beispiel dafür, dass man sich in einem | |
| dauernden Prozess befinden kann, ein Vor-und Zurückpendeln zwischen dem | |
| Dasein als soziales und politisches Wesen und der Implosion in inneren | |
| Welten. Der kreative Output resultiert aus beidem und ermöglicht eine | |
| Offenheit und notwendige Ambivalenz des Kunstwerks. | |
| ## Außenposition der Künstler*innen war lange unangetastet | |
| Das Privileg der Kunst war bisher eher von einer beobachtenden | |
| Außenperspektive geprägt, entweder analysierend und rational, auch | |
| politisch, oder auf verschlungenen Wegen der unterbewussten Wahrnehmung, | |
| des Humors, aus dämonischen Abgründen heraus die Welt zu kommentieren, das | |
| Verstörende, das Störende, das Wunderbare am Leben, an den Menschen, an der | |
| Gesellschaft und an der Welt. | |
| Diese Außenposition der Künstler*innen, diese Autonomie der Kunst, war | |
| einigermaßen unangetastet, es wurde ihnen Narrenfreiheit gewährt, die | |
| schwer erkämpft war. Es war dem wohlhabenden Teil der Gesellschaft einen | |
| Obolus wert, wie auch der Staat die Existenz der Künstler*innen zum Teil | |
| großzügig unterstützte und bezahlte. | |
| Es gibt Künstler*innen, die sich als außenstehend-beobachtend empfinden, | |
| und jene, die sich mit der Vorstellung wohler fühlen, in einen | |
| gesellschaftlichen Kontext eingebettet, also „innen“ zu sein und sich | |
| aktionistisch für kritische Themen einzusetzen. Diese Spielarten fließen | |
| ineinander, sie bedeuten eine pluralistische Artenvielfalt in der Kultur, | |
| die auch Gesellschaft widerspiegelt. | |
| ## Kritik an der Gesellschaft sollte keine Pflicht sein | |
| Übrigens arbeiten auch Künstlerkollektive meist im Schutzbereich einer | |
| freien Kunst, die Künstlerindividuen erkämpft haben. Von den | |
| Synergieeffekten profitieren alle Beteiligten und das macht es spannend. | |
| Die Kritik und Teilhabe an der Gesellschaft kann in der Eigenschaft als | |
| Künstler oder als Mensch erfolgen, aber sollte keine Pflicht sein. Das aber | |
| ist eine sich steigernde Forderung an die Künstlerschaft vonseiten der | |
| Politik, zunehmend auch von Kuratoren und Teilen der Künstlerschaft selbst. | |
| Wenn die Arbeit nicht auf teils platteste Weise bestimmte Themen mit | |
| einbaut, die sich gerade in der politischen Diskussion befinden, möchten | |
| sie die Kunst als nicht gesellschaftsrelevant brandmarken. Guter Trick. | |
| Warum möchte man die Kunst aber überhaupt in einengende Begriffe zwängen | |
| wie „Autonomie“ oder „Nichtautonomie“ und sie durch die Zwangsmühle | |
| holzschnittartiger politischer Überprüfung schicken, die am Ende eine reine | |
| Kunstverhinderung darstellt? | |
| ## Die Rede ist von Identitätspolitik und Genderfragen | |
| Geht es etwa darum, das Individuum als Keimzelle des neoliberalen Bösen zu | |
| entlarven und in seine vermeintlich verstaubte Ecke der Geschichte zu | |
| stellen? Und die Idee des autonomen Künstlers als Verkörperung des | |
| Ultra-Indvidualismus gleich mit? Aber leider entspricht die | |
| Ausschließlichkeit, mit der sich politische Fragestellungen in den | |
| Vordergrund drängen, nicht den Kontexten und Motivationen, aus denen heraus | |
| die meisten Künstler arbeiten. | |
| Von welchen diskursbestimmenden politischen Themen spreche ich eigentlich? | |
| Ich spreche von [3][Identitätspolitik, Genderfragen, postkolonialem | |
| Diskurs, Rassismus, Klassismus, Klimapolitik]. Diese Fragen kann man sehr | |
| schön an der Person des Künstler*in aufhängen. Es geht darum, wer es | |
| gemacht hat, nicht, was es zu sehen gibt. | |
| Das liefert den Vermittler*innen schnell zugängliches Textmaterial, | |
| aber die intellektuelle Unterkomplexität der benannten Themen, wenn sie auf | |
| Kunst übertragen werden, verursacht Unbehagen bis an die Schmerzgrenze. | |
| ## Die Vermittlung des Werkes bleibt oft auf der Strecke | |
| Biologistische und biografische Merkmale der Künstler*innen, die in der | |
| Identitätspolitik zum Tragen kommen, sind ja einfach zu verstehen und zu | |
| vermitteln: Hautfarbe – check, Alter – check, Nationalität – check, | |
| Geschlecht – check, Migrationshintergrund – check. Und schon generiert man | |
| Bedeutung, man nimmt an „bedeutenden Umwälzungen in der Gesellschaft“ teil. | |
| Die feinfühlige Verarbeitung und Vermittlung des eigentlichen Werkes bleibt | |
