# taz.de -- Elende Zustände auf Balkanroute: Kroatien anprangern | |
> Auf der neuen Balkanroute zeichnen sich Zustände wie in Libyen ab. Die | |
> Zahl der Flüchtlinge steigt wieder und die EU schaut angestrengt weg. | |
Bild: Das improvisierte Flüchtlingslager Vučjak | |
Das Augenmerk der Öffentlichkeit beim Thema Migration ist zurzeit vor allem | |
auf das Mittelmeer gerichtet. Wenn jetzt Innenminister Horst Seehofer | |
[1][plötzlich Menschlichkeit zeigt] und erklärt, Deutschland sei bereit, 25 | |
Prozent der Boat People aufzunehmen, hat dies wohl auch mit europa- und | |
parteipolitischen Überlegungen zu tun. Rund 800 Menschen pro Jahr – das ist | |
überschaubar. Die Mittelmeer-Problematik ist schon zahlenmäßig | |
vergleichsweise klein angesichts [2][der Entwicklung auf die Landroute] | |
über den Balkan. | |
Denn das Abkommen EU–Türkei wackelt. Schon jetzt sind es wieder Tausende | |
verzweifelter Menschen, die auf die griechischen Inseln fliehen. Und es | |
dürften bald mehr werden. [3][Die Stimmung in der Türkei gegenüber | |
syrischen Flüchtlingen hat sich gewandelt]. Präsident Erdoğans | |
Kompromisspolitik gegenüber Europa wird zunehmend hinterfragt. | |
Dies wird noch verstärkt durch die Unsicherheiten, die sich aus der Lage in | |
den noch nicht vom syrischen Regime beherrschten Gebieten rund um Idlib | |
ergeben. An den Fronten bewegt sich zwar im Augenblick wenig, doch die | |
Angst vor weiteren drei Millionen Syrern, die aus diesem Gebiet in die | |
Türkei fliehen, wird immer größer. Dabei sind noch nicht einmal die Risiken | |
eingerechnet, die mit dem Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran | |
zusammenhängen. Die iranischen (Hilfs-)Truppen, die das syrische Regime | |
unterstützen, könnten jederzeit den Krieg im Land verschärfen, falls Iran | |
von Saudi-Arabien und den USA angegriffen würde. | |
Unterm Strich ist mit einem Szenario zu rechnen, das sich schon jetzt | |
abzeichnet: Immer mehr Menschen versuchen von der Türkei aus nach | |
Griechenland und Bulgarien zu fliehen. Und sich von dort aus auf den Weg | |
durch Südosteuropa zu machen, um Westeuropa zu erreichen. Schon heute sind | |
es Tausende, die sich auf diesen Weg begeben haben. Nicht nur Syrer, auch | |
Pakistaner und Afghanen. | |
Zwar haben Nordmazedonien und Ungarn die Grenzen ziemlich dicht gemacht, | |
doch es gibt für findige Schlepper immer noch Löcher in dem Grenzgewirr auf | |
dem Balkan. Und nicht alle Migranten sind mittellos. Unterbezahlte | |
Polizisten und Behördenvertreter in diesen Staaten sind realistischerweise | |
anfällig, wenn viel Geld im Spiel ist. Das gilt für Griechenland, Kosovo | |
und Albanien ebenso wie für Rumänien und Serbien, Bosnien und Herzegowina | |
und sogar für Kroatien. | |
Damit gerät der ohnehin fragile Staat Bosnien und Herzegowina in den Fokus | |
der Fluchtbewegung. Schon jetzt haben sich rund 7.000 Personen allein in | |
dem im Nordwesten des Landes gelegenen Gebiets um Bihać angesammelt. Von | |
hier aus hoffen sie über die bewaldeten Berge in das EU-Land Kroatien und | |
von dort aus nach Italien oder nach Mitteleuropa zu gelangen. Indem es | |
einige mit Hilfe von Schleppern und Bestechungsgeldern schaffen, dieses | |
Hindernis zu überwinden, ist eine Sogwirkung auch für mittellose Migranten | |
entstanden. | |
In Gruppen versuchen sie über noch oftmals im letzten Krieg verminte | |
Gebiete Kroatien zu erreichen. Kroatische Polizisten und Sicherheitskräfte | |
sind dazu übergegangen, die Migranten unter den Augen der europäischen | |
Öffentlichkeit mit brutalen Methoden abzuwehren. Migranten werden | |
geschlagen, ihnen werden Geld, Schuhe und Handys abgenommen und sie werden | |
mit Gewalt zur Grenze und auf bosnisches Territorium zurückgebracht. | |
Der Sicherheitsminister Bosnien und Herzegowinas beklagte kürzlich die | |
Grenzverletzungen vonseiten der kroatischen Grenzschützer und kündigte | |
Gegenmaßnahmen an. An der grundsätzlichen Lage hat dies nichts geändert. | |
Kurz vor dem Winter und den jetzt schon empfindlich niedrigen Temperaturen | |
ist eine humanitär unhaltbare Situation entstanden. Nicht nur in den | |
schlecht heizbaren ehemaligen Fabrikhallen vor den Toren der Stadt, wo die | |
meisten Migranten untergekommen sind. Im Fokus steht das [4][auf einer | |
Müllhalde errichtete Lager Vučjak]. | |
Internationale Hilfsorganisationen weigern sich angesichts der Zustände | |
sogar, dort tätig zu werden. Nur der privaten Initiative des deutschen | |
Journalisten Dirk Planert und anderer Freiwilliger ist es zu verdanken, | |
dass dort wenigstens Nothilfe geleistet wird. Eines steht jetzt schon fest: | |
Die Hilfsorganisationen wollen im ganzen Land zwar neue Lager errichten. | |
Das würde den Migranten kurzfristig über den Winter helfen. Doch weder in | |
Brüssel noch in den Hauptstädten Europas scheint die Dringlichkeit des | |
Problems wahrgenommen zu werden. Sie wird unter den Teppich gekehrt. | |
Dieses Schweigen macht misstrauisch. Soll die Migrationsproblematik ganz | |
„pragmatisch“ auf den seit dem Krieg der 90er Jahre verarmten und fragilen | |
Staat Bosnien und Herzegowina abgewälzt werden? Sollte sich das Szenario | |
einer anschwellenden Migrationsbewegung über die Balkanroute bewahrheiten – | |
woran kaum zu zweifeln ist –, würde Bosnien und Herzegowina als eine Art | |
„europäisches Libyen“ weiter destabilisiert. | |
Dafür spricht, dass man sich nicht einmal dazu aufraffen kann, die | |
gravierenden Menschenrechtsverletzungen der kroatischen Sicherheitskräfte | |
auch nur anzusprechen. Dass Migranten geschlagen und gegen alle | |
UN-Konventionen und gegen EU-Recht von Kroatien ins Nachbarland | |
zurückgeschoben werden, ist ein Skandal und kann nicht gerechtfertigt | |
werden. | |
Aber weder die neue Kommissionspräsidentin von der Leyen noch Kanzlerin | |
Angela Merkel äußerten bei kürzlichen Besuchen in Kroatien [5][Kritik an | |
der nationalistisch-konservativen Führung des Landes], die ab 1. Januar | |
2020 die EU leiten wird. Im Gegenteil: Das „unproblematische“ Land (FAZ) | |
wird hofiert. Es ist vonseiten der EU und Deutschlands also nicht zu | |
erwarten, dass tragfähige Konzepte für einen menschenwürdigen Umgang mit | |
der Migration in dieser Region erarbeitet werden. Nur öffentlicher Druck | |
könnte dies ändern. Aber der ist bisher ausgeblieben. | |
23 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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