# taz.de -- Parlamentswahl im Kosovo: „Das Land grundlegend erneuern“ | |
> Zwei junge Frauen schicken sich an, bei der Wahl am Sonntag den Kosovo zu | |
> verändern. Ihr Hauptthema: die Bekämpfung der Korruption. | |
Bild: Kann sie wirklich dauerhaft etwas verändern? Vjosa Osmani, Chefin der �… | |
PRISHTINA taz | Bei den [1][Wahlen am Sonntag] steht im Kosovo ein | |
dramatischer politischer Wandel bevor. Es sieht ganz so aus, als würde die | |
Macht der bisherigen regierenden Parteien gebrochen werden. „Wir müssen | |
jetzt die Chance ergreifen,“ sagt die 38-jährige in London ausgebildete | |
Fitore Pacolli. Sie gehört zu den Spitzenkandidaten der oppositionellen | |
Partei „Selbstbestimmung“, die schon bei den letzten Wahlen 2017 mit 27 | |
Prozent der Stimmen zur stärksten Partei im Parlament aufgerückt ist. | |
Vor 20 Jahren, während des Kosovokrieges 1998/99, ist Fitore Pacolli | |
zusammen mit ihrer Mutter aus Kosovo nach London geflohen. Dort hat die | |
junge Frau eine Eliteerziehung genossen und hat an der London School of | |
Economics studiert. Die energische Wirtschaftswissenschaftlerin hätte als | |
Akademikerin in England Karriere machen können. Doch sie ist im Gegensatz | |
zu anderen nach Kosovo zurückgekehrt. „Ich kann es nicht mehr ertragen, in | |
welchem Zustand mein Land ist. Wir müssen dieses Land von Grund auf | |
erneuern und als Erstes die Korruption und die Vetternwirtschaft | |
bekämpfen“, sagt sie mit ihrem britischen Upperclass-Akzent. | |
Seit ihrer Rückkehr vor sieben Jahren ist sie zum engsten Kreis der | |
Führungsriege ihrer Partei um den Vorsitzenden, den ehemaligen linken | |
Aktivisten, Studentenführer, Menschenrechtler und Oppositionsführer Albin | |
Kurti aufgestiegen. „Die jüngste Bevölkerung Europas – fast 50 Prozent si… | |
unter 30 Jahre alt – erwartet von uns, dass wir das Steuer herumreißen“, | |
sagt sie. | |
Für die Studenten an der Universität Prishtina, die vor der Bibliothek des | |
Landes herumstehen, ist klar: sie selbst haben kaum eine Chance, jemals | |
einen Job in ihrem Land zu erhalten. „Da musst du Verwandte in der | |
Regierung haben, um überhaupt was verdienen zu können“, sagt einer. Die | |
Jugendarbeitslosigkeit ist mit 70 Prozent die höchste in Europa. Die | |
vorhandenen Jobs würden an die Parteigänger, Verwandte und Nachbarn der | |
Politiker der herrschenden Parteien vergeben, bestätigte kürzlich auch das | |
renommierte „Institute for Middle East and Balkanstudies“ in Ljubljana die | |
Meinung der Studenten. | |
## Alles an sich reißen – nannte man Privatisierung | |
Für die 19-jährigen Nita und Bekim ist es völlig ungerecht, dass sie als | |
junge Menschen nicht ins Ausland reisen dürfen. „Mein Onkel hat mich nach | |
Frankfurt eingeladen, jetzt muss ich Monate auf ein Visum warten“, sagt | |
Bekim. Dass ausgerechnet die Kosovaren Visa brauchen, Leute aus Moldau, | |
Kolumbien oder Georgien nicht, verbittert die jungen Leute. Sie verstehen | |
nicht, warum sie diskriminiert sind, obwohl viele internationale | |
Organisationen wie die UNO und die EU seit dem Krieg 1999 in Kosovo vor Ort | |
sind. | |
Mit solchen Konflikten haben die Mitglieder der herrschenden Parteien nicht | |
zu kämpfen, ihre Politiker und Diplomaten sichern sich die Reisefreiheit. | |
