| # taz.de -- Grüne Bundestagskandidatin Tesfaiesus: „Eine andere Perspektive�… | |
| > Nach dem Anschlag in Hanau entschied die Stadtverordnete Awet Tesfaiesus, | |
| > für den Bundestag zu kandidieren. Ein Gespräch über Vielfalt im | |
| > Parlament. | |
| Bild: Will für die Grünen in den Bundestag: Awet Tesfaiesus | |
| taz: Frau Tesfaiesus, Sie engagieren sich politisch bislang als | |
| Stadtverordnete in Kassel. Jetzt wollen Sie für die hessischen Grünen in | |
| den Bundestag. Warum? | |
| Awet Tesfaiesus: In Kassel war ich viele Jahre bei den Grünen aktiv, davon | |
| allein etwa sechs Jahre im Parteivorstand. Wegen meines Berufs dachte ich | |
| lange, dass mir die Zeit fehlt, mich noch stärker in der Politik engagieren | |
| zu können. Als sich aber 2016 abzeichnete, dass die AfD in das | |
| Stadtparlament einziehen würde, habe ich für mich gespürt: Jetzt muss auch | |
| ein Schwarzes Gesicht da rein. Um eine andere Perspektive mit ins Parlament | |
| zu bringen. Die von einer Person of Color. Mit dem [1][Anschlag in Hanau] | |
| habe ich dann gemerkt: Das allein reicht nicht mehr aus. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Was in Hanau passiert ist, hat mich zurückversetzt in meine Abizeit in den | |
| 90ern, das war die Zeit der rassistischen Übergriffe. Ich habe damals einen | |
| Studienplatz in Ostdeutschland bekommen und aus Sicherheitsgründen | |
| abgelehnt und lieber ein Semester gewartet. Jetzt ist bald mein Sohn an dem | |
| Punkt, wo er sich sein Leben aufbaut, und ich muss feststellen: Für ihn hat | |
| sich nichts geändert. | |
| Wir stehen als Gesellschaft immer noch an derselben Stelle. Nach Hanau habe | |
| ich mit meinem Mann überlegt: Entweder wir verlassen das Land. Oder wir | |
| kämpfen für unseren Sohn, der schließlich hier geboren wurde. Es ist auch | |
| sein Land. Das war der Moment, wo ich entschieden habe, ich kandidiere für | |
| den Bundestag. Ich habe eine Verantwortung gegenüber meinem Sohn – und den | |
| vielen Marginalisierten in unserem Land, deren Stimmen kaum gehört werden. | |
| So ähnlich hat das Ihr Parteikollege Tareq Alaows formuliert, der im Herbst | |
| als erster Geflüchteter aus Syrien in den Bundestag einziehen wollte. Nach | |
| rassistischen Drohungen [2][zog er seine Kandidatur zurück.] Fürchten Sie | |
| nicht, als Person of Color zur Zielscheibe von Rechtsextremen zur werden? | |
| Mir ist klar, dass es ein gewisses Risiko gibt, wenn man als PoC in die | |
| Politik geht. Das ist für mich aber kein neues Thema. Als ich als | |
| Spitzenkandidatin bei der Kommunalwahl in Kassel angetreten bin, haben | |
| meine Familie und ich gemeinsam ein paar Sicherheitsmaßnahmen getroffen. | |
| Zum Beispiel, dass ich Abends nach einer Veranstaltung nicht allein im ÖPNV | |
| fahre. Wir haben damals lange diskutiert, ob es eine kluge Entscheidung | |
| ist, anzutreten. | |
| Mir war es aber wichtig, dass es in einer Stadt wie Kassel möglich sein | |
| muss, als Schwarze Frau auf dem Listenplatz eins zu stehen. Ich muss aber | |
| auch sagen, dass ich selber um mich keine Angst hatte. Klar: Je sichtbarer | |
| man wird, desto mehr Briefe von Verirrten erhält man. Das kann auch mit | |
| meiner Arbeit als Asylrechtsanwältin zu tun haben. Das spielt für mich aber | |
| alles keine Rolle. Ich habe mich entschieden, dass ich für Vielfalt in | |
| diesem Land einstehen möchte, und zwar hauptberuflich als | |
| Bundestagsabgeordnete. | |
| Sicher ist das noch nicht. Ihre Partei hat Sie auf den Listenplatz neun | |
| gesetzt. Das könnte eng werden. | |
| Wir werden sehen, ob es klappt. Immerhin haben wir Grüne jetzt ein | |
| Vielfaltsstatut. Das ist ein erster Schritt. Jetzt müssen wir das auch mit | |
| Leben füllen. Ich hätte mir an der Stelle mehr Vorgaben gewünscht. Denn es | |
| fehlt ja nicht am guten Willen. Alle wollen ihre Listen bunter gestalten. | |
| Wenn es aber dann um die Listenaufstellung geht, heißt es schnell, wir | |
| haben aber niemanden. | |
| Wenn da der Druck erhöht wird wie bei unserem Frauenstatut und jeder zweite | |
| Platz mit einer Frau besetzt werden muss, dann kümmert man sich auch aktiv. | |
| Bei PoC passiert das nicht. Vielleicht, weil der Druck gar nicht da ist. | |
| Müsste nicht gerade eine Partei wie die Grünen den Druck erhöhen? Von den | |
| grünen Bundestagsabgeordneten haben nicht mal 15 Prozent | |
