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# taz.de -- Geflüchtete an der EU-Außengrenze: Spiel des Überlebens
> Tausende Geflüchtete wollen aus Bosnien-Herzegowina in die EU. Doch
> kroatische Grenzer halten sie mit teils brutalen Methoden auf.
Bild: Auf einer Müllhalde errichtet, umgeben von Minenfeldern: das Flüchtling…
Bihać taz | Nebel hängt noch über den Hügeln, als Šuhret Fazlić in einem
schwarzen Skoda über die Landstraße fährt. Ein älterer Mann winkt dem
Bürgermeister vom Straßenrand mit einem Gehstock zu. Fazlić ist früh
aufgestanden, um noch rechtzeitig auf den Berg zu wandern. An den Ort, wo
Bosnien an Kroatien grenzt, die EU.
Fazlić, grünes Poloshirt, Wanderstiefel und Outdoorhose, sieht sich als
bürgernaher Politiker. Er ist ein Mann, der eher in eine
Schrebergartensiedlung passen würde als in den Mittelpunkt einer
humanitären Katastrophe, wie er sagt, die sich gerade in [1][Bihać]
abspielt.
An diesem Morgen ist Fazlić aufgeregt. Er hat hohen Besuch aus Brüssel. Dem
[2][EU-Parlamentarier Erik Marquardt] möchte Fazlić an diesem Morgen
zeigen, bei was ganz Europa wegschaut – und was die Flüchtlingskrise in
seinem kleinen Touristenort angerichtet hat.
Plötzlich stoppt sein Wagen. Fünf Männer laufen ihm auf dem Seitenstreifen
entgegen. Fazlić steigt aus, die Autotüre knallt hinter ihm zu:
„Seid ihr zurückgedrängt worden?“, fragt der Bürgermeister.
Ja, sagen die Männer aus Pakistan.
Wo? Im Wald, dort bei dem engen Weg?
An der grünen Grenze zu Kroatien sei ihnen die Grenzpolizei begegnet,
erzählt einer aus der Gruppe. Fazlić weiß, wovon sie sprechen.
Die kroatische Regierung nennt es Einreiseverweigerung, humanitäre
Organisationen nennen es Pushbacks. Die Geflüchteten sagen dazu: the Game.
Ein Spiel. Die Gewinner schaffen es in die EU. Die Verlierer laufen zurück,
wie diese Gruppe Pakistaner, 20 Kilometer, zum Teil nur in Unterhosen, das
Handy geklaut, die Schuhe und der Schlafsack vor ihren Augen verbrannt und
sie von den Beamten verprügelt. Kein Taxi darf sie mitnehmen. Bussen ist es
untersagt, Geflüchtete zu transportieren.
„Und werdet ihr es noch einmal versuchen?“, fragt Fazlić. Zum Abschied
klopft er einem jungen Mann auf die Schulter: „Viel Glück, Jungs.“
Offiziell kritisiert die Stadtregierung das Vorgehen der kroatischen
Grenzbeamten. Ginge es nach dem Bürgermeister, scheint es, sollten die
Geflüchteten schnell weiterkommen, nach Kroatien, in die EU, Hauptsache
weiter.
## Sie wollen nach Deutschland, Italien und Österreich
Seit 2018 führt [3][die Balkanroute, die vom Nahen Osten in die EU durch
mehrere Balkanstaaten führt], durch den nordwestlichsten Teil Bosnien und
Herzegowinas. Der Kanton Una-Sana sieht auf der Landkarte aus wie eine
ausgestreckte Hand, die nach Kroatien hineinreicht. Ein Flaschenhals nach
Europa, der durch den 60.000-Einwohner-Ort Bihać führt.
Eigentlich ist Bihać eine Postkartenstadt. Seit Kurzem aber auch Symbolort
für eine europäische Debatte: Wer kümmert sich um die Geflüchteten, die an
den EU-Außengrenzen stranden? Es ist die Frage nach der Verantwortung, bei
der jeder in eine andere Richtung zu blicken scheint: nach Brüssel, in die
Hauptstadt Sarajevo, Richtung internationale Organisationen, zu den
Regierungen der Herkunftsländer oder direkt auf die eigene Stadt.
10.000 Geflüchtete registrierte die Internationale Föderation des Roten
Kreuzes (IFRC) seit Anfang des Jahres im Grenzgebiet Una-Sana. Wie viele
tatsächlich Bihać durchlaufen haben, weiß niemand. Schätzen lässt sich nur,
dass die meisten aus Pakistan, Afghanistan, Algerien und Syrien kommen.
