| # taz.de -- Holocaustfilm „The Zone of Interest“: Jenseits der Mauer | |
| > Unsere Autorin und ihr Partner arbeiteten am Set des Films „The Zone of | |
| > Interest“ in Auschwitz. Sie erkundete die Umgebung. Was haben sie erlebt? | |
| Bild: Hinter der Mauer das Grauen: Für den Film wurde der Garten der Familie H… | |
| Es ging alles sehr schnell. Im Mai 2021 erhielt mein Partner Lukas | |
| unerwartet das Angebot, von jetzt auf gleich als Assistent des britischen | |
| Regisseurs Jonathan Glazer an dessen neuem Filmprojekt mitzuarbeiten: | |
| [1][„The Zone of Interest“]. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in | |
| Elternzeit. Wir beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn ich und unsere | |
| neun Monate alte Tochter ihn begleiten würden. Nach ein paar Telefonaten | |
| war klar: Wir würden die nächsten Monate in Polen verbringen, wo der | |
| Großteil der Dreharbeiten geplant war. Genauer in der Stadt Oświęcim, zu | |
| deutsch Auschwitz. | |
| Am Anfang wussten wir wenig über das Projekt. Nur, dass es sich um einen | |
| Film über Rudolf Höss, den SS-Kommandanten von Auschwitz, handelt. Und um | |
| sein beschauliches Leben mit Frau und Kindern in einem Wohnhaus direkt | |
| neben dem größten Vernichtungslager der Nazis. | |
| Wir sind Glazer-Fans. Der jüdische Regisseur, 58 Jahre alt, wurde einst | |
| bekannt mit erfolgreichen Werbespots und Musikvideos. Seit 2000 macht er | |
| Spielfilme. Mit „The Zone of Interest“, seinem vierten Film, wurde er | |
| erstmals zum [2][Filmfestival von Cannes] eingeladen und gewann dort den | |
| Großen Preis der Jury. Ab dem 29. Februar läuft der Film in deutschen | |
| Kinos. | |
| Damals begeisterte uns die Vorstellung, Glazers Arbeit aus nächster Nähe | |
| verfolgen zu können. Außerdem war es ein wichtiger Schritt für Lukas’ | |
| Karriere. Doch ich empfand auch eine eisige Angst. Davor, dass die | |
| Erinnerung an den ersten Sommer meiner Tochter für immer von einem | |
| grausamen Ort des Holocaust geprägt sein könnte. Ich stellte es mir dort | |
| grau, schwer und traurig vor. Und ich fürchtete die Auswirkungen auf uns | |
| als Familie. | |
| Als wir ankamen, erwarteten wir eine Geisterstadt und verhielten uns | |
| zunächst auch so: ängstlich und vorsichtig. Lukas begann seine | |
| Probenarbeit, ich erkundete die Stadt. Eine Beobachtung erstaunte mich | |
| sehr: die Abwesenheit der Spuren des Holocausts. | |
| Oświęcim ist ein nettes historisches Städtchen, voller Cafés, Eisdielen und | |
| Parks. In der Nähe der Altstadt, auf einem Hügel, steht ein | |
| mittelalterlicher Burgturm. Darunter erstreckt sich am Ufer der Soła eine | |
| idyllische Promenade, wo sich nachmittags Jugendliche treffen und Kinder | |
| spielen. Auf den Spielplätzen, die ich besuchte, erzählte ich einigen | |
| neugierigen Müttern, warum wir da waren. Ich bemerkte schnell eine gewisse | |
| Genervtheit über das anhaltende Interesse von Außenstehenden am Holocaust. | |
| Auch die Kulturverwaltung der Stadt scheint darum bemüht, ihr Image von | |
| dieser Zeit zu befreien: Schwarz-Weiß-Fotos auf Plakatwänden erinnern an | |
| eine glückliche Zwischenkriegszeit. Bunte Wandbilder verbreiten | |
| Friedensbotschaften. Wöchentlich finden Musikveranstaltungen statt, die | |
| Menschen von überall aus der Region anziehen. Die Atmosphäre erschien mir | |
| so zwanghaft harmonisch, dass ich das Gefühl hatte, in einer „Truman Show“ | |
