# taz.de -- Syrische Geflüchtete in der Türkei: Hufeisenkoalition in Istanbul | |
> Die AKP lässt eine Hau-Ab-Kampagne gegen Syrer*innen in Istanbul | |
> durchführen. Bürgermeister İmamoğlu rühmt sich, Vater des Gedanken zu | |
> sein. | |
Bild: Syrer*innen in Istanbul fürchten sich vor zu viel Sichtbarkeit | |
Muhammed läuft in einen Buchladen in einer der hinteren Gassen des | |
Istanbuler Bezirks Fatih hinein. Der Laden ist voller arabischer Schul- und | |
Kinderbücher. Muhammed ist einer von mehreren hundertausendend Syrer*innen | |
in Istanbul, die aufgrund der massenhaften Polizeieinsätze der letzten Tage | |
beunruhigt sind. Als junger Mann von 19 Jahren kam er vor zwei Jahren nach | |
Istanbul, um Arbeit zu finden. | |
Er muss schnell wieder zurück an seine Stelle als Verkäufer und redet | |
gehetzt, um sich bloß nicht zu verspäten: „Ich teile mir eine Wohnung mit | |
meiner schwer kranken Schwester, meinem Schwager, der im Krieg am Fuß | |
verletzt wurde, und meinen drei Nichten und Neffen, von denen einer | |
beeinträchtigt ist. Ich bin der einzige in der Familie, der eine Arbeit | |
hat. Ich kann nicht wieder zurück. Weder jetzt noch nach dem 20. August.“ | |
Am 22. Juli kündigte das Gouverneursamt von Istanbul der Presse an, gegen | |
„irreguläre Migration“ vorgehen zu wollen, und noch am gleichen Tag nahmen | |
die Kontrollen der Sicherheitskräfte, insbesondere gegen Syrer*innen, stark | |
zu. Den Betroffenen wurde eine Frist gesetzt: Wer nicht in Istanbul | |
registriert ist, muss die Stadt bis zum 20. August verlassen. Laut | |
Innenministerium leben in Istanbul 1.069.860 Geflüchtete, von denen 522.381 | |
offiziell registriert sind. Viele Syrer*innen sind aus den teils | |
abgelegenen Kleinstädten hergekommen, in denen sie offiziell registriert | |
sind. | |
Seit ein paar Tagen werden Busse im Stadtteil Tarlabaşı kontrolliert. | |
Ausweiskontrollen in Lokalen in Beyoğlu haben zugenommen. In Stadtteilen, | |
in denen Syrer*innen vermehrt wohnen und arbeiten, fanden Polizeirazzien | |
statt. Das Innenministerium gab bekannt, dass bei den Razzien im Juli 6.122 | |
nicht in Istanbul registrierte Personen in Untersuchungshaft genommen | |
wurden – darunter auch 2.600 Afghan*innen. Für 2.630 Syrer*innen konnte | |
überhaupt keine Eintragung in der Türkei festgestellt wurden. Sie wurden in | |
vom Ministerium angegebene Aufnahmezentren in verschiedenen Provinzen | |
geschickt. | |
## Offene Tür für Gäste | |
Als Muhammed vor sechs Jahren seine Eltern in Damaskus zurückließ, wurde er | |
in der Industriestadt Bursa in der Westtürkei registriert. Doch seine große | |
Schwester war bereits in Istanbul. Also machte Muhammed sich auf den Weg | |
dorthin und blieb. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass er einst die | |
Stadt verlassen muss, in der er seit zwei Jahren lebt, arbeitet und | |
Freundschaften geschlossen hat. Muhammed verbringt einen Großteil seiner | |
Zeit entweder auf der Arbeit oder mit der Familie. Er fürchtet, dass die | |
jüngsten Entwicklungen ihm das Leben erschweren werden. | |
Zumindest hat er Glück: Seine Arbeitsstelle liegt unweit seiner Wohnung. | |
Muhammed hat seine Methoden entwickelt, um den Sicherheitsbeamten nicht in | |
