| # taz.de -- Herbst der Reformen: Wenn jemand immer wieder Nein sagt | |
| > Die Bundesregierung plant einen Herbst der Reformen – und eine neue Härte | |
| > beim Bürgergeld. Dabei steht eine Figur im Mittelpunkt, die es kaum gibt. | |
| Bild: Was es zum würdevollen Leben braucht, muss bleiben, auch wenn ein Erwerb… | |
| Eine berühmte Erzählung von Herman Melville handelt von einem | |
| Schreibgehilfen namens Bartleby, der bei einem New Yorker Notar in bester | |
| Lage anheuert. Die ihm übertragenen Aufgaben erfüllt Bartleby stets zur | |
| vollsten Zufriedenheit – bis er eines Tages alle weiteren Aufträge ablehnt, | |
| höflich, aber bestimmt mit den knappen Worten: „Ich möchte lieber nicht.“ | |
| Erstaunlicherweise nimmt sein Dienstherr die Verweigerung einfach hin wie | |
| einen Wetterumschwung. Mehr noch: Er entschließt sich zur Übernahme der | |
| Wohnkosten, indem er Bartleby in der Kanzlei nächtigen lässt. Ob Bartleby | |
| seine finanziellen Verhältnisse offengelegt hat, ist unklar. Dass er für | |
| Vermittlungsbemühungen zur Verfügung steht, schwer vorstellbar. | |
| Der Bartleby unserer Tage findet sich in der Kundenkartei der Bundesagentur | |
| für Arbeit. Monat für Monat streicht er sein Bürgergeld ein, aber lässt | |
| sich sonst nicht blicken. Briefe bleiben unbeantwortet, Termine | |
| verstreichen ergebnislos. Manche Interpreten romantisieren Melvilles Figur | |
| zum mutigen Rebellen gegen die seelischen Verkrüppelungen der modernen | |
| Arbeitswelt, dabei bleiben Bartlebys Wiedergängern solche Attribute im | |
| Rechtskreis des SGB II solche Attribute konsequent verwehrt. | |
| Durch die Debatten über die Zukunft des Bürgergeldes geistert jedenfalls | |
| seit einigen Monaten die Schandfigur des Totalverweigerers, der als | |
| Rechtfertigung für ein strengeres Sanktionsregime herhalten soll. | |
| Selbst jene, die sich im jetzt angedrohten Herbst der Reformen schützend | |
| vor den Sozialstaat stellen, lassen unterschwellig erkennen, dass sie den | |
| Totalverweigerer für eine verwerfliche Gestalt halten. Schließlich besteht | |
| ihr Diskussionsbeitrag darin, das Gros der Leistungsempfänger eilig von dem | |
| Verdacht freizusprechen. Es stimmt ja auch: Nur eine winzige Minderheit | |
| entzieht sich den Ämtern, im Jahr 2023 ließen sich gerade einmal 14.000 | |
| Fälle ausmachen, bei Millionen Leistungsbeziehern. | |
| Und unter diesen wenigen Fällen dürfte man wiederum lange nach dem | |
| [1][Arno-Dübel-Double] suchen, das bestens gelaunt in den Tag hineinlungert | |
| und jederzeit bereit wäre, im Privatfernsehen ungeniert von seiner | |
| Arbeitsunlust zu berichten. Im Gegenteil: Die meisten sind eher geschlagene | |
| Menschen, die vor lauter Angst die Briefe der Arbeitsagentur nicht öffnen, | |
| bis sie zum Fall in der Statistik werden, weil sie wiederholt nicht | |
| erreichbar waren. | |
| Sie scheuen jede Fernsehkamera. Sie erheben nicht einmal ihre Stimme, um | |
| das schräge Zerrbild als hinterhältige Leistungserschleicher | |
| geradezurücken, das hier so munter von ihnen gezeichnet wird. Aber wenn der | |
| fröhliche Transferempfänger ohne Pflichtgefühl und mit innerer Freiheit | |
| eine so randständige Erscheinung ist, warum lässt man sich von ihm so | |
| verrückt machen? | |
| Warum akzeptiert man seinen Weg nicht als einen, den der Sozialstaat eben | |
| auch zulässt? Alle utopisch geführten und mittlerweile verstummten Debatten | |
| über das [2][bedingungslose Grundeinkommen] gingen vom Totalverweigerer | |
| aus: Nichts sollte man tun müssen, um ein Grundeinkommen zu erhalten. | |