Etwa 5 Prozent haben laut UN-Flüchtlingswerk einen Asylantrag gestellt. Die
Geflüchteten wollen weiter. Sie wollen nach Deutschland, Italien und
Österreich. Bihać ist ein Transitort geworden, in dem der Durchlauf ins
Stocken geriet.
„Wir sind frustriert.“ Fazlić bleibt außer Atem an einem Trampelpfad steh…
und stemmt die Hände in die Hüften. „Wir haben 3.000 bis 4.000 Migranten
hier und keine Kompetenzen, damit umzugehen.“ Von Geflüchteten oder
Asylsuchenden spricht Fazlić gar nicht mehr, in seinen Worten gibt es nur
noch: die „Migranten“.
Fazlić ist auch Jäger. Er kann Spuren im Wald lesen und bemerkt
Veränderungen schnell. Sein Revier ist ein lichtdurchfluteter Wald mit
Blick auf die Berge. Vor einem Jahr stand er hier, erzählt Fazlić auf einer
Weggabelung, wo sich die Männer nach der Jagd treffen. Zwei Iraner kamen
ihm entgegen. Sie liefen barfuß. Die kroatische Grenzpolizei hätte ihnen
die Schuhe und ihre Smartphones weggenommen und die Männer geschlagen. Die
humanitäre Krise, die bislang immer woanders im Balkan stattfand, war
plötzlich in Fazlićs Revier angekommen.
Der Weg nach Europa könnte ein netter Wanderweg sein. An diesem Morgen aber
ist er gepflastert mit platt getretenen Wasserflaschen, zerstörten Handys
und mit von Regenwasser getränkten Jacken. Ein rotes Handtuch liegt im
Matsch und ein aufgerissenes Pflegeset.
In der Nacht verstecken sie sich hier und im Morgengrauen versuchen sie,
über die Grenze zu kommen, weiß Fazlić. Es sind ganze Gruppen mit nur einem
Wunsch: endlich nach Europa zu gelangen. Eine rund 900 Kilometer lange
Grenze schlängelt sich zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Die
Übergänge in den Wäldern sind durchlässig. Jede Nacht ziehen bis zu hundert
Geflüchtete aus den Grenzorten los, mit Schlafsäcken, Wasser und
Smartphones, wie Kompasse, die ihre Gesichter im Dunkeln anstrahlen.
„Sie tun so, als wäre es nur ein Spiel“, sagt Fazlić. Junge Männer, die
nichts zu verlieren hätten. Manche wären schon seit vier oder fünf Jahren
unterwegs. Wie ein Computerspiel beschreibt der Bürgermeister den
Grenzübergang. Dann zählt er auf: Das erste Level ist Pakistan. Level zwei:
die Türkei. Level drei: Griechenland. Level vier: Serbien. Und das fünfte:
Bosnien und Herzegowina. „Jedes Level ist hart, aber manchmal bleiben sie
stecken, wie hier in Bihać.“ Fazlić wischt sich mit dem Handrücken den
Schweiß von der Stirn. Er verstehe sie auch: „Wenn sie es nicht ein Spiel
nennen würden, wäre es sehr frustrierend für sie.“ Manche hätten es schon
fünfzehnmal versucht.
Fazlić weiß auch: Die, die es nicht schaffen, stranden in Bihać, zum Teil
über Monate. In einem Bericht Ende Juli beschreibt das Rote Kreuz: Je
strenger die Kontrollen an der kroatischen Grenze, desto mehr Ankünfte gebe
es in Bihać. Temporäre Aufnahmezentren seien überlastet. Menschen müssten
in provisorischen Lagern auf der Straße schlafen.
Seine Stadt sei überwältigt gewesen, sagt Fazlić: „Es war wie ein Besuch
vom Mars.“ Zeitweise sei jeder Sechste in seinem Ort ein Migrant gewesen.
Die Konsequenz war, dass Touristen ausblieben, meint Fazlić. Die Bürger
hätten protestiert. „Das in meiner Stadt – das kann ich nicht zulassen.“
Von dieser Zeit erzählt der Platz hinter dem Busbahnhof: Ein platt
getretener Rasen, in dem Geflüchtete campten, bis sie „weggeräumt“ wurden.
Weil die anderen Lager überfüllt waren, errichtete Fazlić Anfang Juni das
[4][Flüchtlingslager Vučjak], zehn Kilometer außerhalb des Ortes. 850
Geflüchtete wurden in der Stadt eingesammelt und dorthin gebracht. Manche
sagen auch: deportiert.
