# taz.de -- Grünen-Chefin Ricarda Lang über Ampel: „Jede Krise ist meine Kr… | |
> Ricarda Lang kämpft für die Grünen als soziale Partei. Ein Gespräch über | |
> FDP-Nervereien, Lehren aus der Berlin-Wahl und Hass, der ihr | |
> entgegenschlägt. | |
Bild: „Die Entscheidung, Parteichefin zu werden, habe ich noch nie ernsthaft … | |
wochentaz: Frau Lang, Sie sind seit rund einem Jahr [1][Parteivorsitzende | |
der Grünen]. Wie oft fragen Sie sich, warum Sie sich das alles antun? Den | |
Hass im Netz, den Stress und dann auch noch die ganzen Probleme mit | |
Christian Lindner. | |
Ricarda Lang: Sehr selten. Natürlich: Wenn ich morgens um 6 Uhr im | |
Interview mit dem Deutschlandfunk über den Koalitionsausschuss am Abend | |
davor spreche, während mein Partner weiterschlafen darf, frage ich mich das | |
schon manchmal. Aber die Entscheidung, Parteivorsitzende zu werden, habe | |
ich noch nie ernsthaft bereut. | |
Wie kommt das? | |
Wir stellen gerade viele wichtige Weichen. Es würde mir viel schwerer | |
fallen, nur danebenzustehen. | |
Die Bundesregierung hält die Klimaziele nicht ein – trotz grüner | |
Regierungsbeteiligung. Was bedeutet das für Sie als Partei, aber auch für | |
das Vertrauen in die Demokratie? | |
Manchmal fühlt es sich so an, als hätte man einen Rucksack aufbekommen mit | |
Steinen drin, all den Versäumnissen aus 16 Jahren der Großen Koalition, und | |
soll eine Felswand hochklettern. Dann fängt es auch noch an zu regnen, weil | |
sich die weltpolitische Lage durch den Krieg in der Ukraine so dramatisch | |
geändert hat. Man kommt also langsamer voran, als man sich das vorgestellt | |
hat. Man muss Pausen machen und Umwege gehen. Aber man hat weiterhin das | |
Ziel, oben anzukommen. Stehen bleiben ist keine Option. | |
Und das heißt was? | |
Um im Bild zu bleiben: dass wir alles an Kraft und Ausrüstung brauchen, was | |
wir mobilisieren können. Bisher fehlt dafür allerdings in Teilen die | |
Bereitschaft. Alle erzählen: Ja, wir wollen die Klimaziele erreichen. | |
Manche drucken es sogar groß auf ihre Wahlplakate. Wenn es dann aber | |
konkret wird, wird es leise. So hat beispielsweise der Verkehrsminister | |
noch immer nicht erklärt, wie es gelingen soll, die Ziele von Paris in | |
seinem Sektor zu erreichen. Der Realität und Ernsthaftigkeit der Klimakrise | |
wird das nicht gerecht. | |
Der Frust der Klimabewegung trifft auch die Grünen. | |
Während der Auseinandersetzung um Lützerath habe ich viel über Kompromisse | |
nachgedacht und ich glaube, dass es zwei Wahrheiten gibt: Es stimmt, wenn | |
wir sagen, dass wir Grüne viel mehr rausgeholt haben, als ohne uns denkbar | |
gewesen wäre – insbesondere den Kohleausstieg 2030 im Westen. Gleichzeitig | |
hat die Klimabewegung auch recht, wenn sie sagt, dass mit Blick auf die | |
wissenschaftlichen Erkenntnisse mehr passieren muss. Ich sehe das auch so. | |
Es braucht eben unterschiedliche Rollen: die einen, die Kompromisse | |
schließen, und die anderen, die Druck machen. | |
Sie finden sich mit ihren begrenzten Möglichkeiten ab? | |
Ich arbeite täglich dafür, dass Deutschland klimaneutral wird. Ich sehe ja | |
auch, was wir bewegen, etwa beim Ausbau der Erneuerbaren. Aber: Mit dem | |
Gang ins Parlament und meiner Bewerbung um den Parteivorsitz habe ich mich | |
sehr bewusst dafür entschieden, im Rahmen der demokratischen | |
Kompromissfindung zu arbeiten, also in den gegebenen Mehrheiten das | |
Bestmögliche rauszuholen. Und in Zukunft die Mehrheiten zu verändern. | |
