# taz.de -- Schwierige Regierungsbildung in Belgien: Zwei Teile, kein Ganzes | |
> Seit Mai sucht Belgien eine neue Regierung. Doch Flamen und Wallonen | |
> streben immer weiter auseinander – zum Beispiel in der Kleinstadt Ninove. | |
Bild: Anhänger rechter Parteien protestieren in Ninove dagegen, dass diese nic… | |
Ninove/Liège taz | Fast drei Monate sind vergangen, seit sich Liesbeth | |
Homans im Städtchen Kortrijk ans Publikum wendete. „Das unterschiedliche | |
Wahlverhalten im Norden und im Süden des Landes hat sich erneut und sehr | |
kraftvoll manifestiert.“ Mit diesen Worten bezieht sich die | |
Ministerpräsidentin der im Norden Belgiens gelegenen Region Flandern auf | |
die Parlamentswahlen von Ende Mai. Sie präzisiert: „In einem Maß sogar, | |
dass die Formung einer föderalen Regierung mit einer Mehrheit in beiden | |
Landesteilen eine fast unlösbare Sache geworden zu sein scheint.“ | |
Homans sieht nicht so aus, als betrübe sie dieser Befund. Im Gegenteil: Sie | |
fordert „eine weitere Anpassung unserer Staatsstruktur“, und alle im | |
Publikum wissen, was damit gemeint ist: noch mehr Macht für Belgiens so | |
unterschiedliche Regionen, weniger für die gemeinsame Regierung. „Eine | |
Reform“, so Homans, „bei der Flamen und Frankofone festlegen, was sie noch | |
zusammen verwalten wollen, und alles Übrige muss aufgeteilt werden!“ Das | |
Publikum vor dem Rednerpult, das eine Fahne mit dem flämischen Löwen | |
umhüllt, applaudiert lange. Aufteilen, zumal wenn es um die politischen | |
Strukturen Belgiens geht, das schätzt man hier. | |
Was die kaum lösbare Regierungsbildung betrifft, hat die Politikerin der | |
seperatistischen Neu-Flämischen Allianz einen Punkt für sich. In den | |
letzten Monaten hat sich eine seltsame Stille wie eine schwere, träge | |
Wolkenschicht über das Land gelegt. Didier Reynders und Johan Vande | |
Lanotte, zwei altgediente ehemalige Minister, sind vom König mit der | |
Vermittlung beauftragt worden. Inhaltlich ist wenig über den Verlauf | |
bekannt. Doch dass ihre Chancen gering sind, haben alle Kommentatoren zu | |
Genüge betont. Anfang Oktober müssen sie am Hof Bericht erstatten. | |
Was das belgische Puzzle so komplex macht, zeigen die Grundströmungen | |
beiderseits der Sprachgrenze: Wallonien driftet nach links, Flandern nach | |
rechts. Eine Zentrifuge, über die Raoul Hedebouw so einiges zu sagen hat. | |
Seine Partei ist die einzige, die über die Sprachgrenze hinweg vereint ist, | |
auch wenn sie unter zwei Namen firmiert: Parti du Travail de Belgique heißt | |
sie im Süden, Partij van de Arbeid im Norden, abgekürzt PTB-PVDA. Sie ist | |
marxistisch orientiert, und sie befindet sich im Aufschwung. Wobei das eine | |
Untertreibung ist: von zwei auf 12 der 150 Sitze sprang sie im nationalen | |
Parlament, gewann drei flämische dazu und sieben frankofone, das beste | |
Ergebnis ihrer Geschichte. Hedebouw, mit Anfang 40 schon seit mehr als zehn | |
Jahren Parteisprecher, ist das Gesicht dieses Erfolgs. | |
## Die Teilung: Ergebnis unsozialer Politik? | |
An einem sonnigen Morgen sitzt er gut gelaunt in seinem Stammbistro. Um die | |
Ecke liegt das Parteibüro der Provinz Liège. Raoul Hedebouw sitzt im | |
Stadtrat und leitet im Brüsseler Parlament die Fraktion. Was die Gründe | |
sind für den Aufschwung seiner Partei? „Die Wirtschaftskrise, unter der die | |
Menschen leiden. Die traditionellen Parteien bieten keine Antwort darauf. | |
Zudem haben wir den PTB in den letzten zehn Jahren aufgebaut, in | |
Stadtvierteln und Betrieben. Von 2.500 ist unsere Mitgliederzahl auf 18.000 | |
gestiegen.“ | |
Regieren, soviel ist klar, wird der PTB-PVDA nicht. Auf föderalem Niveau | |
