# taz.de -- Hungerstreik in Belgien: Das letzte Mittel der Sans-Papiers | |
> 475 Menschen ohne Papiere befinden sich in Belgien im Hungerstreik. Sie | |
> fordern ihre Legalisierung und eine Aufenthaltsrechtsreform. | |
Bild: Ruhelager von hungerstreikenden Sans-Papiers in Belgien | |
BRÜSSEL taz | Ram Pallsad Khatiwda* ist auf den Fotos, die er zeigt, kaum | |
wiederzuerkennen. Sein Gesicht rund und voll, funkelnde braune Augen, der | |
Bart sorgfältig gestutzt. Heute – zwei Monate später – sind seine Wangen | |
eingefallen, unter den Augen haben sich dunkle Ringe gebildet, den | |
schwarzen Vollbart durchziehen graue Strähnen. Gemeinsam mit drei anderen | |
Männern, die wie er aus Nepal nach Belgien kamen, sitzt er an diesem | |
Samstagmittag auf einer durchgelegenen Matratze in der Cafeteria der | |
Université libre de Bruxelles, kurz ULB, und spielt Karten. | |
Um sie herum liegen dicht an dicht Menschen, allesamt ausgemergelt und | |
schwach. 150 sind es insgesamt, die hier übernachten. Sie kommen aus | |
Pakistan, Nepal, Palästina, Nigeria und vor allem aus Nordafrika. Seit fast | |
50 Tagen befinden sie sich im Hungerstreik. [1][Der Grund dafür: Die | |
meisten von ihnen leben und arbeiten seit vielen Jahren in Belgien – und | |
doch hat niemand hier einen Aufenthaltstitel]. | |
Sie selbst nennen sich „Sans-Papiers“, die Papierlosen. Schätzungsweise | |
leben zwischen 100.000 und 150.000 Menschen, 1 bis 1,5 Prozent der | |
Gesamtbevölkerung, ohne legalen Aufenthaltstitel in Belgien und dürften | |
somit offiziell auch nicht arbeiten. | |
Eine Legalisierung ihres Aufenthalts auf bürokratischem Weg ist in dieser | |
Situation für sie kaum zu erreichen. Dazu müssten entweder „medizinische“ | |
oder „humanitäre“ Gründe vorliegen. Doch während Erstere nur in absoluten | |
Ausnahmefällen zum Tragen kommen, sind die „humanitären“ Gründe so vage | |
formuliert, dass es – so die Kritik – allein der Willkür der Behörden | |
obliegt, ob jemand diesen Status bekommt oder nicht. | |
## Gefordert wird ein legaler Aufenthaltsstatus | |
Im Januar haben sich daher einige Hundert Aktivst:innen in Brüssel zu | |
einem Kollektiv zusammengeschlossen, der Union des Sans Papiers pour la | |
Régularisation. Ihre Forderungen: eine Reform des Aufenthaltsrechts – und | |
einen sofortigen legalen Status aller Aktivist:innen. Dafür haben sie erst | |
die Barockkirche Saint-Jean-Baptiste au Béguinage im Stadtzentrum von | |
Brüssel besetzt, dann im Februar die ULB und die Vrije Universiteit Brussel | |
(VUB). Seit 23. Mai befinden sich 475 Aktivist:innen in den drei | |
Besetzungen im Hungerstreik. | |
Seitdem hat Ram Pallsad Khatiwda 13 Kilo verloren, fünfmal wurde er mit dem | |
Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Am schlimmsten aber sei, dass er | |
seine fünfjährige Tochter nicht mehr gesehen habe. „Ich will nicht, dass | |
sie mich in diesem Zustand sieht“, sagt der 33-Jährige. „Stattdessen haben | |
wir ihr erzählt, ich sei eine Zeit verreist. Manchmal, wenn sie mich | |
anruft, sagt sie: Papa, du hast es gut, dass du so lange Urlaub machen | |
darfst!“ | |
Khatiwda lebt seit 2005 in Belgien. Das erste Mal hat er bei seiner | |
Ankunft, das zweite Mal im Jahr 2009 einen Asylantrag gestellt, der aber | |
drei Jahre später abgelehnt wurde. Um Geld zu verdienen, hat er erst | |
illegal auf dem Bau gearbeitet, dann als Koch für verschiedene | |
Cateringservices und auf Einladung bei privaten Veranstaltungen. „Ich kann | |
davon leben, aber ich habe keine Versicherung, es gibt keinen Staat, der | |
sich verantwortlich fühlt, wenn ich meine Arbeit verliere“, sagt er. | |
Mit Beginn der Coronapandemie und [2][dem ersten Lockdown in Belgien] habe | |
er kaum noch Aufträge bekommen. Pandemiebedingte Arbeitslosigkeit: Das ist | |
eine Geschichte, die viele der Hungerstreikenden teilen – ganz gleich, ob | |
sie in der Gastronomie, auf dem Bau oder in der Kinderbetreuung arbeiten. | |
So auch Halima*. | |
