# taz.de -- Unberechenbare Grenzsituationen: Wo Italien aufhört und beginnt | |
> Der Brenner ist eine der Lebensadern Europas und noch immer Passierstelle | |
> für Geflüchtete in beide Richtungen – wenn alles gut geht. | |
Bild: MigrantInnen aus Äthiopien laufen über die Gleise, um den Brennerpass z… | |
Es gibt auch andere Wege als das Wipptal, aber wer rauswill aus Italien, | |
der kommt meist hier durch, und wer reinwill, auch. Unten ergießt sich die | |
Eisack nach Südtirol, oben verschwindet der Schnee auf den Alpengipfeln im | |
Nebel. Die Zugtrasse zieht sich hinein ins Gebirge, die Autobahn begleitet | |
sie auf Stelzen, wie ein römisches Viadukt. Wo das Tal am höchsten ist, | |
gehen Autobahn, Landstraße und Gleise in die Breite, umfließen vielspurig | |
ein „Outlet Center“, Raststätten und das Dorf Brenner. Und dann endet | |
Italien, das für manche eine Verheißung und für andere ein Ort des | |
Scheiterns ist. | |
28.000 Pkws, 12.000 Lkws und 110 Züge fahren im Sommer täglich über den | |
Brennerpass, jedenfalls in coronafreien Jahren. Wer diese Trasse | |
unterbricht, durchtrennt eine Lebensader Europas. Autokontrollen führen zu | |
Staus von 80 Kilometer Länge. Und so ist der Brenner auch für die Menschen | |
ein wichtiger Ort, die reisen müssen, obwohl sie es nicht dürfen. | |
Um 8.28 Uhr rollt die S-Bahn aus Innsbruck auf dem „Stumpfgleis Nord“ des | |
Bahnhofs Brenner ein. Ein paar Fahrradtouristen und koreanische Interrailer | |
steigen ein, eine Handvoll Menschen aus. Ein junger Mann namens Kofi zieht | |
einen Rollkoffer hinter sich her, über seiner schwarzen Lederjacke hängt | |
ein Teenager-Schulrucksack, in der Hand hält er eine Tüte mit Weintrauben. | |
Er stammt aus Ghana, jetzt kommt er aus Düsseldorf, da habe er | |
Elektrogeräte auf Flohmärkten gekauft und containerweise nach Accra | |
geschickt. Doch aus Düsseldorf habe er wegmüssen und nun will er es in Rom | |
versuchen. Da hat er einen Freund. | |
Er läuft zum Fahrplan und sucht den Zug nach Rom, aber dorthin gibt es | |
keine direkte Verbindung. Dann will er am Automaten ein Ticket nach Bologna | |
kaufen. Es kostet 87 Euro, er zieht zwei Fünfziger aus der Tasche, aber der | |
Automat nimmt kein Bargeld, und eine Bankkarte hat er nicht. Zwei | |
Polizisten tauchen auf. Sie starren ihn an und Kofis Gesichtsausdruck lässt | |
keinen Zweifel daran, dass er glaubt, er werde zurück nach Österreich | |
geschickt, bestenfalls. Aber dann sagt einer der Polizisten nur, dass er | |
hier nirgends mit Bargeld zahlen kann und dass er sich im Zug ein Ticket | |
kaufen soll. „Aber melde dich beim Schaffner, bevor er losfährt, sonst gibt | |
es eine Strafe.“ Kofi nickt und die Polizisten ziehen ab. | |
Im nächsten Regionalzug nach Bozen, der Hauptstadt Südtirols, setzt er sich | |
neben eine schwarze Frau. Sie trägt ein kurzes blaues Kleid, darüber eine | |
Daunenjacke, in die Rastazöpfe hat sie silberne Spangen geflochten. Ihr | |
Name ist Fanta, sie stammt aus der Elfenbeinküste. Ihr Mann, den sie unter | |
„ma vie“, „mein Leben“, in ihrem Handy eingespeichert hat, ist vor sechs | |
Jahren nach Europa gegangen. Heute will sie ihn wiedertreffen, um mit ihm | |
in Italien zu leben. Nur hat sie vergessen, wie die Stadt heißt, in der er | |
wohnt, und sie weiß auch nicht, wie man „Bolzano“ ausspricht, wohin ihr der | |
Schaffner ein Ticket verkauft hat, und ihr Mann sagt am Telefon, er werde | |
nun zur Grenze kommen, um sie abzuholen, aber sie ist ja schon losgefahren | |
und dann hat der Mann verstanden, dass sie in Bozen aussteigen wird, und er | |
verspricht, dorthin zu kommen. | |