Welche Lehren ziehen Sie aus der Wahl in Berlin, wo die Grünen als | |
Drittplatzierte wohl aus dem Senat fliegen? | |
Wir wollten in Berlin weiter Verantwortung übernehmen, denn die Stadt | |
braucht mehr Mieterschutz, eine moderne Verwaltung und gute Klimapolitik. | |
Dass es nun voraussichtlich zu einer Rückschrittskoalition aus CDU und SPD | |
kommt, ist nach dem Wahlkampf von Franziska Giffey zwar nicht überraschend, | |
aber bedauerlich – vor allem für die Stadt. | |
War es ein Fehler, dass sich die Berliner Grünen im Wahlkampf auf die | |
Kernthemen versteift haben? | |
Es ist in Berlin gelungen, ein Rekordergebnis zu stabilisieren. Bei einer | |
derart schwierigen Ausgangslage, noch dazu in einer Wahlwiederholung, war | |
das alles andere als ein Selbstläufer. Im Bund wiederum müssen wir | |
zweierlei immer wieder deutlich machen: Dass wir tragfähige Lösungen für | |
die Breite der Gesellschaft haben. Und dass wir mehr als Klimaschutz | |
können. Wer ein Land führen will, ist Ansprechpartner für alles, von | |
sozialer Gerechtigkeit bis innerer Sicherheit. | |
Bislang hat die Ampel viele Konflikte mit einem „Sowohl-als-auch“-Kurs und | |
viel Geld abgeräumt. Tankrabatt für die einen, Neun-Euro-Ticket für die | |
anderen etwa. So geht das aber nicht weiter. | |
Sie spielen auf die Entlastungen an, die in der Krise gut und richtig | |
waren. Wir haben große Pakete geschnürt und viel Geld in die Hand genommen, | |
damit das Land gut durch die Krise kommt. Aber klar, das war unmittelbare | |
Krisenpolitik. In einer angespannten Haushaltslage müssen wir uns über die | |
Prioritäten verständigen. | |
Was sind Ihre? | |
Eine grüne Priorität ist die soziale Gerechtigkeit. Jedes fünfte Kind in | |
Deutschland wächst in Armut auf. Das nimmt nicht nur Chancen, sondern | |
verhindert auch gesellschaftliche Teilhabe. Darum muss und wird die | |
Kindergrundsicherung kommen, in dieser Legislatur. Es reicht einfach nicht, | |
aus Gründen der Sparsamkeit ein neues Etikett namens “Kindergrundsicherung“ | |
auf die alten Probleme draufzupacken, strukturell aber nichts zu verändern. | |
Das würde für die drei Millionen armen Kinder in diesem Land rein gar | |
nichts verbessern. | |
Was muss für Sie mindestens erfüllt sein, damit die | |
[2][Kindergrundsicherung] kein Etikettenschwindel wird? | |
Aktuell erhalten viele Familien gar nicht die Leistungen, die ihnen | |
zustehen. Das wollen wir ändern und dafür sorgen, dass alle Kinder | |
tatsächlich erreicht werden – und diejenigen mit dem größten Bedarf besser | |
abgesichert werden. | |
Die zwölf Milliarden Euro, die die Grünen dafür fordern, will | |
Finanzminister Lindner nicht hergeben. | |
Zwölf Milliarden klingen erst einmal nach viel, aber gerade im Verhältnis | |
zu den deutlich höheren Summen, die wir etwa für die Bundeswehr ausgeben, | |
muss klar sein: Die äußere Sicherheit darf nicht gegen inneren Zusammenhalt | |
ausgespielt werden. | |
Aber das Geld muss irgendwo herkommen. Die Grünen fordern höhere Einnahmen | |
– was genau ist dabei Ihr Mittel der Wahl? | |
Ich bin da offen für Ideen, ob beim Thema Steuern oder beim Abbau | |
umweltschädlicher Subventionen. Wir müssen in der Koalition darüber | |
sprechen, und das tun wir nicht in Interviews. Ich warte noch auf die | |
Vorschläge des Finanzministers. | |
Die FDP sagt, die Grünen sollen Sparvorschläge aus ihren Ressorts machen. | |
