# taz.de -- Gewalt gegen Flüchtlinge: Grenz-Erfahrungen | |
> In hunderten Fällen berichten Flüchtlinge von Misshandlung und Gewalt an | |
> der Grenze in Kroatien. Alles Lügen, sagen dazu kroatische Behörden. | |
Bild: Migranten bei Bihać sind in der Dunkelheit unterwegs zur kroatischen Gre… | |
MALJEVAC/BIHAC taz | Gilio Toic Sintic, der Vizechef der kroatischen | |
Grenzpolizei, kommt persönlich zur Tür des kleinen schwarzen Busses und | |
schüttelt allen Aussteigenden die Hände, den EU-Abgeordneten und ihrem | |
Tross. „Das ist gerade gar nichts, Sie müssten mal zur Ferienzeit hier | |
sein“, sagt er und deutet auf die Straße. Es ist ein Samstagmorgen, am | |
Grenzübergang Maljevac stehen die Autos in drei Reihen Richtung Bosnien, | |
die Motoren laufen, die Sonne scheint und vertreibt den gefrorenen Tau von | |
den Grashalmen. Sintic weiß, was die Besucher hier wollen, sein Chef, der | |
Innenminister, bei dem sie auch schon waren, hat es ihm gesagt. Aber das | |
ist natürlich kein Grund, nicht ein wenig zu plaudern. | |
Sintic hat drei Kollegen dazugebeten, im Halbkreis stellen sie sich am | |
Straßenrand auf, in ihren blauen Uniformen, die ein wenig zu dünn sind für | |
den Morgenfrost, und Sintic erzählt den Parlamentariern davon, wie die Lage | |
hier so ist: Fast 1.200 Kilometer lang ist hier, in Kroatien, die | |
Außengrenze der EU. Sie zieht sich durch grüne Hügel und Felder, es ist | |
nicht mehr weit bis nach Österreich und Italien. Sintic’ Leute haben allein | |
im letzten Jahr über 20.000 Menschen aufgegriffen, als sie diese Grenze | |
überquert haben. „Die meisten kommen aus Afghanistan, Pakistan, Iran, Irak | |
und Syrien“, sagt Sintic. | |
Die Frage ist: Was passiert mit denen? | |
Das wollen die Abgeordneten wissen, die an diesem Morgen hergekommen sind. | |
Die Niederländerin Tineke Strik (Grüne) hatte Sintic’ Chef, dem kroatischen | |
Innenminister Davor Božinović, geschrieben, ihr Besuch werde einen „Fokus | |
auf mögliche Menschenrechtsverletzungen“ an der Grenze haben. | |
## „Folterähnliche Polizeitaktiken“ | |
Denn seit Jahren weist die UN-Flüchtlingshilfe UNHCR darauf hin, dass | |
Sintic’ Leute ganz offensichtlich jene, die sich hier in der Hoffnung auf | |
Asyl in Europa durch die Büsche schlagen, zurück nach Bosnien prügeln. Im | |
Dezember 2019 legte die Nichtregierungsorganisation Border Violence | |
Monitoring Netwok eine Dokumentation von über 600 einzelnen Fällen vor. | |
Darin ist von „folterähnlichen Polizeitaktiken“, Hundebissen, angedrohtem | |
Erschießen und allen denkbaren Formen von Gewalt die Rede. | |
Mehrfach kamen in den letzten Jahren an Kroatiens Grenzen Menschen ums | |
Leben. Im November 2019 musste Kroatiens Innenminister Božinović einräumen, | |
dass im Krankenhaus von Rijeka ein Afghane notoperiert wurde, nachdem er | |
„aus Versehen“ durch den Gewehrschuss eines Polizisten schwer verletzt | |
wurde. Auch Fernsehsender zeigten mit versteckter Kamera im Wald | |
aufgenommene Videos von den Aktionen, Pushbacks genannt. | |
„Außer den kroatischen Behörden leugnet niemand die illegalen | |
Abschiebungen“, sagt der EU-Abgeordnete Erik Marquardt (Grüne). Doch die EU | |
unternimmt nichts. Zu groß ist offenbar die Angst vor einer neuen offenen | |
Balkanroute. Die Delegation ist hergekommen, um Božinović, den | |
Innenminister, und Sintic, den Polizeikommandanten, mit dem Vorwurf zu | |