Man nimmt die Privilegien ganz selbstverständlich hin. So wie man es als | |
normal empfand, sich als Kämpfer der ehemaligen Befreiungsorganisation UCK | |
im neuen Staat breitzumachen und alles vom Volkseigentum an sich zu reißen, | |
was möglich war. Das nannte man Privatisierung. | |
Zwar sind manche Führer wie Hashim Thaci und Ramush Haradinaj bei ihren | |
Anhängern, die von ihrer Herrschaft profitieren, bis heute populär, doch | |
deren Parteien, die „Demokratische Partei Kosova“ PDK und die AAK, die | |
„Allianz für den Fortschritt“ des kürzlich zurückgetretenen | |
Premierministers Ramush Haradinaj, haben nicht nur bei den jungen Leuten | |
dramatisch an Renommee eingebüßt. | |
Immerhin hat sich unter ihrer Herrschaft Kosovo nach außen hin gewandelt. | |
In der Hauptstadt Prishtina wird gewerkelt und gebaut, es sind viele neue | |
Wohnungs- und Geschäftsgebäude entstanden. Die über 300.000 Einwohner | |
zählende Stadt verfügt jetzt über eine regelrechte Skyline. Es gibt wieder | |
Strom und Wasser, die Straßen wurden ausgebaut, die Autobahn von Prishtina | |
zur albanischen Hauptstadt Tirana ist sichtbares Zeichen für die | |
verbesserte Infrastruktur. | |
## Eine politisch-kriminelle Struktur ist entstanden | |
Auch Kleinstädte und Dörfer sind gegenüber ihrem Zustand vor 20 Jahren | |
nicht wiederzuerkennen. Doch wer bekam die Aufträge für den Bauboom, wer | |
erhielt die Erlaubnis, staatliches Eigentum in Privateigentum umzuwandeln? | |
Wer hat seine Finger in den neu entstandenen und von der Regierung | |
bevorzugten Unternehmen? Präsident Hashim Thaci steht wie die gesamte | |
Führungsriege seiner Partei in dem Geruch, an verschiedenen Firmen direkt | |
und indirekt beteiligt zu sein. Die Institutionen des Staates, vor allem | |
das Justizsystem und die Verwaltung, haben keine Macht, diese Vorgänge zu | |
kontrollieren und Unregelmäßigkeiten einzuschränken. Es sei eine | |
politisch-kriminelle Struktur entstanden, stellt das Institute for Middle | |
East and Balkanstudies aus Ljubljana trocken fest. | |
Alle gegenüber den internationalen Institutionen gemachten Versprechungen, | |
die Korruption zu bekämpfen, seien im Sande verlaufen. „Wer das ernsthaft | |
will, muss sich zuallererst um die Korruption in den eigenen Reihen | |
kümmern“, heißt es in einer Analyse des Instituts. Diese Aufforderung gilt | |
auch für die jetzt zur Opposition gehörende „Demokratische Liga Kosova“ | |
(LDK), die bei den Wahlen 2017 schon einmal vor der Entscheidung stand, | |
gemeinsam mit der Partei „Selbstbestimmung“ eine neue Regierung zu bilden. | |
Die alte Führung unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Isa Mustafa | |
entschied jedoch damals, mit den alten Mächten zu koalieren, was zu | |
Protesten in der eigenen Wählerschaft führte. | |
Diese spülten eine kompromisslose und aktive Frau in die Führung der | |
Partei. Obwohl Vjosa Osmani auf der Wahlliste von 2017 nur auf den | |
eigentlich aussichtslosen 82. Platz gesetzt worden war, wurde die | |
Juraprofessorin nach vorne gewählt. Sie bekam die meisten Stimmen aller | |
Kandidaten der Partei, die insgesamt 25 Prozent der Stimmen hinter sich | |
vereinigen konnte. Vor den Wahlen jetzt musste die Altherrenriege nachgeben | |
und Vjosa zur Spitzenkandidatin machen. | |