die Hände zu geraten. Er verlässt nie sein Wohnviertel, in dem er sich | |
sicher fühlt, und immer, wenn er auf der Straße einen Polizisten sieht, | |
wechselt er die Richtung. Auf die Frage, ob er das Viertel notfalls | |
verlassen würde, sagt er entschieden: „Nein, ich kann nicht!“ Die Zeiten, | |
in denen er ab und zu mit seinen Freunden am Taksim ausging, scheinen | |
Vergangenheit zu sein. | |
Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 verfolgte die Türkei eine | |
Politik der offenen Tür. In dieser Zeit hat sich die Haltung der | |
Bevölkerung gegenüber den Syrer*innen maßgeblich verändert: Die anfänglich | |
im offiziellen Sprachgebrauch als „Gäste“ bezeichneten Syrer*innen wurden | |
zu ungebetenen Gästen. In einer Studie des Zentrums für Migrations- und | |
Politikforschung der Hacettepe Universität aus dem Jahre 2014 sahen 72,2 | |
Prozent der Befragten die Syrer*innen als Menschen, die vor Gewalt | |
flüchten, als „unsere Gäste“ in der Türkei und als Glaubensgeschwister. | |
Eine aktuelle Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts KONDA | |
ergab allerdings, dass die Zahl derer, die nicht neben Syrer*innen wohnen | |
wollen, deutlich gestiegen ist. Während 2016 noch 57 Prozent der Befragten | |
angaben, dass sie mit Syrer*innen im selben Viertel leben würden, sind es | |
2019 nur noch 31 Prozent. Einer der wichtigsten Faktoren für diesen Wandel | |
ist die Annahme, dass Syrer*innen für die Wirtschaftskrise im Land | |
verantwortlich seien. | |
Er wurde nicht nur durch die diskriminierende Rhetorik von | |
Oppositionspolitikern befeuert, die gegen die Aufnahmepolitik der Regierung | |
anredeten, sondern auch durch Fake News, die in den sozialen Medien | |
kursieren. Dort heißt es, Syrer*innen bekämen ein Grundeinkommen vom Staat, | |
würden in Krankenhäusern bevorzugt und ohne Wartezeiten behandelt oder | |
dürften sich ohne Aufnahmeprüfung an den besten Universitäten der Türkei | |
einschreiben. Muhammed erzählt uns, dass er nicht nur keinerlei finanzielle | |
Unterstützung vom Staat bekommt, sondern nicht einmal wüsste, wo er sich | |
melden sollte, um etwas zu beantragen. | |
## Mangelware Arbeitserlaubnis | |
In der Türkei leben insgesamt 4,9 Millionen Immigrant*innen unter einem | |
temporären Schutzstatus. 3 Millionen 643 Tausend von ihnen sind | |
Syrer*innen. Laut den Informationen des Referatsleiters für Internationale | |
Arbeitskräfte beim Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit, Sadettin | |
Akyıl, haben aber nur 82.000 Syrer*innen eine offizielle Arbeitserlaubnis. | |
Da es recht schwer ist, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, haben viele | |
Syrer*innen wie Muhammed keine andere Wahl, als unregistriert und informell | |
zu arbeiten. | |
Das Ministerium, bei dem Syrer*innen persönlich einen Antrag auf | |
Arbeitserlaubnis stellen müssen, erlaubt ihnen nur in der Stadt einer | |
Arbeit nachzugehen, in der sie registriert sind. Allerdings können | |
Arbeitgeber*innen, die Syrer*innen beschäftigen wollen, ebenfalls einen | |
Antrag stellen. Ihnen wird zur Bedingung gemacht, dass die Zahl der | |
syrischen Beschäftigten nicht mehr als 10 Prozent der gesamten | |