konfrontieren, sie verletzten massenhaft EU-Recht, um die Grenze der EU zu | |
schützen. Denn Kroatien ist nach internationalem Recht dazu verpflichtet, | |
Ankommenden die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen. | |
„Ich weiß, dass unser Minister ihnen das ja gestern auch schon gesagt hat“, | |
sagt Sintic, als er nach den Menschenrechtsverletzungen gefragt wird. Und | |
dann sagt er den Abgeordneten aus Brüssel genau dasselbe wie Božinović: | |
Alles Lüge. | |
## Beamte beschuldigen die Migranten | |
„Bei uns gibt es null Toleranz für so ein Verhalten“, sagt Sintic, „Imme… | |
wenn wir so etwas hören, formen wir ein Team, direkt vom Ministerium, die | |
das untersuchen.“ Er kenne die Berichte, doch „wir konnten das nie | |
verifizieren“. | |
„Ich hab viele Verletzte drüben in Bosnien gesehen“, sagt ein Journalist | |
aus Österreich, der die Abgeordneten begleitet. | |
Einer von Sintic' Kollegen meldet sich zu Wort. „Können Sie sich | |
vorstellen, dass wir so einen Befehl geben, die Migranten zu verprügeln?“, | |
fragt er. | |
„Irgendwer muss sie ja verprügelt haben“, sagt der Journalist. | |
„Wenn wir Hinweise haben, dass ein Beamter seine Befugnisse über das | |
erforderliche Maß hinaus nutzt, wird er bestraft oder entlassen“, sagt der | |
Grenzer. | |
„Es gibt Tausende Aussagen von Migranten. Und sie haben keinen einzigen | |
solchen Fall gefunden?“, hakt eine der Abgeordneten nach. | |
„Kürzlich gab es einen jungen Afghanen“, sagt der Grenzpolizist dann, | |
„dessen Bein wurde mit einem Stahlrohr verletzt. Alle Medien schrieben, wir | |
waren das. Dann fanden wir heraus, dass der Afghane seinen Schlepper nicht | |
bezahlen konnte – und der ihn verletzt hat.“ Ähnlich ein junger Pakistaner, | |
dem die Beine verbrannt wurden. „Der schuldet den Schmuggler Geld, die | |
haben ihn ins Feuer gestoßen.“ | |
Sintic ergänzt: „Drüben in Bosnien, da gibt es Gewalt unter den | |
Flüchtlingen, zwischen Marokkanern und Algeriern zum Beispiel.“ Die | |
verletzten sich gegenseitig. „Und dann werden später Bilder von den | |
Verletzten gezeigt, um politischen Druck aufzubauen, damit wir die Grenzen | |
aufmachen.“ | |
„Gut“, sagt einer der Abgeordneten. „Sie verprügeln sie also nicht. Aber | |
was machen Sie dann?“ | |
„Wir verhindern, dass sie illegal die Grenze überqueren“, sagt der | |
Polizist. | |
„Wie muss man sich das vorstellen?“, will der Abgeordnete wissen. | |
„Wie stehen da und sie sehen uns. Das reicht. Dann kehren sie von allein | |
um.“ | |
Die Fahrt der Gruppe mit dem kleinen schwarzen Bus geht weiter, entlang am | |
Grenzfluss Korana, über die Grenze nach Bosnien, durch hügeliges Ackerland | |
bis ins 40 Kilometer entfernte [1][Bihać]. 7.000 Flüchtlinge sitzen in dem | |
Nachbarland Kroatiens fest, die meisten in der Region Bihać. In den Straßen | |
sieht man immer wieder Gruppen von Flüchtlingen, in der Hand Plastiktüten | |
mit Decken, und Schlafsäcken, auf dem Weg Richtung Grenze. „The Game“ | |
nennen sie es hier, „das Spiel“. | |
## „Alle auf die gleiche Weise geschlagen“ | |
Selena Kozakijević vom Dänischen Flüchtlingsrat ist im Auftrag der | |
EU-Kommission in Bihać. „Wenn die Menschen von der Grenze zurückkommen, | |
sehen wir manchmal, dass sie alle die gleiche Wunde auf dem Kopf haben. Sie | |
wurden offensichtlich alle auf gleiche Weise geschlagen“, sagt sie. In | |