Fanta hat Kopfschmerzen. Sie ist am Morgen des Vortages in Marseille | |
losgefahren, fast 24 Stunden ist sie jetzt unterwegs. Die Nacht hat sie auf | |
dem Bahnhof in Brenner verbracht, schlafen konnte sie nicht. „Die Polizei | |
hat mich erwischt“, sagt sie dann. „Ein Polizist wollte mich | |
zurückschicken, der andere hat gesagt: ‚Wir lassen sie durch, sie ist eine | |
Frau.‘“ | |
Es ist ihr Versuch, sich einen Reim auf den Umstand zu machen, dass die | |
Grenzen Europas, von denen sie vor ihrem Aufbruch Beunruhigendes gehört | |
hatte, oft unberechenbar sind. Menschen wie sie brauchen dort Glück, und | |
Glück hatten sie beide, und so schauen Kofi und Fanta nun aus dem Fenster | |
auf die grünen Hänge der vorbeiziehenden Stubaier Alpen und rollen ihrem | |
neuen Leben in Italien entgegen. | |
Dass Menschen ohne Papiere den Norden Europas verlassen, um ein neues Leben | |
im Süden zu suchen, passt nicht zur dominierenden Erzählung über Flucht und | |
Migration. Darin gibt es nur eine Richtung: aus dem armen Süden in den | |
reichen Norden. Die Wirklichkeit ist komplexer. Am Brenner treffe „eine | |
Vielzahl von Politiken der Mobilität und der Immobilisierung aufeinander | |
und wirken auf bestehende und stets umkämpfte Kräfteverhältnisse ein“, | |
schreibt der Ethnologe Matthias Schmidt-Sembdner, der zum Brenner forscht. | |
Soll heißen: Flüchtlinge nutzen die Route in alle Richtungen. Manchmal | |
ziehen Staaten aus politischen Gründen die Zügel an, dann gibt es Streit | |
mit den Nachbarn. Manchmal lässt die Kontrollintensität wieder nach. Und | |
fast immer gibt es Menschen, die einen Weg finden. So wie Fanta und Kofi. | |
In den ersten zehn Tagen des September 2015 verzeichnete die | |
Bundespolizeiinspektion Rosenheim rund 2.100 illegale Grenzübertritte, fast | |
alle in Zügen aus Italien. Deutschland begann am 13. September 2015 die | |
Grenze zu Österreich wieder zu kontrollieren. Im Vergleich zu den Zahlen | |
der Ankommenden in Italien insgesamt waren es stets nur sehr wenige, die am | |
Brenner die Alpen überqueren. [1][2015] wurden hier insgesamt rund 4.300 | |
Menschen von der österreichischen Polizei aufgegriffen, im Jahr darauf | |
knapp doppelt so viele. In diesem Jahr waren es bislang rund 930. | |
Gleichwohl galt der Brenner ab 2015 als eine Art letzte Verteidigungslinie | |
gegen die Flüchtlinge und wurde so zum Ort symbolischer Handlungen. Im Mai | |
2017, in Österreich herrschte Wahlkampf, sagte Verteidigungsminister Hans | |
Peter Doskozil (SPÖ) der Kronen Zeitung, er habe für den Einsatz am Brenner | |
750 Soldaten verfügbar gemacht. Angesichts der Vielzahl von Migranten in | |
Italien müsse Österreich sich vorbereiten. Vier [2][Panzer] wurden für das | |
Absperren von Straßen im Grenzgebiet an den Brenner verlegt. Italien | |
bestellte aus Protest den österreichischen Botschafter ein. Die Soldaten | |
und Panzer kamen nie zum Einsatz. Doch mit solch martialischen Gesten wird | |
Innenpolitik gemacht. | |
## Halber Weg nach Bozen | |
Auf halbem Weg vom Brenner nach Bozen fließt die Eisack in die Etsch. Wenn | |
es regnet, wird der Fluss rostig braun. Wenn es dann wieder aufhört zu | |
regnen, reißen die Wolken über Bozen langsam auf und geben den Blick frei | |
auf die Zackengipfel der Dolomiten. Die Straße, die vom Bahnhof nach Westen | |
führt, geht vorbei am Dom Maria Himmelfahrt und dem glaskühlen | |
Stadttheater. In einer großen Villa vor dem Talferbach ist die Quästur, das | |
Polizeipräsidium. Hier arbeitet Giuseppe Tricarico, der Chef der Kripo. Er | |
ist auch zuständig für die Kontrolle der Migration entlang der | |
Brennerroute, die von Verona bis nach München reicht. | |