Die Stadt verlagerte das Flüchtlingsproblem an einen Ort eineinhalb Stunden
Fußmarsch von der Stadt entfernt. Ein holpriger Feldweg führt durch eine
Schrebergartensiedlung in einen Wald. Dschungel, sagen die Geflüchteten
auch, wenn sie von Vučjak sprechen. Büsche rahmen das Lager blickdicht ein,
das nicht mehr ist als eine Ansammlung weißer Zelte, ein paar
Waschcontainer, ein Platz, auf dem immer wieder ein Volleyball auf sandigen
Grund fällt.
Auf einer Ruine steht ein Mann, die Hände zu einem Lautsprecher geformt
ruft er zum Gebet auf. Er schreit mehr, als dass er singt. Kurz ist es
still. Kein Klappern mehr von Besteck auf den Tellern. Die Männer schauen
kurz von ihren Handys auf. Dann geht die Hektik weiter: das Mittagessen,
die Vorbereitung. Im Schatten der gespannten Planen horten Männer Cola und
Fladenbrot. An einem Stand verkauft ein junger Pakistaner Erdnüsse und
Kuchen – Energienahrung für die Wanderung.
Vier Stunden dauert der Aufstieg, weiß Subhan Salihi. Vom Lager aus kann
der Afghane den Gebirgskamm sehen, die kroatische Grenze. Die EU liegt in
Sichtweite.
Salihi sticht aus der Menge. Er ist groß, aber seine Schultern sind nach
vorne gebeugt, als duckte er sich ständig. 24 Jahre ist er alt und hat
graue Haarsträhnen. Seit zehn Monaten ist er auf der Flucht durch
Afghanistan, Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien. Kaum in Bosnien
und Herzegowina angekommen, griff ihn die Polizei in einem Zug auf und
brachte ihn nach Vučjak.
Salihi will so schnell wie möglich weg: nach Italien oder Deutschland,
erzählt er: „Ich versuche mein Bestes, um ein Leben zu haben.“ Obwohl er
genau das in Afghanistan hatte: Der 24-Jährige studierte gerade Buchhaltung
und Computerwissenschaften. Dann sei etwas passiert, sagt er und spricht
leise. Er könne nicht darüber sprechen. Nur so viel: „Keiner verlässt seine
Heimat ohne Grund.“ Wäre Kabul sicher gewesen, wäre es niemals
fortgegangen, sagt er. Aber die Sicherheit, die er in Europa erwartete,
liegt noch viele Etappen entfernt.
Im Camp hört er immer wieder vom Spiel. The Game. Auch von den Schlägen und
der Schikane. In ein paar Tagen wird er es auch versuchen, das erste Mal,
zusammen mit sechs Freunden. Fragt man Salihi, ob er Angst habe, sagt er
nein: Er hofft nur, nicht von der Polizei gefasst und nach Vučjak
zurückgebracht zu werden.
Seit einer Woche ist Atif, der nur mit seinem Vornamen genannt werden will,
auf dem Gelände. Mehrere Male hat der 32-jährige Pakistaner versucht, über
die Grenze zu kommen. Dabei hätten ihm die Beamten alles genommen, was er
bei sich hatte. Sie hätten seine Schuhe und seinen Schlafsack verbrannt und
sein Handy zerstört. Es war sein einziger Kontakt zu seiner Tochter, die er
verließ, als sie drei Monate alt war. Vier Jahre ist das her. „Sie nehmen
dir das Handy weg wegen des GPS. Ohne das Handy finden wir den Weg nicht“,
sagt Atif, die Hände in den Hosentaschen vergraben und mustert die
Landkarte. „Warnung, diese Karte zeigt gefährliche Gebiete, kontaminiert
mit Minen“, steht dort.
Auch deshalb geriet Vučjak in den letzten zwei Monaten in die Kritik:
Minenfelder aus dem Bosnienkonflikt liegen um das Camp, das auf einer
ehemaligen Mülldeponie liegt. Unter der Oberfläche wird Methangas vermutet.
Es gibt keinen Strom und kein fließendes Wasser. Und weil Geflüchtete keine
Möglichkeit haben, ihre Wäsche zu waschen, hat sich Krätze ausgebreitet.
Die Bewohner berichten von Schlangen. Etwa 700 Geflüchtete halten sich hier
auf, so genau weiß es keiner. Für 400 ist das Camp gedacht, ausschließlich
für Männer.
