# taz.de -- Hörbuch über Pynchon-Roman: Den Krieg durch Wirrnis besiegen | |
> Passend zum Jahrestag der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg: | |
> Eine Hörbuch-Produktion von Thomas Pynchons Roman „Die Enden der | |
> Parabel“. | |
Bild: Verwüstung nach Angriff von deutschen V-2 Raketen auf London im November… | |
So könnte man sich die Handlung des nächsten tausendseitigen | |
Thomas-Pynchon-Romans vorstellen: Ein Hörspielregisseur macht aus einem | |
tausendseitigen Thomas-Pynchon-Roman mit vierhundert Figuren ein Hörspiel, | |
verschanzt sich jahrelang im Studio, versucht, die sich in alle Richtungen | |
ausbreitenden Handlungsstränge, die so traumlogisch, absurd und sprunghaft | |
sind, dass sie nur mit großer Großzügigkeit als „Handlungsstränge“ | |
bezeichnet werden können, zu fassen zu bekommen. | |
Wäre dieser Hörspielregisseur eine fiktive Figur Pynchons, würde er bei dem | |
Versuch scheitern und zwischen Roman und Realität wahnsinnig werden. Aber | |
Klaus Buhlert ist keine Pynchon-Figur, sondern er arbeitet für den | |
Südwestrundfunk und er ist nicht gescheitert. | |
[1][„Die Enden der Parabel“] – im US-Original „Gravity’s Rainbow“ �… | |
Monstrum von einem Buch, ein vorsätzlich überlanges, fahriges, paranoides | |
Panorama des Zweiten Weltkriegs, das mit unnachgiebigem | |
Überwältigungswillen eine aus den Fugen geratene Welt abbildet. Nach seinem | |
Erscheinen 1973 wurde dem Roman noch mit Verweis auf seine Obszönität und | |
angebliche Unlesbarkeit der Pulitzer-Preis verweigert, längst ist er als | |
Meilenstein der literarischen Postmoderne kanonisiert. Damit fällt es in | |
Buhlerts Beuteschema, der hiermit, nach „Moby Dick“, „Ulysses“ und „D… | |
Mann ohne Eigenschaften“, seine nächste Hörspieladaption eines sehr | |
männlichen Mammutwerks der Weltliteratur vorlegt. | |
## Es beginnt mit einem Geräusch | |
Sie beginnt, wie das Buch, mit einem Geräusch: „Ein Heulen über dem | |
Himmel.“ Das Heulen der deutschen Raketen, die in London einschlagen. Ihr | |
Einschlag ist das eine Ende der Parabel, ihr Abschuss das andere. | |
Zerstörung als grafisch dargestellte Funktion, ein Regenbogen, von der | |
Schwerkraft geformt. Die Gesetze der Physik bleiben intakt, könnte man also | |
meinen. Was hochsteigt, fällt wieder herunter. Aber: Erst schlägt die | |
Rakete ein, dann heult sie über den Himmel. Denn sie ist so schnell, dass | |
man sie erst kommen hört, wenn sie bereits explodiert ist. Diese Umkehrung | |
von Ursache und Wirkung ist die Schlüsselfigur von Pynchons Roman. Sie ist | |
der Nukleus einer Welt, in der die Mitte nicht mehr hält. | |
Lange hat sich SWR-Dramaturg Manfred Hess um die Rechte an „Gravity’s | |
Rainbow“ bemüht. Der Autor selbst hat schließlich sein Okay gegeben. Bisher | |
durfte nur der große Regisseur Paul Thomas Anderson einen Pynchon-Roman, | |
„Inherent Vice“, adaptieren. Hat man Pynchon gesagt, dass Buhlert der Mann | |
vom „Mann ohne Eigenschaften“-Hörspiel ist? Fand er sicher gut. | |
„Die Enden der Parabel“ leuchtet als Hörspiel ein, zumindest mehr als eine | |
Film- oder Serienadaption. Die rasanten Perspektivwechsel der Romanvorlage | |
verwandelt Buhlert buchstäblich in Vielstimmigkeit, er lässt drei Dutzend | |
Schauspieler in atemloser Abfolge raunen, knurren und schreien, schneidet | |
stürmisch von einer Figur zur anderen, wechselt in Sekundenschnelle von | |
nahem Flüstern zu fernem Rufen: die Übersetzung von Pynchons Prosa in | |
desorientierende Soundcollagen. Die Vielfältigkeit der Effekte, durch die | |
Buhlert seine Schauspielerstimmen jagt, entfaltet vor allem auf Kopfhörern | |
eine konfuse Kraft. | |
## Kneipenjazz und Scheibenwischer | |
Szenische Geräusche und Musik setzt er wirkungsvoll ein; Kneipenjazz und | |
Scheibenwischer, Meeresrauschen und Explosionen, Klonken und Klackern. | |
Buhlerts Hörspiel läuft über 13 Stunden, es fordert, wie das Buch, Arbeit, | |
Aufmerksamkeit und Konzentration, und ob sich die Investition lohnt, hängt | |
davon ab, wie gut man mit Unklarheit umgehen kann. | |
Denn das, je nach Betrachtung, Frustrierende oder Faszinierende bei den | |
„Enden der Parabel“ ist, dass ihre Handlungsstränge nicht zusammenfinden, | |
sondern im Laufe des Geschehens nur weiter auseinandertreiben, dass Figuren | |
einfach verschwinden, dass die Dinge eben nicht klarer werden, sondern nur | |
weiter verschwimmen. | |
Im Grunde ist Pynchons Projekt auch eine Umkehrung: Versteht man die | |
künstlerische Betätigung als den Versuch, der Willkür und Grausamkeit des | |
Lebens eine Form abzutrotzen, ist Pynchon der Anti-Künstler, der nur noch | |
mehr Wirrnis in die Welt setzt. Das Leben hat keine Ordnung, warum sollte | |
es sie in der Literatur geben? | |
Buhlert hat die Vorlage gestutzt, hat sie auf die wesentlichen Elemente – | |
oder auf die Elemente, die als wesentlich identifizierbar sind – reduziert. | |
Auf den US-Soldaten Slothrop zum Beispiel, dessen Penis als Frühwarnsystem | |
für Raketenschläge fungiert, seit er als Kind Versuchskaninchen | |
durchgeknallter Pawlowianer war. Denn, ach ja: In den „Enden der Parabel“ | |
regiert neben Wirrnis und Willkür auch der Witz. | |
8 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jan Jekal | |
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