| # taz.de -- Geflüchtete in der Türkei: Keine Heimat in Istanbul | |
| > Hassan al-Ali verlässt seine Wohnung aus Angst vor den Polizeirazzien | |
| > nicht mehr. Der Syrer fürchtet, aus der Türkei ausgewiesen zu werden. | |
| Bild: Diese Männer wissen nicht, ob sie wieder zurück nach Syrien müssen. Si… | |
| Hassan al-Ali bestellt nur noch Delivery. Das Essen: Delivery, Trinken: | |
| Delivery, sogar seine Shisha: Delivery. Seit einem Monat hat er das Haus | |
| kaum verlassen, lässt Lebensmittel und alle anderen Gebrauchsgüter | |
| anliefern. Vor allem [1][seit die türkische Polizei damit begonnen hat, | |
| SyrerInnen zu kontrollieren] und diejenigen festzunehmen, die keine | |
| gültigen Aufenthaltspapiere besitzen. Seither fürchtet sich Hassan al-Ali, | |
| dessen richtiger Name hier aus verständlichen Gründen nicht genannt werden | |
| kann, auch nur kurz zum Supermarkt rauszugehen. Denn er weiß: Wenn ihn die | |
| Polizei erwischt, bringt sie ihn schlimmstenfalls zurück nach Syrien, in | |
| das Land, aus dem er einst geflohen ist. | |
| Mitte Juli haben die türkischen Behörden in Istanbul damit begonnen, gegen | |
| SyrerInnen vorzugehen, die keinen legalen Aufenthaltstitel besitzen. Sie | |
| kontrollieren die Menschen auf der Straße, in der Metro, und sie führen | |
| Razzien in ihren Wohnungen durch. Sie fragen sogar die Muhtars, wie die | |
| inoffiziellen Quartiervorsteher in der Türkei genannt werden, in welchen | |
| Häusern SyrerInnen leben, erzählt al-Ali. | |
| Vor rund drei Wochen teilte die Provinzregierung mit, dass alle | |
| AusländerInnen ohne einen legalen Aufenthaltsstatus ihren bisherigen | |
| Wohnort verlassen müssen. Wer in der Millionenmetropole Istanbul lebt, aber | |
| eigentlich in einer anderen türkischen Provinz registriert ist, hat einen | |
| Monat Zeit, um dorthin zurückzukehren. Am 20. August läuft diese Frist ab. | |
| Offiziell sind in Istanbul rund 560.000 SyrerInnen gemeldet – doch dazu | |
| kommen mehrere Hunderttausend, [2][die anderswo registriert sind oder | |
| überhaupt keine Aufenthaltserlaubnis besitzen.] Wie viele Menschen bereits | |
| aus ihrem Wohnort ausgewiesen worden sind, weiß man nicht: Es sollen | |
| mehreren Hundert bis zu einigen Tausend sein. | |
| „Diese Ausschaffungen verstoßen gegen türkisches und internationales | |
| Recht“, sagt dazu Ghazwan Koronful, ein Rechtsanwalt und zugleich Vorsteher | |
| des Verbands freier syrischer Anwälte. Schon die Razzien in den Wohnhäusern | |
| seien ein klarer Rechtsbruch; dafür bräuchte es mindestens einen | |
| Durchsuchungsbefehl und den Verdacht auf ein schweres Verbrechen, | |
| argumentiert er. Nur zum Zwecke einer Ausweiskontrolle seien solche Razzien | |
| nicht rechtmäßig. Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch | |
| kritisierte die Rückführungen als illegal. | |
| ## Abends poltert es an der Tür | |
| Es war elf Uhr am Abend. Mohammed al-Hussein und seine Freunde waren gerade | |
| erst von der Arbeit in der Fabrik nach Hause gekommen, als es an die Tür | |
| polterte, berichtet er. Da sei die Polizei hereingestürmt, wollte die | |
| Ausweise der sechs SyrerInnen sehen. Al-Hussein, auch sein richtiger Name | |
| kann hier nicht genannt werden, ahnte, was vor sich geht, versuchte zu | |
| entkommen und sprang vom Balkon. Er hatte bei seiner Ankunft in der Türkei | |
| im Jahr 2016 vergeblich versucht, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. | |
| Die Wohnung liegt im zweiten Stock, beim Sturz brach er sich den Fuß. Die | |
| türkischen Nachbarn sahen ihn – und brachten ihn zur Polizei. „Sie ließen | |
| mich nicht einmal zurück nach Hause, um meinen syrischen Ausweis und Geld | |
| zu holen“, sagt er. Die Beamten hätten ihn zu einer Polizeistation | |
| gebracht. Am nächsten Morgen fuhren sie erst in den asiatischen Teil | |
| Istanbuls, von dort aus in einem Bus weiter nach Kilis, ganz im Osten der | |
| Türkei gelegen. | |
| Die Stadt liegt an der syrischen Grenze. Zwei Tage hätten sie ihn in ein | |
| Stadion gesperrt, zusammen mit etwa Tausend weiteren SyrerInnen, erzählt | |
| al-Hussein. Von dort aus sei er ihn in ein Camp gebracht worden. Zum | |
| Schlafen ging es dort in einen Container. „Es war heiß, es gab keine | |
| Klimaanlage. Zweimal am Tag brachten sie uns ganz wenig zu essen. Es war | |
| schrecklich.“ | |
| Nach drei Tagen seien die Beamten gekommen und hätten ihn und die anderen | |
| Verschleppten im Camp gefragt, ob sie nicht zurück nach Syrien wollten. | |