„Die Lebensbedingungen am Standort Vučjak sind völlig inakzeptabel, sie
sind unwürdig“, sagt die IFRC-Sprecherin Katarina Zoric. Auch die
Internationale Organisation für Migration (IOM) und die UN-Delegation in
Bosnien und Herzegowina wollen das Camp nicht anerkennen. Vonseiten der UN
heißt es: Vučjak entspräche nicht einmal dem Mindestmaß an internationalen
Standards für die Unterbringung von Geflüchteten und Asylsuchenden.
„Es ist das Maximum, was wir anbieten können“, sagt dagegen Fazlić wenige
Kilometer weiter, in dem Waldstück, das die meisten Bewohner des Lagers
nachts durchqueren. Fazlić kennt den Vorwurf, dass Vučjak nur eine
Zwischenstation zum Grenzübertritt sei. In Wirklichkeit sei es ein Akt der
Verzweiflung gewesen, sagt er, und hat seine Jacke unter den Arm geklemmt.
Es ist warm geworden.
Zur Grenze sind es nur noch wenige Schritte. Geduldig hört der
EU-Parlamentarier Erik Marquardt während der Wanderung zu, wie Fazlić seine
Überforderung beschreibt. Dann fragt er, ob Vučjak für den Winter
vorbereitet sei. „Nein“, sagt der Bürgermeister: „Bis dahin brauchen wir
eine Lösung.“ Er bleibt stehen und atmet schwer.
## Fazlić fühlt sich von der EU alleingelassen
Es ist Marquardts Aufgabe, sich einen Überblick zu beschaffen. Der
31-Jährige sitzt erst seit Kurzem für die Grünen im EU-Parlament. Aber das
Thema Flucht und Migration beschäftigt ihn seit Jahren: Vor seinem Besuch
in Bosnien und Herzegowina postet er ein Selfie mit der Sea-Watch-Kapitänin
Carola Rackete, er besucht Lesbos und kritisiert die Grenzschutzbehörde
Frontex öffentlich. Früher reiste er die EU-Außengrenzen ab. Marquardt
weiß, es sind ähnliche Dilemmata: ein Hin- und Herschieben von
Verantwortung.
Die Flüchtlingskrise sei ein globales Problem, aber sie fände nur in Bihać
statt, so sagt es Fazlić. Letztes Jahr seien 150 Geflüchtete auf einem Boot
in Spanien angekommen: „Es war ein Problem für ganz Europa über Tage.“ In
Bihać käme jede Nacht genau dieselbe Anzahl an Menschen an. Fazlić fühlt
sich von der EU alleingelassen und endlich ist da ein Repräsentant, dem er
sein Leid klagen kann. Umgerechnet 100.000 Euro gab er bislang für die
Notunterkunft aus. „Ich habe Wichtigeres zu tun“, sagt Fazlić zu Marquardt:
„Es ist nicht mein Problem.“
Knapp 15 Millionen Euro hat die EU-Kommission Bosnien und Herzegowina im
Juni zugesichert, um den Bedürfnissen der Geflüchteten besser begegnen zu
können. Das Geld fließt durch Organisationen wie IOM in Essen, Trinken und
Zelte zur Stillung der Grundbedürfnisse. Im Vergleich dazu stellte die EU
in ihrem Haushaltsplan 2019 rund 534 Millionen Euro für die „innere
Sicherheit“ bereit, den Schutz der EU-Außengrenzen. Mitte Juli ist der
Bürgermeister zu Besuch in Brüssel. Für das Flüchtlingslager Vučjak,
bekommt er eine Absage. Es sei keine adäquate Unterbringung, hieß es auch
vonseiten der EU. Fazlić hat aber eine andere Theorie: Der Grund, warum
kein Geld von der EU fließe, sei das Veto Kroatiens, weil das Lager zu nahe
an der Grenze liege.
Der Grenzübergang verläuft über eine unscheinbare Lichtung im Wald. Zwei
verlassene Häuser. Dazwischen platt getretenes Gras und Jeepspuren. Zwei
Meter weiter beginnt Kroatien. Der Bürgermeister nickt auf die andere
Seite. Immer wieder hätten kroatische Beamte und zum Teil maskierte Männer
die Grenze überschritten, um Migranten gewaltsam zurückzudrängen, so sagt
es Fazlić.
An der Grenze sind sich der EU- und Stadtpolitiker einig: Was sich hier
abspielt, ist nicht rechtens. Von Folter und Menschenrechtsverletzung
spricht Erik Marquardt: „Es kann nicht sein, dass die Situation hier für
sie schlimmer ist als in ihrem Herkunftsland.“ Das habe nichts mit den
Werten der EU zu tun. Dass die Pushbacks ein Bruch internationalen Rechts
sind, beweisen Videoaufnahmen.