einer Pizzeria hat Kozakijević für die Abgeordnetengruppe ein Treffen mit | |
drei Männern organisiert. Einer ist Omar Korshan, 35, er stammt aus | |
Tataouine im Süden Tunesiens und will zu Verwandten in Frankreich. Seit | |
einem Jahr ist er in Bihać, zwölfmal wurde er zurückgeschickt, sagt er. | |
Es seien nicht immer dieselben gewesen: Immer wieder sei er in Kroatien | |
aufgegriffen worden, mal von Soldaten, mal von Polizisten. „Mal haben sie | |
uns alles weggenommen, auf einen Haufen gelegt und angezündet“, berichtet | |
Korshan. Ein anderes Mal hätte die Polizei Hunde auf die Gruppe gehetzt, | |
die sie gebissen hätten. „Sie fragen dich: ‚Kommst du nochmal her?‘ Ich | |
sage Nein, und es gibt Schläge. ‚Kommst du nochmal?‘ Nein! ‚Schläge.‘… | |
Meist seien ihnen die Schuhe abgenommen worden, teils hätten Grenzer ihnen | |
angedroht, sie zu erschießen. | |
Die EU hat in Bihać eine alte Fabrik und ein ehemaliges Schülerwohnheim | |
gemietet, als Notunterkunft für die Flüchtlinge. „Die Pushbacks finden | |
statt“, sagt Nicolas Bizel, der Operationschef der EU-Delegation in | |
Bosnien. 2019 hat der UNHCR in Bosnien allein 6.000 Fälle erfasst. | |
François Giddey betreibt für Ärzte ohne Grenzen in der Region eine mobile | |
Klinik. Viele, mit denen die kroatische Grenzpolizei fertig ist, kommen zu | |
ihm. „Gebrochene Füße, Arme und Beine“ seien häufige Verletzungen, die er | |
zu sehen bekommt, sagt Giddey. Die Menschen kämen mit Wunden an den | |
Stellen, an denen die Polizeiknüppel sie getroffen hätten, andere seien | |
unterkühlt, weil die Polizei sie mit dem Gewehr im Anschlag gezwungen habe, | |
eine Stunde im Fluss zu stehen. Ein Flüchtling sei mit einer verbrannten | |
Hand zu ihm gekommen. „Er sagte, so wollte die Polizei ihn zwingen, seine | |
Geldkartennummer zu verraten.“ | |
## Kroatien wartet auf die Schengen-Mitgliedschaft | |
Das Elend und die Gewalt, denen die Flüchtlinge in Bihać ausgesetzt sind, | |
hat einen politischen Hintergrund. Seit 2013 ist Kroatien EU-Mitglied. Doch | |
in die Schengen-Gemeinschaft wurde Kroatien bislang nicht aufgenommen. Das | |
geschieht erst, wenn die Schengen-Innenminister davon überzeugt sind, dass | |
das Land seinen Grenzschutz im Griff hat. „Ich hoffe, dass die Politik | |
unsere Anstrengungen anerkennt, die europäischen Grenzen zu sichern“, sagt | |
der Polizeikommandant Sintic dazu. | |
Doch trotz der Gewalt, von der die Flüchtlinge, die UN, die EU und | |
Nichtregierungsorganisationen berichten, ist die Zahl der irregulären | |
Grenzübertritte von 2018 auf 2019 um 158 Prozent gestiegen. Kroatien | |
fürchtet deshalb, dass es dem Land ergehen könnte wie den EU-Mitgliedern | |
Bulgarien und Rumänien – die warten schon seit 13 Jahren auf den | |
Schengen-Status. | |
Natasha Omerović leitet für die UN-Migrationsorganisation IOM das | |
Aufnahmezentrum für Familien und unbegleitete Minderjährige. Der Jüngste | |
hier ist zwölf Jahre alt. Früher war es ein Wohnheim für GymnasiastInnen | |
aus der Provinz, heute sitzen im Hof Flüchtlinge mit verbundenen Füßen oder | |
Armen. „Jeder, der hier ist, hat es mehrfach versucht“, sagt Omerović. | |
Von hier sind es nur sechs Kilometer bis zur Grenze. | |
Die Reisekosten trug die Fraktion Grüne/EFA des Europäischen Parlaments. | |
12 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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