# taz.de -- Gewalt gegen Menschen mit Behinderung: Ein Recht auf Rechtsschutz | |
> Die Angestellte einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung wirft ihrem | |
> Chef Belästigung vor. Doch das Verfahren wird eingestellt, weil sie | |
> angeblich nicht aussagefähig sei. | |
Bild: Sonja M.* erlebte in einer Werktstatt für Menschen mit Behinderung sexua… | |
Berlin taz | Immer wieder habe der Mann sie geküsst und bedrängt. Sonja M.* | |
wollte das nicht, sie hat es deutlich gesagt und sie hat Anzeige erstattet. | |
Der Mann ist zu dem Zeitpunkt ihr Vorgesetzter in der Werkstatt für | |
Menschen mit Behinderung, in der Sonja M. arbeitet. Die 26-Jährige hat eine | |
kognitive Behinderung, der Mann nicht. Dies ist zu erwähnen, weil es ein | |
besonderes Abhängigkeitsverhältnis begründet. | |
Vor allem aber, weil Sonja M. deshalb der angemessene Zugang zu | |
Rechtsschutz verwehrt wurde. An diesem Montag legen ihre | |
Rechtsanwält*innen sowie mehrere Unterstützerinnen dagegen | |
Verfassungsbeschwerde beim Landesverfassungsgerichtshof Berlin ein. „Was | |
Sonja M. widerfahren ist, ist so diskriminierend“, sagt Rechtsanwält*in | |
Ronska Grimm. Und es ist [1][absolut kein Einzelfall.] | |
Ronska Grimm erzählt der taz, was Sonja M. im Rechtssystem erlebt hat. | |
Grimm hat bereits mehrere Frauen in ähnlichen Fällen begleitet. Frauen mit | |
Behinderung sind im besonderen Maße von sexualisierter Gewalt betroffen. | |
Dies gilt laut einer 2013 veröffentlichten Umfrage des | |
Bundesfamilienministeriums umso mehr, wenn sie in einer Einrichtung für | |
Menschen mit Behinderung leben oder arbeiten. Die | |
UN-Behindertenrechtskonvention und die Istanbul-Konvention zur Verhütung | |
und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt fordern für | |
diese besonders bedrohte Gruppe nicht nur die Etablierung eines effektiven | |
Gewaltschutzes ein, sondern auch den gleichberechtigten Zugang zum | |
Rechtssystem. „Ausgerechnet eine der [2][am stärksten von sexualisierter | |
Gewalt betroffenen Gruppen] wird von Polizei und Justiz massiv | |
diskriminiert“, sagt Lea Beckmann, ebenfalls beteiligte Rechtsanwältin und | |
Antidiskriminierungsexpertin. | |
## Im Oktober 2020 erstattet sie Anzeige | |
Sonja M. hat den Mut gefunden, den Werkstattbetrieb mit dem Vorwurf der | |
sexuellen Belästigung zu konfrontieren. Im Oktober 2020 erstatten Sonja M. | |
und ihre Mutter als rechtliche Betreuerin Anzeige. | |
Da, so erzählt es Grimm, beginnen bereits die Unzumutbarkeiten. Erst im | |
Februar, vier Monate nach der Anzeige, kommt es zur Vernehmung durch die | |
Polizei – die nur auf Druck von Rechtsanwält*in Grimm auf Video | |
aufgenommen wird. Die Staatsanwaltschaft beauftragt ein | |
aussagepsychologisches Gutachten. Das wird bei Kindern und Menschen mit | |
kognitiven und psychosozialen Beeinträchtigungen regelmäßig gemacht. | |
Festgestellt werden soll, ob die Person in der Lage ist, Informationen | |
wahrzunehmen und wiederzugeben, also aussagefähig ist. Erst dann wird | |
geprüft, ob die Aussage glaubhaft ist. | |
Doch die Person, die Sonja M. begutachtet, hatte laut Grimm keinerlei | |
behindertenspezifisches Fachwissen. Sie verwendete Tests für | |
Grundschulkinder. Die 26-jährige Sonja M., der eine leichte bis mittlere | |
Intelligenzminderung diagnostiziert ist, habe unter anderem bunte Stifte | |
heraussuchen müssen. Sie sei geduzt worden und habe die Gutachterin siezen | |
müssen. Vor allem aber habe die Begutachtung nicht in Leichter Sprache | |
stattgefunden – obwohl Rechtsanwält*in Grimm das eingefordert hatte. Es | |
sei dem Protokoll zu entnehmen, dass Sonja M. die wechselnden | |
Aufgabenstellungen nicht immer klar waren und dass sie sich in der | |
Befragung offensichtlich unwohl fühlte. | |
## Sonja M. sagte bei der Polizei mehrere Stunden aus | |
Nach über drei Stunden habe die Gutachterin abgebrochen, weil Sonja M. | |
weinend sagte, sie könne nicht mehr. Das wurde ihr von der Gutachterin als | |
emotionale Instabilität ausgelegt. Sie kommt zu dem Schluss, dass Sonja M. | |
nicht aussagefähig sei. | |
Eigentlich, so Rechtsanwält*in Grimm, stehe die Aussagefähigkeit nur bei | |
Personen mit schwerer kognitiver Beeinträchtigung oder weit | |
fortgeschrittener Demenz überhaupt in Frage. Und nicht bei Personen wie | |
Sonja M., die bei der polizeilichen Vernehmung eine stimmige, mehrstündige | |
Aussage gemacht habe. „Ihr die Aussagefähigkeit abzusprechen, das ist so | |