## Jobs, die Belgier nicht machen wollen | |
Sie sitzt wenige Meter entfernt von Khatiwda hinter den geblümten | |
Bettlaken, die an der Decke der Cafeteria festgemacht sind und den | |
Schlafbereich der Frauen vom Matratzenlager der Männer trennen. Auf den | |
Knien hat sie einen Schreibblock und kritzelt ein paar Zeilen auf Papier. | |
Vor sechs Jahren, erzählt sie, sei sie aus Marokko nach Europa gekommen, um | |
Arbeit zu finden. Bei den Behörden gemeldet hat sie sich nie. | |
In Belgien hat sie erst als Putzkraft, später als Haushälterin bei | |
belgischen Familien gearbeitet. „Alles Jobs, die die Belgier selbst nicht | |
machen wollen. [3][Sie wollen, dass wir für sie arbeiten – aber sie wollen | |
nicht, dass wir Papiere haben].“ Deshalb hat sie sich entschlossen, einen | |
Brief zu schreiben. An Sammy Mahdi, den Staatssekretär für Migration und | |
Flüchtlinge von der flämischen Rechtspartei Christen-Democratisch en Vlaams | |
(CD&V): | |
„Wir haben den Hungerstreik nicht begonnen, um Sie zu erpressen, Mr. S. M. | |
Der Hungerstreik ist ein Angebot zum Dialog, von dem wir hoffen, dass er | |
[4][zum Ende unseres Leidens] führt, das durch die Coronakrise noch | |
verschlimmert wurde. Wir sind hier seit vielen Jahren und die Regierung | |
erwartet, dass wir hier sterben ohne Identität.“ | |
Mahdi ist der Hauptadressat, gegen den sich der Protest und die Wut der | |
Papierlosen richtet. Ein junger aufstrebender Konservativer, der mit seinen | |
32 Jahren und als Sohn eines Geflüchteten für eine „Beruhigung des | |
Diskurses“ sorgen sollte. Einer, von dem manche in Brüssel sagen, dass der | |
Hungerstreik seine politische Karriere entscheiden könnte; denn seine | |
Haltung war bislang eindeutig: „Wenn sich, wie sie sagen, 150.000 Menschen | |
illegal in Belgien aufhalten und 200 von ihnen beschließen, einen | |
Hungerstreik zu beginnen, um einen legalen Status zu erhalten, werden eine | |
Woche später 2.000 oder sogar 20.000 andere dasselbe tun“, erklärte Mahdi | |
schon Ende Juni. | |
## Der Staatssekretär bleibt hart | |
„Der Koalitionsvertrag ist ganz klar“, sagt Mahdi. „Es wird keine | |
kollektiven Aufenthaltserlaubnisse mehr geben. Die Regeln gelten immer noch | |
und ich werde meine Politik nicht plötzlich ändern, weil diese Leute | |
entscheiden, mit dem Essen aufzuhören.“ Nichtsdestotrotz verhandelt der | |
Staatssekretär seit einer Woche mit den Aktivist:innen über eine | |
mögliche Lösung. [5][Die Erfahrung mit ähnlichen Aktionen sagt], dass die | |
Hungerstreikenden wohl nur noch 10 bis 15 Tage überleben können. | |
„Die Regierung hat Angst“, glaubt Charlotte Fichefet, sie ist | |
Politikwissenschaftlerin an der ULB und Teil des | |
Unterstützer:innen-Netzwerks der Sans-Papiers. „Denn der Kampf der | |
Kollektive der Sans-Papiers in Belgien hat eine längere Tradition.“ | |
Mehrmals sei es den Sans-Papiers gelungen, One-Shot-Legalisierungsaktionen | |
durchzusetzen. | |
Während der ersten Proteste 1999/2000 wurden von 50.000 Anträgen 40.000 | |
dauerhaft bewilligt, und auch Mitte und Ende der 2000er wurden mit | |
Hungerstreiks mehrere Legalisierungen durchgesetzt. Im Jahr 2010 erhielten | |
10.000, 2011 6.000 Personen einen Aufenthaltstitel. Schon damals war die | |
Kirche Saint-Jean-Baptiste au Béguinage Zentrum des Protests. | |
An diesem Abend sind die Türen der Kirche verriegelt. Vergangene Woche | |
haben die Aktivist:innen beschlossen, den Protest zu verschärfen und | |
keine Ärzt:innen, Unterstützer:innen und Journalist:innen mehr | |
hineinzulassen. Schon jetzt sind sechs Selbstmordversuche bekannt, vier | |
Personen haben sich die Münder zugenäht. | |
Als es dunkel wird, strömen mehrere Dutzend Unterstützer:innen auf den | |
Platz vor der Kirche. Viele sind Mitglieder der örtlichen Gemeinde, haben | |
Fackeln und Kerzen mitgebracht und skandieren: „Olala, olélé, solidarité | |
avec les sans-papiers!“ Einer der wenigen Sans-Papiers-Aktivist:innen, die | |
an diesem Abend nach draußen vor die Kirche treten, ist Ahmed. Er ist 63, | |
kommt aus Marokko, lebt seit acht Jahren in Brüssel und agiert als Sprecher | |
