# taz.de -- Göring-Eckardt über Strukturwandel: „Wir sind an einer Wegschei… | |
> Deutschland braucht einen ökölogischen Neustart, sagt | |
> Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Selbstständige müssten | |
> weiter unterstützt werden. | |
Bild: Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen diese Woche im Abgeor… | |
taz am wochenende: Frau Göring-Eckardt, Deutschland rätselt: Kommen die | |
Lockerungen bei Corona jetzt zu früh, was meinen Sie? | |
Katrin Göring-Eckardt: Ich glaube nicht, dass die Lockerungen zu früh | |
kommen. Aber es sind vielleicht zu viele auf einmal. | |
Zum Beispiel? | |
Bisher haben wir immer gesagt: Schritt für Schritt. Und wenn etwas nicht | |
funktioniert, dann nehmen wir es schnell wieder zurück. Jetzt geht die | |
Bundesliga wieder los, Fitnessstudios und Restaurants machen auf. Viele | |
fragen sich: Warum dürfen die und wir nicht? Wann bekommen endlich Kinder | |
und Eltern die nötige Aufmerksamkeit und Sicherheit? Kulturschaffende | |
dürfen keine Veranstaltungen durchführen, die Shopping-Mall hat aber auf. | |
Es gibt da dieses Kinderbuch von Michael Ende, „Tranquilla Trampeltreu“. Da | |
sagt sich die Schildkröte immer wieder: „Schritt für Schritt“. Und kommt … | |
an. Diesen Weg zu verlassen schafft ein Vertrauensproblem und zudem ein | |
ganz faktisches. Ich habe die Sorge, dass Bund und Länder eine zweite | |
Infektionswelle riskieren und ein Rückfall mit einem zweiten Lockdown | |
schlimm würde. | |
Zunächst stützte eine große Mehrheit den Kurs der Kanzlerin. Dann kam die | |
Kritik. Schlägt Populismus Rationalität, was erleben wir da gerade? | |
Vielleicht einen Wettbewerb unter den Ministerpräsidenten, auch um die | |
Kanzlerkandidatur bei der Union? Das uneinheitliche Vorgehen der Länder und | |
ihr Vorpreschen schürt Zweifel am Krisenmanagement und ein Gefühl, da würde | |
nicht nur nach Fakten und Vernunft entschieden. Das ermutigt | |
Verschwörungstheoretiker und Populisten, ihr giftiges Zeug zu verbreiten. | |
Können wir uns einen zweiten Lockdown in Zukunft überhaupt erlauben? | |
Ich hoffe, es kommt nicht so weit. Es wäre für die Gesellschaft, aber auch | |
für die Wirtschaft ein riesiges Problem. Darum hätte ich vorsichtigere | |
Lockerungen favorisiert. | |
Wie locker gehen Sie selber mit den Lockerungen jetzt um? | |
Ich halte Abstand, ich trage Maske, wo es nötig ist, ich bleibe vorsichtig. | |
Das geht sicher vielen so. Wir wissen ja, es ist noch nicht vorbei. Ich bin | |
kein ängstlicher Mensch. Aber ich will vorsichtig sein, um andere zu | |
schützen. Im Regionalexpress, den ich oft nutze, tragen vielleicht zwei | |
Drittel der Leute Mundschutz. | |
Das haben Sie beobachtet? | |
Ja. Auch ich bewege mich so wenig wie möglich, manchmal muss es aber sein. | |
Ihr Parteikollege Boris Palmer aus Tübingen meinte: Warum der ganze Ärger, | |
der Wirtschaftscrash aufgrund des Lockdowns, wenn so oder so einige mit | |
weniger starkem Immunsystem sterben werden? Er erntete einen Shitstorm. | |
Aber: steckt in seinen provokativen Äußerungen nicht auch ein Funken | |
Wahrheit? | |
Unsere baden-württembergischen Grünen und unser Bundesvorstand haben dazu | |
deutlich Stellung bezogen. Wer glaubt, die Coronakrise und ihre | |