| „Wir haben alle Ja gesagt“, sagt al-Hussein. „Wir wollten nur noch weg von | |
| diesem Ort.“ Sie mussten ihre Fingerabdrücke unter ein Dokument setzen, mit | |
| dem sie bezeugten, freiwillig zurückzukehren. Und damit stimmten sie zu, | |
| während der nächsten fünf Jahre die Türkei nicht zu betreten. Dann brachten | |
| die türkischen Soldaten sie an die Grenze und übergaben sie der Freien | |
| Syrischen Armee. | |
| Es ist das, was die türkischen Behörden „freiwillige Rückkehr“ nennen. D… | |
| Regierung dementiert, dass sie SyrerInnen unter Zwang abschiebt, denn | |
| damit würde sie gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen. | |
| Tatsächlich haben die Rückkehrer ein Dokument unterschrieben, das ihren | |
| Rückkehrwunsch bezeugt, so wie al-Hussein. Doch der Rechtsanwalt Ghazwan | |
| Koronful betrachtet das eher als einen schlechten Witz: „Freiwillig wäre, | |
| wenn ich von mir aus zu den Behörden gehe und sage, ich will zurückgehen“, | |
| sagt er. Aber jemanden einzusperren und nur herauszulassen, wenn er nach | |
| Syrien geht, habe mit Freiwilligkeit wenig zu tun. | |
| ## Mahrmals in die Türkei geflüchtet | |
| Dass die Polizei in Istanbul aktiv nach SyrerInnen sucht, die keinen | |
| legalen Aufenthalt haben, zeigt, wie prekär die Situation der syrischen | |
| Flüchtlinge in der Türkei mittlerweile geworden ist. Doch eigentlich sind | |
| die Rückführungen nichts Neues; nur dass sie inzwischen einem offiziellen | |
| Dekret folgen und auch jene betreffen, die in der Türkei leben und | |
| arbeiten. Nur wer bisher schon versucht hatte, über die Ägäis oder die | |
| Grenze nach Griechenland zu fliehen, musste schon seit Monaten damit | |
| rechnen, nach Syrien zurückgebracht zu werden. | |
| Das musste auch Hassan al-Ali erfahren. Vor sieben Monaten hatte er | |
| versucht, auf die griechischen Inseln zu fliehen. Doch die türkische | |
| Küstenwache fing ihn ab. „Sie sagten mir, sie würden mich für ein paar Tage | |
| in ein Camp in der Provinz Hatay bringen, um die Formalitäten zu regeln, | |
| bevor sie mich wieder gehen ließen“, sagt er. Stattdessen brachten sie ihn | |
| zurück nach Syrien. „Als ich meine Eltern anrief und sagte, ich sei in | |
| Idlib, konnten die es kaum fassen“, sagt al-Ali. Schon am nächsten Tag sei | |
| er zurück in die Türkei geflohen. | |
| Für die Europäische Union, die im März 2016 das Flüchtlingsabkommen mit der | |
| Türkei unterzeichnete, gilt die Türkei als ein sicherer Drittstaat – dies | |
| erlaubt es Europa, Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken, die zuvor | |
| illegal nach Griechenland geflohen waren. Zwar funktionieren diese | |
| Abschiebungen mehr schlecht als recht, doch jetzt, so sieht es zumindest | |
| Ghazwan Koronful, könne man die Abschiebungen auch juristisch nicht mehr | |
| rechtfertigen. „Das Abkommen ist ein Vertrag zwischen zwei Ländern, bei dem | |
| das Recht auf Asyl der Syrer komplett übergangen wird“, sagt der Anwalt. | |
| Die EU wolle sie nicht haben, die Türkei hält sie von der Einreise in die | |
| EU ab. Gleichzeitig wolle die Türkei die SyrerInnen nun ebenfalls | |
| loswerden. „Wo sollen wir denn noch hin?“, fragt er rhetorisch. | |
| Seit die Razzien gegen die SyrerInnen begonnen haben, ist Hassan al-Ali | |
| entschlossen, die Türkei nun endlich Richtung Griechenland zu verlassen – | |
| trotz des Risikos, auf dem Weg erneut festgenommen und abgeschoben zu | |
| werden. Das schreckt ihn nicht ab. „Was soll ich noch in der Türkei?“, sagt | |
| er. Er sei nicht der Einzige, der so denkt. Einige SyrerInnen versuchten, | |
| ein Visum für Ägypten, Algerien oder die Vereinten Arabischen Emirate zu | |
| erhalten, berichtet er. Und viele würden sich darum bemühen, über | |
| Griechenland nach Europa zu gelangen. „Die Leute sind erschöpft von dem | |
| Leben hier“, sagt er. | |
| Mohammed Al-Hussein ist inzwischen in seiner Heimatstadt al-Hasaka im von | |
| Kurden kontrollierten Nordosten Syriens angekommen. Er will jedoch so | |
| schnell wie möglich zurück in die Türkei. „Hier kann ich nicht arbeiten, | |
| ich kann nicht einmal das Haus verlassen“, sagt er. Er ist sowohl von den | |
| Kurden als auch vom syrischen Regime zum Militärdienst aufgeboten. „Aber | |
| ich will nicht kämpfen. Ich will nur in Frieden und Sicherheit leben.“ | |
| 15 Aug 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Meret Michel | |
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| Deniz Yücel | |
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