| zu sein. Irgendetwas stimmte nicht. | |
| In Oświęcim zu drehen, war eine bewusste Entscheidung von Glazer. Viele | |
| seiner Werke bewegen sich zwischen Realität und Fiktion. In „The Zone of | |
| Interest“ machen die Originalschauplätze den Film besonders authentisch, | |
| künstlerische Produktion und reale Geschichte sind eng miteinander | |
| verwoben. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Dinge genau so ereignet | |
| haben, wie sie erzählt werden, oder nicht. Was das Werk ausmacht, ist: Hier | |
| und so lebten Rudolf und Hedwig Höss. An den Ufern dieses Flusses machten | |
| sie Picknicks und brachten den Kindern das Fischen bei. In den Geschäften | |
| auf diesem Platz gingen sie einkaufen. Hier baute Hedwig den Garten ihrer | |
| Träume, in dem sie Freunde empfing und Geburtstage feierte. Hier machte | |
| Rudolf Karriere, wurde ein angesehener Angestellter. | |
| ## Eingeschlossene jüdische Geschichte | |
| Die beiden führten ein gewöhnliches Leben, mit einer Ausnahme: Um es | |
| genießen zu können, mussten sie die Augen verschließen, vor den Taten und | |
| Umständen, die ihnen dieses Leben überhaupt ermöglichten. | |
| Im heutigen Oświęcim wird die Erinnerung an den Holocaust so behandelt, als | |
| sei sie der Stadt fremd. Als sei das Böse nur auf der anderen Seite des | |
| Flusses geschehen, dort, wo das Konzentrationslager erbaut wurde. Und nicht | |
| nur das. Auch die vergrabene Schicht einer dichten und komplexen jüdischen | |
| Geschichte, die die Region jahrhundertelang geprägt hatte, entdeckte ich | |
| nur eingeschlossen in Museen. | |
| Ich war überrascht, dass zur Zeit des Einmarsches der Nazis mehr als 50 | |
| Prozent der Bürger von Auschwitz jüdisch waren. Sie waren PolitikerInnen, | |
| Kaufleute, Kutscher, ErzieherInnen. In einer einzigen Straße im | |
| Stadtzentrum gab es drei Synagogen, insgesamt mehr als zwanzig in der | |
| Region. Auch das Hotel, in dem der Großteil des Filmteams wohnte, war einst | |
| das Haus und die Schnapsfabrik einer einflussreichen jüdischen Familie | |
| gewesen. | |
| Heute gibt es von diesem reichen jüdischen Leben fast keine physischen | |
| Spuren mehr. Keine Straßennamen, nur wenige Denkmäler. In dem Bemühen, sich | |
| vor den Erinnerungen an den Holocaust zu schützen, hat Oświęcim auch einen | |
| Großteil der Erinnerung an seine jüdischen Bürger aufgegeben. | |
| Als ich das Museum und die Gedenkstätte [3][Auschwitz-Birkenau] besuchte, | |
| rief der Ort nicht die Gefühle hervor, die ich erwartet hatte. Die Fülle | |
| von Fotos, Gegenständen und Dokumenten, die auf umfassende, geordnete und | |
| unbestreitbare Weise die Geschichte des größten nationalsozialistischen | |
| Vernichtungslagers abbilden, erfüllen zwar die wichtige Aufgabe, die | |
| Erinnerung an die Opfer zu bewahren und das Bewusstsein nachfolgender | |
| Generationen zu schärfen. Aber sie sind nicht in der Lage, unsere Ignoranz | |
| vollends zu durchbrechen. So war da nach dem Rundgang nur: Mitleid. Ein | |
| passives Gefühl, das mich von Schuld und Verantwortung für das Grauen | |
| abkoppelte. In ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“ beschreibt Susan | |
| Sontag diese Distanz: „Wenn wir gegenüber Bildern von Kriegsopfern | |
| Mitgefühl empfinden, fühlen wir uns nicht mitschuldig an der Ursache ihres | |
| Leidens. Unser Mitgefühl verkündet unsere Unschuld, aber auch unsere | |