Beschäftigten übersteigt und syrische Arbeitnehmer*innen mindestens den | |
gesetzlichen Mindestlohn ausgezahlt bekommen. | |
Arbeitgeber*innen, die sich vor diesem Aufwand scheuen, setzen Syrer*innen | |
ohne Arbeitserlaubnis als billige Arbeitskräfte ohne Sozialversicherung | |
ein. Ebenfalls im Juli gab das Innenministerium bekannt, dass Unternehmen, | |
die Geflüchtete informell beschäftigen, mit hohen Geldstrafen zu rechnen | |
haben. Daraufhin verbreiteten sich in den Medien die Nachrichten, dass | |
viele Unternehmen Syrer*innen feuerten. | |
Die diskriminierungsfreudige Stimmung gegenüber Syrer*innen drückt sich | |
nicht zuletzt auch in Hassverbrechen aus. Im Juni 2019 fanden im Izmirer | |
Bezirk Bornova drei Tage lang konzertierte Übergriffe auf Syrer*innen | |
statt. Auslöser waren unbestätigte Gerüchte, die in den sozialen Medien | |
kolportiert wurden. In Istanbul soll ein Syrer ein türkisches Kind sexuell | |
belästigt haben. | |
Der Mob stürmte Geschäfte, die Werbetafeln in arabischer Schrift angebracht | |
hatten. Doch nicht nur Läden wurden geplündert. Angreifer drangen in | |
Wohnungen ein und versuchten, die syrischen Bewohner*innen eigenmächtig auf | |
die Straße zu setzen. Die Gewalt in Bornova und ähnliche Vorkommnisse haben | |
dazu geführt, dass syrische Familien kaum noch aus dem Haus gehen oder aus | |
ihren Vierteln wegziehen. Laut Innenminster Süleyman Soylu sind im | |
laufenden Jahr bisher 43.000 Immigrant*innen aus der Türkei abgeschoben | |
worden und weitere 7.000 in Abschiebegewahrsam. | |
## Sichtbarkeit eindämmen mit allen Mitteln | |
Didem Danış ist Soziologiedozentin an der Galatasaray Universität und | |
Mitgründerin des Vereins für Migrationsforschung. Sie führt die negative | |
Stimmung gegenüber Syrer*innen auf die Wirtschaftskrise zurück. Danış | |
betont, dass bei Ausländer*innen, die zum Arbeiten in die Türkei kamen, vor | |
nicht allzu langer Zeit noch gern ein „Auge zugedrückt“ wurde. Sie erinnert | |
ebenfalls daran, dass der Innenminister Süleyman Soylu noch unlängst den | |
Beitrag der Geflüchteten zur türkischen Wirtschaft unterstrich. | |
Danış geht davon aus, dass die gegenwärtige Kampagne weniger das Ziel | |
verfolgt, Syrer*innen aus Istanbul zu vertreiben, als vielmehr ein Ventil | |
für den in der Bevölkerung brodelnden Hass zu bieten. „Das ist keine echte | |
politische Maßnahme. Sie wollen schlicht den Syrer*innen Angst einjagen, | |
damit sie nicht mehr auf die Straße gehen und nicht mehr sichtbar sind. | |
Denn viele Türk*innen begründen ihre Ablehnung damit, dass die Syrer*innen | |
im Alltag zu präsent seien.“ | |
Der Istanbuler CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu kritisiert, dass die | |
Regierung die Syrer*innen als politisches Werkzeug benutzt, statt eine | |
effiziente Integrationspolitik umzusetzen. Tanrıkulu verweist auf eine | |
Vielzahl von Regierungsstatements der letzten Jahre, in denen die in der | |
Türkei lebenden Syrer*innen offen als Trumpfkarte gegen die EU ausgespielt | |
wurden. „Die Leidtragenden dieser Politik sind die Syrer*innen“, sagt | |
Tanrıkulu. | |
Auch die gegenwärtige Kampagne stehe im Zusammenhang mit den | |
Bürgermeisterwahlen in Istanbul, die am 23. Juni wiederholt worden waren. | |