der Kirchenbesetzer. | |
## 130.000 offene Stellen in Belgien | |
„Mir ist wichtig, dass klar ist: Wir sind keine Obdachlosen oder | |
Schutzsuchenden – wir sind Arbeiter.“ Er selbst habe in Belgien acht Jahre | |
lang als Elektriker auf dem Bau gearbeitet, 15 bis 16 Stunden am Tag. 40 | |
bis 50 Euro habe er dafür bekommen. „Das ist kein versuchter Massensuizid, | |
das ist ein Arbeitskampf: gegen eine Politik, die dafür sorgt, dass | |
Menschen bis auf die Knochen ausgebeutet werden. Und der Hungerstreik ist | |
das letzte Mittel.“ Wären sie nicht bereit, in diesem Kampf ihr Leben zu | |
lassen, dann würde ihnen auch niemand zuhören. „Auch der französischen | |
Revolution sind viele große Frauen und Männer zum Opfer gefallen – aber am | |
Ende haben sie die Freiheit erkämpft“, sagt Ahmed. | |
„In Belgien sind derzeit 130.000 Stellen offen. Jedes Jahr gehen | |
Zehntausende in Rente und niemand weiß, wie man die nachbesetzen soll“, | |
erzählt er. „Dabei wäre die Lösung so einfach: Legalisiert uns, wir sind | |
hier. Aber nein, ihre rassistische Politik ist ihnen wichtiger als die | |
eigene Wirtschaft.“ | |
Ob Belgien gegenüber den Papierlosen die Menschenrechtskonvention bricht, | |
ist inzwischen Thema von Beratungen bei den Vereinten Nationen. Vergangenen | |
Donnerstag hat Olivier De Schutter, der UN-Sonderberichterstatter für | |
Menschenrechte und extreme Armut, die Menschen in der Kirche besucht – | |
anschließend sagte er: „Was ich gehört habe, war erschütternd, denn viele | |
sind seit vielen Jahren in Belgien. Sie befinden sich in einem | |
Rechtsvakuum, während ihre Kinder hier auf die Schule gehen und sie | |
arbeiten, haben sie keine Möglichkeit, sich über die Formen der Ausbeutung | |
zu beschweren, denen sie ausgesetzt sind.“ | |
In der Cafeteria der ULB hat Ram Pallsad Khatiwda sein Smartphone | |
herausgeholt und zeigt das Bild einer Kindergartengruppe. „Siehst du das | |
Mädchen dort?“, fragt er. „Das ist meine Tochter. Sie wurde vor fünf Jahr… | |
geboren. Und sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Pass. Keinen | |
nepalesischen, keinen belgischen. Gar keinen. Und deshalb bin ich hier und | |
kämpfe.“ Nur wie lange dieser Kampf noch dauern wird, das weiß in Brüssel | |
derzeit niemand. | |
*Name auf Wunsch der Protagonist:innen geändert | |
13 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /UN-Bericht-zu-strukturellem-Rassismus/!5783330 | |
[2] /Covid-Restriktionen-in-Belgien/!5760209 | |
[3] /Mord-oder-Selbstmord-in-Belgien/!5182512 | |
[4] /Nach-Tod-eines-23-jaehrigen-Schwarzen/!5744310 | |
[5] /40-Jahre-Hungerstreik-Nordirland/!5770373 | |
## AUTOREN | |
Bartholomäus von Laffert | |
## TAGS | |
IG | |
Schwerpunkt Flucht | |
Brüssel | |
Einwanderung | |
GNS | |
Belgien | |
Geflüchtete | |
Hungerstreik | |
Frankreich | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Belgien | |
Belgien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Migrationspolitik in Frankreich: Ein Koch für die Sans Papiers | |
Spitzenkoch Thierry Marx fordert die französische Regierung auf, allen | |
Schwarzarbeitern der Gastronomie einen Aufenthaltstitel zu gewähren. | |
Menschen ohne Papiere in Brüssel: Hungerstreik ausgesetzt | |
Belgiens Regierung hat den 475 Streikenden eine individuelle Prüfung | |
versprochen. Doch ob sie ein Bleiberecht bekommen, ist offen. | |
UN-Bericht zu strukturellem Rassismus: Wiedergutmachung gefordert | |
Menschen mit afrikanischer Abstammung werden systematisch benachteiligt. | |
Dazu legte das UN-Menschenrechtsbüro einen Bericht vor. | |
Covid-Restriktionen in Belgien: Jagdszenen im Brüsseler Stadtwald | |
Belgiens Polizei geht brutal gegen die Teilnehmer einer Open-Air-Party in | |
einem Park vor. Die sollte eigentlich ein Aprilscherz sein. | |
Schwierige Regierungsbildung in Belgien: Zwei Teile, kein Ganzes | |
Seit Mai sucht Belgien eine neue Regierung. Doch Flamen und Wallonen | |
streben immer weiter auseinander – zum Beispiel in der Kleinstadt Ninove. |