| Migrationsgeschichte. In der Gesamtbevölkerung sind es fast doppelt so | |
| viele. | |
| Ich begrenze das ungern nur auf Migrationsgeschichte. Es geht um die | |
| gesamte Vielfalt der Gesellschaft. Unser Ziel muss sein, die Bevölkerung, | |
| so wie sie zusammengesetzt ist, genauso auch in unseren Behörden, in den | |
| Schulen, in den Parlamenten zu sehen. Ich möchte, dass sich kleine Kinder, | |
| wenn sie in die Erwachsenenwelt schauen, abgebildet sehen. Dass sie auch | |
| eine Rollstuhlfahrerin im Parlament sehen und eine Schwarze Frau in den | |
| Medien und denken, dass kann ich auch. Davon sind wir weit entfernt. | |
| Viele halten eine Quote für den richtigen Weg. Sehen Sie das auch so? | |
| Wir sehen bei der Gendergerechtigkeit: Der gute Wille allein reicht nicht. | |
| Es braucht konkrete Vorgaben, genauso müssen wir es bei der Vielfalt | |
| handhaben. Ich halte die Quote deshalb für eine gute Sache. Wir müssen aber | |
| diskutieren, wie so eine Quote genau funktionieren kann und für wen sie | |
| alles gelten soll. Wir dürfen am Ende nicht die Queeren gegen die | |
| Behinderten ausspielen. Da habe ich noch kein Konzept gesehen, das alle | |
| Punkte berücksichtigt. Aber ja, wir müssen dringend handeln, um die | |
| gesellschaftliche Vielfalt besser abzubilden. | |
| Kritiker:innen der Quote argumentieren, dass durch Zwang keine Einsicht | |
| zu erreichen ist – und sich die Gräben womöglich nur vertiefen. Wie | |
| optimistisch sind Sie, dass Ihr Engagement die Gesellschaft nicht weiter | |
| entzweit? | |
| Ich bin schon optimistisch. Klar werde ich mit meinem Engagement nicht alle | |
| erreichen. Die AfD werde ich nicht ändern. Aber ich glaube, dass sich viele | |
| überzeugen lassen, dass es nur zum Vorteil aller ist, wenn man auch alle | |
| Menschen in die Gesellschaft einbindet. Wir sehen ja, dass sich schon | |
| einiges positiv entwickelt hat. Früher war es normal, dass nur Männer die | |
| Büros geleitet haben und die Frauen zu Hause waren. Ich musste als | |
| Jugendliche bis Mitternacht wach bleiben, um auf MTV eine Schwarze Person | |
| im Fernsehen zu sehen. Das ist heute nicht mehr ganz so extrem. | |
| Es ist aber immer noch normal, dass man in den Medien überwiegend Menschen | |
| sieht, die „deutsch“ aussehen, wie immer man das definieren mag, und die | |
| keine sichtbare Behinderung haben et cetera. Das ist aber eine | |
| Scheinnormalität, die immer noch viele Menschen ausschließt. Ich glaube, | |
| dass vielen diese Lücke gar nicht bewusst ist. | |
| Angenommen, Sie ziehen im Herbst in den Bundestag ein. Was wollen Sie | |
| konkret erreichen? | |
| Wir brauchen dringend ein wirksames Antidiskriminierungsgesetz. So, wie es | |
| momentan geregelt ist, ist das Gesetz nur im Arbeitsrecht brauchbar. Wenn | |
| ich als Schwarze Person aber zum Beispiel keine Wohnung bekomme, dann muss | |
| es doch irgendetwas geben, wie ich mich als Betroffene zur Wehr setzen | |
| kann. Ich habe das selbst erlebt, welchen Unterschied es macht, ob mein | |
| Mann, der weiß ist und Deutscher, zur Wohnungsbesichtigung geht, oder ich. | |
| Es kann doch nicht sein, dass ich immer meinen Mann vorschicken muss, um | |
| bessere Chancen auf eine Wohnung zu haben? | |
| Ich finde, dass wir dringend ein Verbandsklagerecht in diesem Bereich | |
| brauchen. Denn wer riskiert schon als Einzelperson einen langwierigen | |
| Prozess, womöglich gegen eine mächtige Immobilienfirma? | |
| Das Land Berlin hat seit gut einem Jahr ein Antidiskriminierungsgesetz. | |
| Seither gab es Hunderte Beschwerden gegen öffentliche Stellen. Der | |
| häufigste Grund: Rassismus. Wundert Sie das? | |
| Keinesfalls. Alltagsrassismus ist ein großes Problem. Jede und jeder PoC | |
| kann genug Erfahrungen erzählen. Ich sage nur Polizeikontrollen. Deswegen | |
| fordern wir PoC ja auch endlich eine unabhängige wissenschaftliche Studie | |
| zu Rassismus in der Polizei. Die Politik blockt das ja ab und tut unsere | |
| Erfahrungen als übertrieben ab. Ich kann nicht verstehen, warum man sich | |
| einer wissenschaftlichen Erkenntnis verweigert. | |
| Für die Polizeistudie müssen Sie wohl auf einen neuen Innenminister warten. | |
| Das stimmt. | |
| 31 Jul 2021 | |
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| Ralf Pauli | |
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