| Ohnmacht“. | |
| Eines Tages besuchte ich mit meiner Tochter in der Trage den Hauptdrehort: | |
| das Haus der Familie Höss. Da das ursprüngliche Haus bewohnt ist, hatte man | |
| das Set in einem anderen, nahegelegenen Haus aufgebaut. Im zweiten Stock | |
| führte die erste Tür in das Schlafzimmer der Töchter des Paares. Rosa | |
| Bettzeug, ein Babybett aus Holz, Puppen und Märchenbücher. Der Alltag einer | |
| Familie, es kam mir so vertraut vor. Vom Fenster aus hätte man nur noch den | |
| Rauch aus dem Krematorium sehen, die Schreie der Gefangenen hören und den | |
| Geruch der verbrannten Körper riechen müssen. Ich stellte mir Kinder vor, | |
| die in diesem Zimmer zum Klang jener Schreie und dem Gestank des Todes | |
| spielten. | |
| Hinter dem Haus lag der Garten, auf den Hedwig Höss so stolz war. Um ihn | |
| nachzubilden, wurden mediterrane Pflanzen, Obstbäume und mehr als 40 | |
| Blumensorten gepflanzt. An diesem heißen Julinachmittag flogen Bienen und | |
| Schmetterlinge zwischen ihnen umher. In der rechten Ecke ein Gewächshaus | |
| und in der Mitte ein Schwimmbecken mit Rutsche. Der perfekte Garten Eden, | |
| geschützt durch eine hohe Mauer. Was hinter der Mauer des echten Wohnhauses | |
| geschah, wird im Film nur angedeutet. Eine Vision von Auschwitz ohne seine | |
| Opfer. | |
| Banalität des Familienalltags | |
| Mathew Brady, einer der ersten Kriegsfotografen, sagte einmal, die Kamera | |
| sei das Auge der Geschichte. Und Fotografen sollten wie Spione Menschen | |
| beobachten, die sich unbeobachtet fühlen. Genau das war Glazers Absicht: Er | |
| ließ überall am Set versteckte Kameras installieren, damit sich die | |
| Schauspieler möglichst ungestört in ihren Rollen durch das Haus bewegen | |
| konnten. Es ist gerade die Banalität des Alltags dieser Familie, die Glazer | |
| mit seiner akribischen Beobachtung so einfangen konnte. Das Verbrechen | |
| jenseits der Mauer und Höss’ Position als Drahtzieher der größten | |
| NS-Vernichtungsmaschine geben dem Banalen den grausamen Rahmen. | |
| Trotzdem habe ich auch schöne Erinnerungen an die Zeit in Oświęcim. Das | |
| verstehen viele nicht. Sie können sich nicht vorstellen, dass ich an diesem | |
| Ort auch Momente des Glücks erfahren habe. Doch die Wahrheit ist: Während | |
| ich Freunde fand, während meine Tochter ihre ersten Schritte machte, | |
| während ich KünstlerInnen wie Mica Levi oder Sandra Hüller begegnete, war | |
| ich abgelenkt. Ich lebte mein Leben, ohne andauernd an das Grauen der | |
| Geschichte zu denken. | |
| Darin lag für mich eine wichtige Erkenntnis. Es ist einfacher, die Augen | |
| vor den Tatsachen zu verschließen, als genau hinzuschauen, die Zeichen des | |
| Terrors als solche zu erkennen, sich ihnen zu stellen. Und genau darin | |
| liegt die Gefahr. Das Erschreckendste, das „The Zone of Interest“ zeigt, | |
| ist dass die ProtagonistInnen, die TäterInnen und MittäterInnen des | |
| Holocausts, eben nicht nur abstrakte Monster waren. Sie waren ganz | |
| gewöhnliche Menschen, die sich nach Anerkennung sehnten und ein bequemes | |
| Leben suchten. Und die sich für die Normalisierung des Grauens | |
| entschlossen, das Ignorieren ihrer Verantwortung und die Nicht-Reflexion | |
| ihres Tuns. Es sei uns als Gesellschaft eine Lehre: Ignoranz und | |
| Entfremdung sind der Funke des Bösen. | |
| 25 Feb 2024 | |
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