ist sie ohnehin nicht kompatibel. Regional, in der Wallonie, sind Gespräche | |
mit der Sozialistischen Partei gescheitert. „Sie haben die europäischen | |
Privatisierungsrichtlinien mitgetragen, gehen nicht gegen das Gesetz des | |
Markts an und folgen dem globalen Wind des Liberalismus“, kritisiert Raoul | |
Hedebouw die Sozialdemoraten. Der PTB-PVADA dagegen wolle zu | |
sozialpolitischen Zwecken wie dem Wohnungsbau „den Stabilitätspakt zur | |
Seite schieben, so wie man es zur Bankenrettung getan hat“. | |
Bemerkenswert ist, wie er die belgische Situation analysiert: Beiderseits | |
der Sprachgrenze drücke das Wahlergebnis Unmut über die unsoziale Politik | |
der letzten Jahre aus. In der traditionell sozialdemokratischen Wallonie, | |
geprägt von der Kultur einer starken Arbeiterklasse, kanalisiere seine | |
Partei diesen Protest. „Im tendenziell konservativen Flandern hat die | |
Rechte das Anti-Establishment-Gefühl gekapert.“ Wobei er betont, dass auch | |
der rechtsextreme Vlaams Belang im Wahlkampf auffallend auf soziale Aspekte | |
setzte. | |
Der Stillstand dieses Sommers macht Raoul Hedebouw Sorgen. Er hofft, dass | |
daraus keine Situation wie 2010/2011 wird, als Belgien anderthalb Jahre | |
ohne neue Regierung blieb. Zugleich befürchtet er, die Neu-Flämische | |
Allianz als stärkste Partei im Norden aus der Blockade Kapital schlagen | |
könne um schlussendlich zusammen mit den Sozialdemokraten über die | |
Umwandlung Belgiens in eine Konföderation zu verhandeln. Besonders | |
gefährlich nennt er die latente wirtschaftliche Krise. Acht Milliarden Euro | |
beträgt das Loch im Haushalt von 2020: „Daraus wird schnell eine politische | |
Krise, gerade wenn Nationalismus mitspielt.“ | |
## Ninove, Hochburg der Rechtsradikalen | |
Wenn die Zutaten „Krise“ und „Nationalismus“ aufeinandertreffen, denkt … | |
in Belgien schnell an Ninove. Die Kleinstadt in der Provinz Ostflandern | |
liegt im Denderland, einer Region mit hohen Sympathiewerten für die | |
flämischen Nationalisten. Ninove ist so etwas wie ein Symbol für das | |
Comeback des rechtsextremen Vlaams Belang, der vor wenigen Jahren erst von | |
der moderateren Neu-Flämischen Allianz elektoral geschluckt zu werden | |
schien. Und für die vermeintlich undemokratische Ablehnung, welche die | |
Partei vom politischen Establishment erfährt. | |
Bei den Kommunalwahlen im Jahr 2018 landete die rechte Lokalpartei Forza | |
Ninove, angeführt von Guy D’haeseleer, in Ninove einen Erdrutschsieg. Doch | |
der cordon sanitaire, das 30 Jahre alte Abkommen der übrigen flämischen | |
Parteien, nicht mit der extremen Rechten zu koalieren, blieb erhalten. | |
D’haeseleer wurde nicht Bürgermeister – und stattdessen wird Ninove nun von | |
einer ganz großen Koalition regiert. Mit dem Ergebnis, dass der Vlaams | |
Belang bei den föderalen Wahlen im Mai nur knapp unter der absoluten | |
Mehrheit blieb. | |
Aber nun müsste Vlaams Belang doch endlich regieren, so denken viele in | |
Ninove, der „Stadt mit menschlichen Maßen“, wie es auf den Aufklebern auf | |
den öffentlichen Abfalleimern im Zentrum heißt. Das findet auch der | |
Rentner, der an einem Nachmittag in der Einkaufsstraße auf seine Frau | |
wartet. Seinen Namen mag er nicht nennen, aus seiner politischen Präferenz | |
macht er dagegen keinen Hehl. „Vlaams Belang. Und es war keine | |
Protestwahl!“ Er weiß um das politische Patt in Belgien. Eine Lösung | |
erwartet er nicht. Wichtiger sei für ihm, dass endlich der cordon sanitaire | |
gegen den Vlaams Belang fällt. „Solange werden wir weiter Druck machen.“ | |
## Auch die Jugend tendiert nach rechts | |
In Ninove zeigt sich auch, wie weit der Vlaams Belang in den flämischen | |