„Die AKP hat sich nur für diesen Weg entschieden, nachdem sie zu der | |
Auffassung gelangte, dass die Politik der offenen Tür für die | |
Regierungspartei nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische | |
Verluste verursacht.“ | |
## İmamoğlu: Ab in die Heimat | |
Allerdings wurde die Kampagne gegen die Istanbuler Syrer*innen nicht nur | |
von der AKP unterstützt. Der am 23. Juni siegreiche CHP-Kandidat Ekrem | |
İmamoğlu hatte im April im Wahlkampf gesagt: „Wann und wie sollen die fast | |
eine Million Syrer*innen in dieser Stadt wieder zurück in ihre Heimat | |
gehen? Dafür werden wir vor Ort wegweisende politische Lösungen entwickeln. | |
Unsere Praxis wird dabei helfen, die türkische Politik auf höchster Ebene | |
zu gestalten.“ | |
Nach dem Beschluss des Gouverneursamts betonte İmamoğlu in einem Interview | |
mit dem türkischen Dienst der Deutschen Welle, die Zentralregierung habe | |
das Thema dank seiner Initiative zur Priorität erklärt. Zwar wolle er sich | |
für alle humanitären Belange der in Istanbul lebenden Geflüchteten | |
einsetzen, doch das Vorgehen des Gouverneursamts sei notwendig und richtig: | |
„Letztendlich müssen die syrischen Geflüchteten in diesem Land wieder in | |
ihre eigene Heimat zurückkehren.“ | |
Mehrere Vereine der türkischen Zivilgesellschaft riefen für den 27. Juli zu | |
einer Kundgebung im Saraçhane-Park im Istanbuler Bezirk Fatih auf, um gegen | |
die Razzien und Ausweisungen zu protestieren. Die meisten türkischen Medien | |
kündigten an, „die Syrer“ wollten „auf die Straße gehen“. Als sich zum | |
Kundgebungszeitpunkt eine Menschengruppe im Park einfand, traf sie nicht | |
nur auf hohe Sicherheitsmaßnahmen, sondern auch auf Gegendemonstrant*innen. | |
Diese griffen die Kundgebungsteilnehmer*innen an, während sie vor der | |
Presse ihr Statement verlasen. Als im Durcheinander die | |
Kundgebungsteilnehmer*innen Parolen gegen Rassismus und für | |
Geschwisterlichkeit riefen, skandierten die Gegendemonstrant*innen den | |
uralten Satz „Die Türkei gehört den Türken“, der früher Tageszeitungen … | |
Gebäude zierte. Die Polizei setzte Pefferspray ein und nahm sieben der | |
Angreifer fest. | |
Muhammed hat nichts von den Protesten der Zivilgesellschaft gegen die | |
Razzien gegen Syrer*innen mitbekommen. Auch von den Auseinandersetzungen im | |
Saraçhane-Park erfährt er erst von uns. Er ist kurz sprachlos und fragt | |
dann nur: „Was haben wir getan?“ Muhammed ist zunehmend unruhig, da er | |
nicht einmal weiß, an wen er sich wenden soll, falls ihm etwas zustößt. | |
Sein einziger Wunsch ist es, weiterhin mit seiner Familie zusammenzuleben. | |
Um sich nicht weiter zur Arbeit zu verspäten, verlässt er den Buchladen | |
genauso hastig, wie er kam. Schnell warnt ihn Khaled, der Besitzer des | |
Buchladens: „Am Ende der Straße steht ein Polizeiwagen.“ „In welcher Str… | |
hast du ihn gesehen? Die sollte ich auf dem Rückweg vermeiden.“ Dann läuft | |
er genau in die entgegengesetzte Richtung der Straße, auf die der | |
Ladenbesitzer mit dem Finger deutet. | |
Aus dem Türkischen von Aşkın Hayat Doğan | |
2 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Meral Candan | |
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