Wenn Sie so sehr für die Kindergrundsicherung kämpfen: Besteht nicht die | |
Gefahr, dass Sie bei grünen Kernthemen Abstriche machen müssen? | |
Für mich war und ist soziale Gerechtigkeit ein Kernthema der Grünen. Im | |
Übrigen eint uns in der Koalition die Überzeugung, dass es gleiche Chancen | |
für alle Kinder braucht. Insofern bin ich optimistisch, dass wir das | |
notwendige Geld dafür in die Hand nehmen werden. | |
Und wenn es doch auf den Konflikt Soziales oder Klima hinausläuft – was | |
sagen dann die Realos bei den Grünen? | |
Dass soziale Gerechtigkeit das Thema eines Flügels wäre, haben wir zum | |
Glück lange hinter uns gelassen. | |
Die Ampel streitet auch über schnellere [3][Planungsverfahren für | |
Autobahnen]. Da ist auch keine Annäherung in Sicht? | |
Wir arbeiten dran. Es würde uns allen guttun, weg von einer moralischen | |
Debatte hin zu einer sehr konkreten zu kommen. Wir haben begrenzte | |
Ressourcen und begrenztes Personal. Wir müssen überlegen, wo wir beides | |
einsetzen. Es gibt tausende marode Brücken im Land, der Ausbau der | |
Erneuerbaren und des Schienennetzes muss beschleunigt werden. Nur zu sagen, | |
alles müsse beschleunigt werden, hilft nicht. Priorität muss die | |
Infrastruktur haben, die uns auf dem Weg zur Klimaneutralität voranbringt – | |
nicht die, die vielleicht sogar das Gegenteil erreicht. | |
Nach dem ersten Jahr als Parteivorsitzende: Gibt es etwas, das Sie gerne | |
vorab gewusst hätten? | |
Der Krieg hat vieles auf den Kopf gestellt. Plötzlich waren wir mitten in | |
der Krise. Was für mich eine sehr intensive neue Erfahrung war: Am Ende ist | |
jede Krise deine Krise. Du bist für jede Entscheidung mitverantwortlich. | |
Im Machtgefüge der Grünen verteilt sich die Verantwortung zwischen Partei, | |
Fraktion und Kabinett auf mehrere Schultern. Wie definieren Sie darin Ihre | |
Rolle als Parteichefin? | |
Die Partei muss eine Art Kraftzentrum sein, also der Ort, der die Fäden | |
zusammenbindet, den Laden zusammenhält und trotzdem die größeren Themen | |
auch für die nächsten Jahre im Blick behält. | |
Das ist im vergangenen Jahr aber kaum gelungen. Wo sind Sie einen Schritt | |
gegangen, den sich Robert Habeck nicht erlauben konnte? | |
Ganz konkretes Beispiel: die [4][Übergewinnsteuer]. Als ich sie im letzten | |
Mai das erste Mal gefordert habe, ist das in der Koalition nicht auf große | |
Begeisterung gestoßen. Als Parteivorsitzende hatte ich aber die Freiheit, | |
zu sagen: Auch wenn das nicht im Koalitionsvertrag steht, müssen wir da | |
ran. Denn es ist nicht vermittelbar, dass einige wenige Konzerne in | |
Milliardenhöhe vom Krieg profitieren, während etliche Haushalte kaum über | |
die Runden kommen. Jetzt ist die Übergewinnsteuer Realität. | |
Ihnen schlägt viel Hass entgegen, gerade haben Sie eine Morddrohung mit | |
einer Patrone öffentlich gemacht. Wie gehen Sie damit um? | |
Man legt sich ein dickes Fell zu. Ich möchte mich an so etwas nicht | |
gewöhnen. Aber ich habe mich sehr bewusst entschieden, dem Hass nicht meine | |
Zeit und Kraft zu schenken. | |
Frau Lang, Sie sind jung in die Spitzenpolitik eingestiegen. Wie lange kann | |
man Politik auf diesem Level betreiben? | |
Ich kann das nicht in Jahren bemessen. Aber die Grenze, die ich mir selbst | |
gesetzt habe, ist Zynismus: Wer zynisch wird, sollte aufhören. Davon bin | |
ich zum Glück weit entfernt. | |
3 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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