| dabei oft auf der Strecke, auch systembedingt durch zu viel Druck, zu viel | |
| Zeitdruck, wenig Geld für viel Einsatz oder mangelnde Bildung der | |
| Kunstvermittler*innen. Zu kompliziert, zu viel Arbeit, sich in das Denken | |
| und Fühlen eines/r Künstler*Künstlerin reinzufräsen, die verschlungenen | |
| Wege vom Kopf und Hirn über die Hand zur Leinwand, auch die Sinnlichkeit | |
| der Arbeit nachzuvollziehen und zu vermitteln. Lieber mal gucken, ob alles | |
| in der Checkliste stimmt, dann kann man sich ein weiteres Befassen mit der | |
| eigentlichen Arbeit gleich sparen. | |
| Auch die für ein funktionierendes Kunstsystem notwendigen Individualitäten | |
| des Betrachters und Käufers leiden unter dem verordneten Diskurs. Im Tausch | |
| Kunst gegen Geld können sie eine Stärkung der eigenen Überzeugung erleben, | |
| die Möglichkeit, das geistig-ethisch-ästhetische Urteil ausleben zu können | |
| und sich im inneren Dialog mit dem Kunstwerk wiederzufinden: die Kunst im | |
| Auge des Betrachters. Wenn auch das unter einen verordneten Diskurs | |
| gestellt wird, schadet das System sich selbst. | |
| ## Politischer Diskurs ist im modischen Trend | |
| Die starke Verzahnung von Diskurs und Markt tut ihr Übriges. Vom Markt | |
| unabhängige Kritik ist rar geworden. Und wer im Diskursbereich die | |
| Definitionsmacht darüber hat, welche Kunst relevant ist, hat auch Einfluss | |
| darauf, wer auf dem Markt das Geld verdient: Die Kunstkritik liefert dem | |
| freien Markt die Verkaufsargumente. Diese gegenseitige Einflussnahme | |
| funktioniert in beide Richtungen, ist aber unempfänglich für Einflüsse von | |
| außen. | |
| Es geht um Geld. Themen aus dem [4][politischen Diskursbereich sind zu | |
| einem modischen Trend] und zu Verkaufsargumenten geworden, die Quote | |
| bringen und Besucherzahlen steigen lassen. Das ist auch eine eklige | |
| Instrumentalisierung und Monetarisierung der eigentlich stattfindenden | |
| gesellschaftlichen Umwälzungen für die Kunst. Unter dem Vorwand, eine | |
| „bessere gerechtere Welt“ zu schaffen, sollen freie Ausprägungen von Kunst | |
| als diskursunwürdig gebrandmarkt und vom Markt gedrängt werden. | |
| Der Staat greift passiv-aggressiv ein, zum Beispiel, indem er Geld | |
| bewilligt oder nicht. Indem er Jobs vergibt oder nicht. Indem er Geld für | |
| Ausstellungen dazugibt oder nicht. Auch hier greift die | |
| biologistisch-biografische Checkliste. | |
| Diese Phänomene führen zu einer Verengung und Verkürzung im Diskurs und | |
| machen die notwendige Offenheit und Ambivalenz unmöglich. Die Verengung auf | |
| politische Diskurse und die strenge Trennung in Disziplinen dient im | |
| Endeffekt der Spaltung und Schwächung der Künstlerschaft. | |
| ## Kunst als Propaganda | |
| Besonders schädlich ist diese Attacke auf freie Kunst, wenn sie aus den | |
| eigenen Reihen kommt. Der Trick ist, die traditionelle Idee der oft | |
| männlich weiß geprägten klassischen Avantgarden zu verdammen, um nach | |
| eigenen Maßstäben eine neue fremdbestimmte Pseudo-Avantgarde zu formen, die | |
| sich den verordneten politischen Themen widmet. Der angebliche | |
| Paradigmenwechsel ist da. | |
| Dabei benutzt diese „aufgeklärte“ Bewegung die gleiche | |
| chauvinistisch-provokative Attitüde, totalitär, exklusiv, autoritär und | |
| absolutistisch, wie schon die klassischen Avantgarden: Alle weg da, jetzt | |
| kommen wir. Im Endeffekt sägen sie aber an dem Ast, auf dem sie sitzen, es | |
| sei denn, es gäbe irgendwann eine vollständig abgeschlossene Kernschmelze | |
| von Kunst und Politik. Voilà, dann haben wir wieder Kunst als Propaganda. | |
| Auf diese Weise ist die neue identitätspolitische Pseudo-Avantgarde das | |
| Reaktionärste, Biederste, Langweiligste, was sich derzeit auf dem bunten | |
| Jahrmarkt der Diskurse und Kunstszenen finden lässt. | |
| Also: Lasst die Kunst in Ruhe! Wenn Kunst weiter der Spiegel einer | |
| pluralistischen Gesellschaft bleiben soll, müssen wir vorsichtig damit | |
| umgehen, was wir ihr aufhalsen. | |
| 22 Apr 2023 | |
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| [1] https://www.wagenbach.de/buecher/titel/1324-die-kunst-nach-dem-ende-ihrer-a… | |
| [2] /Buch-ueber-zeitgenoessische-Kunst/!5843017 | |
| [3] /Sammelband-ueber-Cancel-Culture/!5921330 | |
| [4] /Wenn-die-Klasse-entscheidet/!5854909 | |
| ## AUTOREN | |
| Angela Fette | |
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