Mainstream vorgedrungen ist. Man würde in dem jungen Mann, der einen | |
Ohrstecker trägt und ein Skateboard unter den Rucksack geklemmt, nicht | |
unbedingt jemanden vermuten, der rechtsextrem wählt. Doch genau dies tat | |
der Schüler, der sich als Ruben Van Berlamont vorstellt – und ein Neffe Guy | |
D’haeseleers ist. „Die ganze Familie hat seine Partei gewählt. Nicht nur | |
wegen ihm, sondern auch, weil hier zu viele Ausländer sind, die nur | |
Leistungen beziehen wollen.“ | |
Der 18-jährige Ruben Van Berlamont ist auch das Kind einer Zeit, in der | |
sich belgische Politik zunehmend nur noch auf ihre eigene Seite der | |
Sprachgrenze bezieht. In der es zum Normalzustand geworden ist, dass eine | |
föderale Regierung in diesem Land nur noch unter größten Komplikationen | |
entsteht. Die einst unantastbare Bedingung, dass die Regierung eine | |
Mehrheit in beiden Sprachgruppen repräsentiert, ist schon lange nicht mehr | |
unantastbar. Ist es verwunderlich, dass er, gefragt nach der Zukunft des | |
Landes, schulterzuckend sagt, es werde „schon noch mal danebengehen“. Viel | |
zu kümmern scheint es ihn ohnehin nicht. | |
„Belgien, who gives a shit?“, lautet denn auch der zynische Titel eines | |
Kommentars von Carl Devos, eines der renommiertesten Politologen des Lands, | |
in der Tageszeitung De Morgen. Mitte August hat die Neu-Flämische Allianz | |
ein Programm verabschiedet, das sie als Grundlage für | |
Koalitionsverhandlungen ansieht – in Flandern. Es stellt eine Konzession an | |
den Vlaams Belang dar, dessen Forderungen immer kompatibler werden: | |
strengere Einbürgerungsregeln, begrenzter Zugang zu Sozialleistungen für | |
Migranten, ein flämischer Kanon der Geschichte. Überhaupt ist auffällig, | |
dass die Region Flandern konsequent als „Nation“ bezeichnet wird. Auf | |
föderaler Ebene wird die Koalitionsbildung dadurch nur noch schwieriger, | |
sagt der Politologe Devos. | |
Man muss kein Prophet sein, um ihm Recht zu geben. | |
3 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
## TAGS | |
Belgien | |
Wallonien | |
Flandern | |
Nationalismus | |
IG | |
Transpersonen | |
Kulturpolitik | |
Belgien | |
Belgien | |
Junge Alternative (AfD) | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regierungskrise in Belgien: „Arizona“-Koalition wackelt | |
Der Versuch, zweieinhalb Monate nach der Parlamentswahl eine Regierung zu | |
bilden, scheitert. Streitpunkt ist die Steuerpolitik. | |
Hungerstreik in Belgien: Das letzte Mittel der Sans-Papiers | |
475 Menschen ohne Papiere befinden sich in Belgien im Hungerstreik. Sie | |
fordern ihre Legalisierung und eine Aufenthaltsrechtsreform. | |
Erste Ministerin mit Transhintergrund: Belgien strahlt in Blau-Pink-Weiß | |
Mit Petra de Sutter von den Grünen hat Belgien die erste trans Frau in | |
einem Ministeramt. Die Medizinerin ist auch stellvertretende Premier. | |
Budgetkürzung in Belgien: Kulturkampf der Rechten | |
Die flämische Regierung hat das Budget für Kultur gekürzt, die für eine | |
offene Gesellschaft steht. Die Szene protestiert. | |
Regierungsbildung in Belgien: König Philippe vor Scherbenhaufen | |
Fast ein halbes Jahr nach den Wahlen gibt es noch keine Regierung. In | |
Brüssel spekuliert man schon über Neuwahl-Termine. | |
Parlamentswahlen in Belgien: Die Kluft wird größer | |
Im flämischen Landesteil verzeichnen die Rechtsextremen starke Zuwächse. | |
Der Rest des Landes wiederum rückt weiter nach Links. | |
Mobilisierung vor der Europawahl: Rechte Jugend trifft sich in Rom | |
Europas rechtspopulistischer Nachwuchs kommt Ende März in Rom zusammen. Die | |
Jungpolitiker wollen sich miteinander vernetzen. |