Im Dezember 2018 veröffentlichte die Organisation Border Violence
Monitoring anonymisiertes Filmmaterial. Eine versteckte Kamera, sechs
Kilometer von dem Flüchtlingscamp Vučjak entfernt, nahm die Grenze mit
verschiedenen Einstellungen in einem Zeitraum von elf Tagen auf. Die Videos
zeigen etwa 350 Geflüchtete, Kinder, Frauen. Es ist der erste Beweis, dass
und in welchem Ausmaß die Pushbacks stattfinden.
In einem Bericht erklärt die Organisation, dass die Zurückweisung nicht
nach dem eigentlich vorgesehenen Rückkehrverfahren erfolge. Dafür gebe es
seit 2007 ein Abkommen zwischen der EU und Bosnien. Der offizielle
Grenzübergang sei demnach der einzig legale Weg zur Rückführung der
Geflüchteten. Weil diese Prozedur nicht eingehalten wurde, spricht die
Organisation von einem Bruch des Völkerrechts. In Artikel 4 des Vierten
Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention heißt es, dass
kollektive Ausweisung verboten ist.
Als Border Violence Monitoring mit dem Filmmaterial an die Öffentlichkeit
geht, hatten sie bereits 150 Fälle von Polizeigewalt an der Grenze
dokumentiert. Jetzt im September sind es 577. Von Schlägen, Schüssen und
Misshandlungen ist die Rede. Der Zustand sei eine Mischung aus
struktureller Gewalt und mangelnder medizinischer Versorgung, sagt Chandra
Esser. Sie kommt aus Deutschland und arbeitet im Grenzort Velika Kladuša
für die Organisation. Sie weiß: auch Kleinkinder, unbegleitete Jugendliche
und Frauen werden an der Grenze nicht verschont.
Die kroatische Regierung äußert sich nicht zu den Vorwürfen. Im Juli aber
gab die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović gegenüber dem
Schweizer Fernsehen zu: „Natürlich gibt es ein bisschen Gewalt, wenn man
Menschen abschiebt. Mir wurde vom Innenminister, vom Polizeichef und von
den Polizisten vor Ort, die ich getroffen habe, immer wieder versichert,
dass sie nicht zu viel Gewalt anwenden.“
Aus der Sicht von Amnesty International seien Massenabschiebungen und
Pushbacks nach internationalem und EU-Recht jedoch immer illegal. Im März
kritisierte die Organisation, dass brutale Angriffe der kroatischen Polizei
nicht nur von den europäischen Regierungen hingenommen, sondern auch
finanziert wurden.
Die Sonne steht senkrecht am Himmel, als Erik Marquardt und der
Bürgermeister Fazlić wieder die Landstraße erreichen. Auch sie sind an
diesem Tag so etwas wie die Verlierer. Eine Lösung gibt es nicht. Was er
von der EU erwarte, fragt Marquardt. „Dass Kroatien nach internationalem
Recht handelt“, antwortet Fazlić, seine Wangen sind rot. Hilfe ist mit
seinen Worten etwas Pragmatisches geworden – nicht mehr wie etwas, das er
von der EU erwartet. Wenn er von Hilfe spricht, dann meint er nicht mehr
Verantwortung, sondern Essen, Trinken, medizinische Versorgung.
Fast gleichzeitig sitzt Subhan Salihi im Schneidersitz auf dem Bürgersteig
nahe Bihać und wartet auf die Dämmerung. Von der Debatte um sich und die
anderen Geflüchteten im Lager bekommt er nichts mit. Für ihn zählen andere
Dinge: Diese Nacht ist es so weit. Salihi hat seinen Rucksack gepackt.
Wasser, Brot, Snacks. Er ist bereit für die Reise. Dann wird er denselben
Weg gehen, den der EU- und Stadtpolitiker heute gingen.
Fragt man ihn, wer schuld ist an seiner frustrierenden Lage, schaut er
nicht Richtung EU oder Bosnien und Herzegowina. Erst recht nicht nach
Afghanistan. An Brüssel habe er so wenige Erwartungen wie an Bihać. Er
schaut nach vorne: weiterkommen, in Sicherheit zu leben. Er möchte nur ein
gutes Leben haben und aufgenommen werden, sagt er, bevor er zum Spiel
aufbricht.
28 Sep 2019
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Ann Esswein
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