Als Parlamentsmitglied tat sich die quirlige Enddreißigerin gegen die | |
Korruption und für die Stärkung des Justizsystems hervor. Wenn sie spricht, | |
springt ihre Energie auf die Zuhörer über. Sie kann Säle zum Kochen | |
bringen. Kein Wunder, dass viele Beobachter glauben, sie könnte die neue | |
Premierministerin Kosovos werden. Vorausgesetzt, die LDK läge vor der | |
Partei „Selbstbestimmung“ und die beiden fänden zueinander. | |
## „400.000 Euro“ gehen am Tag verloren | |
Beide Parteien sind sich darin einig, als erste Schritte die | |
Staatsanwaltschaften und die Justiz zu stärken. „Es kann doch nicht | |
angehen, dass ein Telefonanruf aus dem Präsidentenbüro das Urteil eines | |
Gerichts beeinflussen kann“, sagt Vjosa Osmani. „Wir verlieren durch die | |
Korruption 400.000 Euro am Tag, wir müssen Übergangsregelungen schaffen.“ | |
Dies sei auch die Voraussetzung dafür, die Kriminalität im Lande ernsthaft | |
zu bekämpfen. | |
„Der Staat muss die Kontrolle über die Polizei gewinnen“, betonen Vjosa | |
Osmani und Fitore Pacolli von der Partei „Selbstbestimmung“ gleichermaßen. | |
Beide wollen das Erziehungssystem modernisieren, die Universitäten wieder | |
funktionsfähig machen. Beide stimmen darin überein, dass man schrittweise | |
vorgehen muss. „Wir brauchen mindestens zwei Regierungsperioden“, betont | |
Fitore Pacolli. | |
Stehen wir vor einer Revolution? Frauen-Power? Vjosa Osmani lacht. Es sei | |
keine Revolution im alten Sinne, doch es müsse Leute in den | |
Spitzenpositionen geben, „die saubere Hände haben, die niemals gestohlen | |
haben. Wir sind die jüngste Nation in Europa, wir sollten unsere | |
Möglichkeiten nutzen“, sagt Osmani. | |
Aber es gibt auch Reibungspunkte zwischen den beiden Parteien. Albin Kurti, | |
der sehr bescheiden lebende und als unbestechlich geltende Chef der Partei | |
„Selbstbestimmung“ will neben dem Erziehungssystem das Sozialsystem | |
erneuern, einen Mindestlohn einführen, die Krankenversicherung | |
funktionsfähig machen, die Mindestrente von jetzt 80 Euro spürbar erhöhen. | |
## Zu viele Reformen will Osmani doch nicht riskieren | |
Für manche Mitglieder der LDK ist er deswegen ein Kommunist, vor allem, als | |
seine Partei vorschlug, im Gegenzug die Gehälter der Politiker wesentlich | |
zu senken. Die Ministerien sollen verschlankt und die Vizeminister und | |
andere unsinnige Posten abgeschafft werden, darin allerdings stimmt Vjosa | |
Osmani mit Kurti überein. | |
Zu viele soziale Reformen will sie jedoch nicht riskieren. Denn sie kann | |
sich bei allem Willen zur Erneuerung auf ihre Partei nicht völlig | |
verlassen. Zu viele ihrer Funktionäre haben keineswegs „saubere“ Hände, | |
innerparteiliche Kämpfe stehen bevor. Einige Spannungen mit dem künftigen | |
Koalitionspartner sind also absehbar. Albin Kurti weigert sich zudem, die | |
Flagge Kosovos anzuerkennen, und bevorzugt die albanische Flagge. Will | |
Kurti das unabhängige Kosovo nur reformieren und dann Kosovo mit Albanien | |
vereinigen? Vjosa Osmani stellt demgegenüber klar: „Das unabhängige Kosovo | |
ist eine multinationale Gesellschaft mit definierten Grenzen und eigenen | |
Symbolen.“ Das müsse Kurti akzeptieren. Basta. | |
5 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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