Auswirkungen nach seiner persönlichen Mathematik beantworten zu wollen, | |
kann auf solche Gedanken kommen. Ich halte das für zynisch. Unsere | |
Verfassung sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar, nicht manche Würde | |
mancher Menschen. | |
Kann trotz des massiven Wirtschaftseinbruchs alles so weitergehen wie | |
bisher? War es richtig, das Kurzarbeitergeld aufzustocken? Wäre ein | |
bisschen Verzicht jetzt nicht auch angebracht? Die neuen Schulden werden | |
nachfolgende Generationen doch sehr stark belasten? | |
Deutschland muss jetzt dringend benötigte Zukunftsinvestitionen tätigen. | |
Viele Ökonomen haben uns zu diesen Schritten ermutigt. Die wichtige Frage | |
für die künftige Generation ist doch: Wie lange strecken wir die | |
Rückzahlung? Für eine nachhaltige Finanzierung der Kosten der Coronakrise | |
ist eine Kreditfinanzierung mit sehr langen und flexiblen | |
Tilgungszeiträumen notwendig. Und Deutschland zahlt auf seine Schulden | |
derzeit keine Zinsen. Es wäre fatal, wenn wir jetzt einen Wirtschaftscrash | |
provozieren würden. Mit dem Kurzarbeitergeld haben wir ein Instrument, das | |
den Unternehmen hilft, aber zugleich auch direkt den Arbeitnehmerinnen und | |
-nehmern. Politik muss in der Krise Sicherheit ausstrahlen. Und deutlich | |
machen: Wir tun alles, um euch nicht hängen zu lassen. | |
Einverstanden. Aber wäre es nicht sinnvoller gewesen, statt etwa das | |
Kurzarbeitergeld aufzustocken, den Lockdown länger durchzustehen? | |
Nein. So sollten Sie nicht rechnen. Wir werden wirtschaftlich in eine sehr | |
schwierige Lage kommen. Menschen, die schon wenig haben, sollen nicht noch | |
weniger haben. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir eine noch stärkere | |
Spaltung der Gesellschaft erleben: auf der einen Seite diejenigen, die | |
jetzt krisensichere Gehälter und weiter volle Konten haben, und auf der | |
anderen jene, die sich große Sorgen um ihre Existenz machen. Die Arbeits- | |
und Beschäftigungsverhältnisse sind sehr unterschiedlich. Es wird nicht | |
alles auszugleichen sein. Aber es muss gerecht zugehen, die Ärmsten dürfen | |
nicht noch mehr leiden und wir brauchen einen Ausgleich, gerade auch bei | |
denen, die bei den ersten Sofortmaßnahmen vergessen wurden. Denen kann man | |
in einer zweiten Runde nicht einfach sagen: Oh, das wird aber jetzt | |
schwierig. Wir brauchen eine Perspektive auf Wohlstand und dafür einen | |
neuen ökologisch-wirtschaftlichen und sozialen Aufbruch. | |
Klingt gut. Corona mag in zwei Jahren vorbei sein, die Erderwärmung nicht. | |
Sehen Sie Ansätze, dass Unternehmen, Konsumenten und die Politik ihre | |
sorglose Haltung jetzt überdenken? | |
Wir sehen, was möglich ist, wenn man gemeinsam handelt. Gegen die | |
Erderwärmung ist die erfolgreiche Therapie längst bekannt. Wir sehen in der | |
Coronakrise, dass wir weltweit agieren. Und dass die demokratische Art und | |
Weise bessere Resultate hervorbringt als die autokratische. Widerspruch | |
bringt voran. Bei der Klimakrise ist das ja evident. Wir werden viel Geld | |
in die Hand nehmen, um aus der Coronakrise wieder herauszukommen. Doch bei | |
allem muss klar sein, dass wir soziale und ökologische Fragen miteinander | |
verbinden. Sprich: kein Geld für Investitionen, die nicht auch den Ökotest | |