| Wahrscheinlich hat man diese Prämisse nur deswegen geschluckt, weil alle | |
| Mittelschichtsmenschen und alle Millionäre das Geld ebenfalls bekommen | |
| sollten. Die Variante, in der nur die Bedürftigen Geld erhalten, für das | |
| sie nichts tun müssen, erweist sich dagegen als bemerkenswert leicht | |
| skandalisierbar. | |
| Man könnte den Verdruss nachvollziehen, wenn sich ein Transferempfänger | |
| durch Verweigerung tatsächlich besser stellen würde. Warum sollte jemand, | |
| der jedes Jobangebot ablehnt, mehr haben als derjenige, der jeden Tag | |
| ranklotzt? Die Wahrheit ist: Hat er auch nicht. Das haben sowohl das | |
| [3][Ifo-Institut] als auch die [4][Hans-Böckler-Stiftung] berechnet. | |
| Trotzdem wird die Legende vom Arbeitenden, der der Dumme ist, weiter und | |
| weiter ventiliert, weil sie den Totalverweigerer zum Staatsfeind aufbläst, | |
| der mit aller Härte bekämpft werden muss. | |
| ## Kürzungen bei hartnäckiger Verweigerung zulässig | |
| Dabei hat das Bundesverfassungsgericht der Politik Grenzen gesetzt: Der | |
| Staat darf Armen nicht ohne Weiteres das Existenzminimum wegkürzen, hat | |
| Karlsruhe 2019 entschieden. Was es zum würdevollen Leben braucht, muss | |
| bleiben, auch wenn ein Erwerbsloser nicht so will wie die Fallmanagerin im | |
| Jobcenter. Im Umkehrschluss heißt das: Es gibt ein Grundmaß an sozialer | |
| Sicherung, das nicht an Bedingungen geknüpft sein sollte. Wobei die Richter | |
| allerdings nicht konsequent waren und zumindest in absoluten Ausnahmefällen | |
| sehr hartnäckiger Verweigerung einen drastischen Leistungsentzug für | |
| zulässig erachteten. | |
| Dass die schwarz-rote Koalition bei der Suche nach einem neuen, stärker | |
| stigmatisierenden Namen für das Bürgergeld nun ausgerechnet auf | |
| Grundsicherung kam, ist insofern nicht ohne Ironie: Das Etikett impliziert, | |
| dass die Totalverweigerung ab einem bestimmten Punkt in Ordnung gehen | |
| sollte. Wo der Grund erreicht ist, darf man den Leuten nicht weiter den | |
| Boden entziehen. Das zeigt, dass der vermeintlich dreiste Totalverweigerer | |
| längst einen Preis zahlt: Es ist ein Leben am Minimum, das für die | |
| wenigsten auf Dauer attraktiv sein dürfte, auch weil Arbeit nicht nur | |
| erwiesenermaßen mehr Geld bringt als Nichtstun, sondern für die meisten | |
| Menschen auch Sinn und Freude stiftet. | |
| Aber wer sich aus freien Stücken für den Verzicht entscheidet und damit | |
| glücklich werden kann – warum nicht? Warum sollte unser Ideal nicht ein | |
| freundlicher Sozialstaat sein, der allen hilft, eine würdevolle Arbeit zu | |
| finden, aber niemanden dazu zwingt? | |
| Natürlich könnte er mit Anreizen nachhelfen, damit sich nicht allzu viele | |
| aus der Vermittlung ausklinken, etwa durch Bonuszahlungen. Die | |
| selbstbestimmten Verweigerer würde er aber in Frieden lassen, und jenen, | |
| die aus Angst und Niedergeschlagenheit Briefe nicht öffnen, mit Hilfe | |
| begegnen statt mit Härte. Vielleicht wüsste Bartleby hier sogar Rat, wie | |
| die Kontaktaufnahme gelingen kann: Vor seiner Karriere als Totalverweigerer | |
| soll er in einer Sammelstelle unzustellbarer Briefe gearbeitet haben. | |
| 2 Sep 2025 | |
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| [3] https://www.ifo.de/pressemitteilung/2024-01-17/arbeit-fuehrt-deutschland-im… | |
| [4] https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-009197 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernd Kramer | |
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