schlimm, das kann man so nicht stehen lassen“, sagt Grimm. | |
Das Gutachten sei so offensichtlich mangelhaft gewesen, dass es auch der | |
Staatsanwaltschaft hätte auffallen müssen. Diese stellt aber die | |
Ermittlungen mit Verweis auf das Gutachten ein. Grimm legt Beschwerde ein, | |
doch die Generalstaatsanwaltschaft schmettert auch diese mit Verweis auf | |
das Gutachten ab. | |
Auch mit einem Klageerzwingungsverfahren haben Sonja M. und Grimm keinen | |
Erfolg. Die Hürden sind hier enorm hoch, statistisch gesehen haben diese | |
Verfahren nahezu nie Erfolg. Der normale Rechtsweg ist damit ausgeschöpft. | |
## Kein Einzelfall | |
In allen ähnlichen Fällen, die Ronska Grimm bisher betreut hat, wurde das | |
Ermittlungsverfahren ebenfalls eingestellt. Grimm ist auch kein Fall | |
bekannt, in dem das anders gewesen wäre. Warum dann jetzt eine | |
Verfassungsbeschwerde? | |
Viele der Frauen haben an dieser Stelle keine Kraft mehr, erzählt Ronska | |
Grimm. Das Ermittlungsverfahren sei, gerade weil es so durchgeführt wird, | |
wie es in der Regel durchgeführt wird, eine massive Belastung. Aber für | |
Sonja M. sei dies „ein krasses Gefühl, faktisch rechtlos zu sein“. Eine | |
Person, der die Aussagefähigkeit abgesprochen wird – sie kann im System der | |
Strafverfolgung nicht mehr für sich sprechen. | |
„Das bedeutet“, sagt Grimm, „dass im Grunde von vornherein feststeht, dass | |
die Täter nicht belangt werden“. Dass das der Regelfall ist bei | |
Aussage-gegen-Aussage-Verfahren, in denen Menschen mit kognitiven | |
Beeinträchtigungen betroffen sind, das will Rechtsanwält*in Grimm nicht | |
weiter durchgehen lassen. | |
Weil dieser Fall so exemplarisch ist, hat sich ein Netz von | |
Unterstützer*innen darum gesponnen. Vertreten wird die | |
Verfassungsbeschwerde auch durch Rechtsanwältin Lea Beckmann und durch | |
Theresia Degener, Professorin für Recht und Disability Studies und | |
ehemaliges Mitglied im UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit | |
Behinderung. Begleitet wird der Fall außerdem durch den Bundesverband der | |
Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), die | |
Selbstvertretungsorganisation für Frauen mit Behinderungen Weibernetz e.V. | |
sowie das Zentrum für Disability Studies (BODYS) an der Evangelischen | |
Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. | |
## Eine menschenrechtliche Problemlage | |
„Das ist ein strukturelles Problem, das eine große Gruppe von Menschen | |
betrifft“, sagt Beckmann. Es handele sich um eine menschenrechtliche | |
Problemlage, in der Sonja M. und andere [3][Betroffene sexualisierter | |
Gewalt] fast vollkommen schutzlos gestellt werden. „Wir versuchen, mit | |
diesem Fall etwas aufzurollen.“ | |
Das Ziel ist klar definiert und wird auch schon in der | |
UN-Behindertenrechtskonvention, die die Bundesregierung rechtsverbindlich | |
unterzeichnet hat, verbürgt: Bei Staatsanwaltschaft und Polizei müsse es | |
Leitfäden geben, wie ein Ermittlungsverfahren Menschen mit kognitiver | |
Beeinträchtigung gerecht werden kann. Es brauche spezielle Schulungen | |
sowohl für die Personen, die befragen, als auch für die, die in | |
Staatsanwaltschaften beurteilen müssen, ob eine Befragung angemessen | |
verlaufen ist. Es müsse einen Pool mit Gutachter*innen geben, die über | |
eine entsprechende Expertise in der Begutachtung von Menschen mit | |
kognitiver Beeinträchtigung verfügen – und sie nicht mit Kindern | |
gleichsetzen und gleichzeitig völlig überfordern. „Nur dann kann eine | |
Aussage gleichberechtigt gewürdigt werden“, sagt Beckmann. | |
Nach Kenntnis der Akteur*innen ist das die erste Verfassungsbeschwerde, | |
die dieses Recht für Menschen mit kognitiven Behinderungen einfordert. Wenn | |
das Landesverfassungsgericht die offensichtlichen Mängel nicht anerkennt | |
und entsprechende Vorgaben an die Ermittlungsbehörden stellt, dann | |
schrecken die Initiator*innen auch vor dem Gang an den Europäischen | |
Gerichtshof für Menschenrechte oder den UN-Ausschuss für die Rechte von | |
Menschen mit Behinderungen nicht zurück. | |
Der Fall Sonja M. erhelle einen Bereich enormer, menschenrechtswidriger | |
Diskriminierung, sagt Beckmann. „Das wird Strahlkraft für die ganze | |
Bundesrepublik haben.“ | |
*der Name wurde geändert, weil die Beschwerdeführerin anonym bleiben möchte | |
26 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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