bestehen. Mehr Nachhaltigkeit bringt vor Ort mehr Lebensqualität und stärkt | |
Unternehmen im globalen Wettlauf um klimaneutrales Wirtschaften. | |
Renate Künast flog ihr Veggie-Day noch um die Ohren. Aber wäre es nicht an | |
der Zeit, umweltschädliche Praktiken viel härter zu besteuern und das auch | |
offensiver zu propagieren? | |
Statt erzieherische Maßnahmen zu ergreifen, sollten wir die Grundstruktur | |
verbessern. Diese Chance ist jetzt da. Aus der Krise heraus müssen wir | |
unsere Industrieproduktion umstellen – auf klimafreundliche Autos, | |
klimafreundlichere Luftfahrt. Wir müssen die Bahn stärken, die große | |
Schwierigkeiten hat. Auch die Landwirtschaft steht vor Umwälzungen. Was ist | |
mit Stadtplanung, Gebäudesanierung, Schulen? Wir sind an einer Wegscheide. | |
Wir können jetzt versuchen, alles so zu restaurieren, wie es vor der Krise | |
war. Oder wir nutzen das jetzt für einen wirklichen Neuanfang und | |
Strukturwandel. Unsere berühmte Autoindustrie ist international nicht | |
wettbewerbsfähig, wenn sie weiter auf dreckige Autos setzt. | |
Der Konsument ist ja der König. Gibt es ein demokratisches Menschenrecht | |
auf Billigflüge nach Mallorca oder Asien? Warum nicht viel härter | |
besteuern? | |
Umweltschädliche Subventionen wie beim Kerosin gehören abgebaut, das wäre | |
das Mindeste. Aber: Brauchen wir all die Kurzstreckenflüge noch? Sollten | |
wir nicht besser in die Bahn so investieren, dass sie der Vergangenheit | |
angehören? Wir werden auch in Zukunft fliegen. Wollen weiterhin in die Welt | |
hinaus. Fliegen wird sich wohl nie ökologisch rechnen. Aber auch die | |
Flugzeughersteller können umweltverträglichere Maschinen bauen. Airbus ist | |
da schon weiter als Boeing. Kerosin kann nicht der Treibstoff der Zukunft | |
sein. Und erleben wir nicht im Moment, dass man manches auch gut in | |
Videokonferenzen besprechen kann, ohne durchs Land zu reisen? | |
Ihre Fraktion wirbt im Bundestag für eine bessere Absicherung | |
soloselbstständiger Künstler und Künstlerinnen. Wie sollte diese aussehen, | |
was kritisieren Sie an der Politik von Frau Grütters? | |
Wir haben eine Kulturstaatsministerin, die zunächst nichts für die | |
Künstlerinnen und Künstler tat. Der Druck kam aus der Opposition und aus | |
der Kultur selber. | |
Aber ein Hilfsprogramm hat Grütters schon aufgelegt? | |
Es hat Wochen gedauert, bis man sie hat „kämpfen“ sehen. Da hatte | |
Baden-Württemberg schon längst eines. Die anderen sind dem gefolgt. | |
Schließlich auch die Kulturstaatsministerin. Dabei geht es um Hilfe, aber | |
auch um Wertschätzung. Die Kanzlerin hat das letzten Samstag endlich einmal | |
klar gesagt. | |
In ihrem Podcast zur Kultur? | |
Sie hat selten so deutlich über die Wichtigkeit von Kultur gesprochen. Das | |
ist gut. Doch am Ende lebt man davon, dass etwas auf das Konto kommt. Wir | |
müssen den Soloselbstständigen weiterhin helfen, den Lebensunterhalt zu | |
sichern. Auch den vielen Handwerkern, Technikern, Dienstleistern, die | |
„backstage“ für die Kultur tätig sind. Wie wäre es mit einem | |
„Comeback-Fonds“? Große Festivals, Konzerte werden lange nicht stattfinden | |
können, Kino- oder Theaterbesuche nur eingeschränkt. Wir müssen privaten | |
Betreibern, Selbstständigen und freien Kulturschaffenden eine Perspektive | |
bieten. Vielleicht auch neue Plattformen im Internet, bei denen sie | |
Einnahmen erzielen können. Also nicht nur Geld für das Nichtauftreten. | |
Was ist mit [1][Theater im Freien]? | |
Gerne. Aber auch was im Freien stattfindet, muss man jetzt nicht so machen | |
wie der Herr Kemmerich von der FDP in Thüringen. | |
Der ohne Mundschutz und Einhaltung von Abstandsregeln gegen Coronamaßnahmen | |
demonstrierte. | |
Alles sollte derzeit so stattfinden, dass wir mögliche Neuinfektionen | |
vermeiden und Abstand halten. | |
Die Frage bleibt: Was ist das für eine Kunst, die kein Live-Erlebnis hat, | |
keinen direkten Kontakt und Austausch mit dem Publikum? | |
Kunst, Kultur ohne unmittelbare Resonanz ist schwierig. Das geht mir selbst | |
im Bundestag schon so, wenn der Plenarsaal aufgrund von Corona deutlich | |
geringer besetzt ist. Bei unserem [2][digitalen Grünen-Parteitag] sprachen | |
wir zuletzt in eine Kamera. Man spürt dabei gar nicht, ob das da gerade | |
ankommt, was man sagt. Kein Räuspern, kein Augenkontakt, kein wütendes | |
Gesicht, kein Applaus. | |
Ein Traum für autoritäre Egomanen: Ruhe im Saal, jetzt rede ich. | |
Schrecklich. Das erinnert mich, wogegen ich 1989 in der DDR auf die Straße | |
gegangen bin. Aber selbst da, in der Diktatur, war Resonanz wichtig, | |
deshalb hat man den Applaus für Erich Honecker verordnet. | |
Eine Stadt wie Berlin lebt auch von Nachtleben und Partytourismus. Wie | |
wird das nach der Coronakrise aussehen? | |
Ich hoffe, das wird es alles wieder geben. Es gehört zu unserer Vorstellung | |
von individueller Freiheit dazu. Aber die Clubs sind gerade akut bedroht | |
und brauchen Hilfe. Clubleben ist Kulturgut. Durch die Krise wird es sicher | |
Veränderungen, aber vielleicht auch neue Impulse geben. | |
Viele Kinder und Jugendliche müssen wieder in die Schulen. Ihre Schulen | |
sind oft nicht digitalisiert, ihre Lehrer in digitalen Techniken oft | |
schlecht ausgebildet. Wie kann das 2020 sein? | |
Die jetzige Situation führt vor Augen, was versäumt wurde. Wir haben vor | |
fast einem Jahr den Digitalpakt beschlossen. Wir haben uns als Opposition | |
dafür starkgemacht, es brauchte ja eine verfassungsändernde Mehrheit, um | |
die 5 Milliarden zusätzlich freizukriegen. Nach meinem Stand waren Ende | |
Januar gerade mal 20 Millionen Euro davon abgerufen. | |
Zwanzig Millionen von fünf Milliarden? | |
Tatsächlich. Die Antragstellung muss jetzt dringend vereinfacht werden, die | |
Gelder vielleicht direkt den Schulen zugewiesen werden. Und klar, den | |
Lehrkräften Schulungen anzubieten wäre dringend nötig. Digitaler Unterricht | |
und Begleitung von Homeschooling sind ja schließlich für die meisten neu. | |
Ich habe ein Instagram-Live-Gespräch mit einer Lehrerin geführt. Die hatte | |
an ihrer Grundschule vor Corona die Digitalisierung geschafft. Und sie | |
meint: Auch wenn es schwierig ist, es hilft gerade in der Krise, gemeinsam | |
in Kontakt zu bleiben. Auch mit Kindern aus Elternhäusern, die nicht alles | |
alleine hinkriegen. Die Krise bringt hier vielleicht jetzt Tempo rein. | |
18 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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