Er kann sich erinnern, wie 2014, 2015 „ganze Züge voll waren mit Menschen, | |
vor allem Familien aus Ostafrika, die nach Deutschland wollten“, sagt er. | |
Seitdem gibt es „trilaterale Patrouillen“ ab Verona. Alle paar Monate | |
trifft Tricarico sich mit der Landespolizei Tirol und dem LKA Bayern, um | |
diese zu koordinieren. Wer in Italien registriert ist und versucht, nach | |
Österreich auszureisen, werde seither aus dem Zug geholt, so ist es mit | |
Österreich ausgemacht. „Mit dem Eurocity war dann kein Durchkommen mehr. | |
Also sind viele auf die Güterzüge umgestiegen“, sagt er. Die Polizei in | |
Österreich und in Bayern barg daraufhin manche von ihnen als Leichen. Sie | |
begann Hubschrauber mit Wärmebildkameras einzusetzen. Doch was die Zahlen | |
am Brenner vor allem gedrückt hat, das ist die Blockade im Mittelmeer. | |
Seitdem weniger Menschen aus Libyen nach Sizilien gelangen, sitzen auch | |
weniger Flüchtlinge in den Zügen über den Brenner nach Österreich. Derzeit | |
würden seine Leute „vielleicht einen alle drei Tage“ aufgreifen“ sagt | |
Tricarico. | |
## Brenner ist ein Dorf | |
Eigentlich müssen die Österreicher das Gleiche tun. Aber die Grenze war in | |
beide Richtungen nie völlig dicht. Und so wird sie heute immer wieder auch | |
von Menschen aus Pakistan und Afghanistan überquert, die 2015 nach | |
Deutschland oder Schweden kamen und dort vergeblich Asyl beantragten. Es | |
drohte ihnen die Abschiebung, also versuchen sie ihr Glück in Italien. | |
Eigentlich darf Italien diese Ankommenden zurück in das Land ihres ersten | |
Asylantrags schicken. Doch das Verfahren ist langwierig. Brenner ist ein | |
Dorf, es gibt dort praktisch keine Infrastruktur. Und so werden die | |
Menschen von der Grenzpolizei meist erst mal zur Quästur in Bozen | |
geschickt. Dort werden sie registriert. Nur dort haben sie Anspruch auf | |
Unterkunft, Versorgung, eine Meldebescheinigung. Doch viele hier müssen auf | |
diese Dinge meist sehr lange warten. | |
Deshalb gibt es in der Innenstadt von Bozen viele Männer aus Pakistan, | |
Afghanistan oder Westafrika. Manche, die schon länger da sind, haben | |
Frisörläden, Restaurants, Halal-Fleischer und Geldtransferbüros in der Nähe | |
des Bahnhofs eröffnet. Andere leben auf der Straße. | |
Einer von ihnen ist Tawab Zamin. Der junge Mann mit fein ziseliertem Bart | |
stammt aus Peschawar und kam 2015 nach Deutschland. Einen Ort zu finden, um | |
in Ruhe mit ihm zu sprechen, ist nicht leicht. Im Park? Da sind „nur | |
Scheißleute“, sagt er und meint die migrantischen Dealer. In einer der | |
Bars? „Ich bin seit fünf Jahren in Europa, aber habe noch nie in einem | |
Restaurant gegessen.“ Denn dort gibt es Alkohol. Schließlich lässt er sich | |
doch auf ein kleines Restaurant ein. | |
Er erzählt von der „Sonnenalm“ im Chiemgau, wo er als Küchenhelfer | |
arbeitete. Er konnte etwas Geld sparen und im „Beruflichen | |
Fortbildungszentrum der Bayerischen Wirtschaft“ in Rosenheim Deutsch lernen | |
– bis 2018 sein Asylantrag abgelehnt und er ausgewiesen wurde. Im Juli 2019 | |
kam er nach Bozen. Mit dem Geld aus der „Sonnenalm“ hat er sich ein Zelt | |
gekauft und auf einem Berghang, etwas außerhalb der Stadt, gehaust. Später | |
ist er bei einem anderen Pakistani untergekommen. Vom Staat bekommt er | |
bislang nichts, er lebt von dem, was es in einer Suppenküche für Obdachlose | |
gibt. In vier Restaurants hat er sich auf freie Helferjobs beworben, jedes | |
Mal wurde er abgelehnt, weil er keine Arbeitserlaubnis hat. Aber: Er wird | |
erst einmal nicht abgeschoben. Seine Familie hat ihm Geld für einen Anwalt | |
gegeben. | |
Am Mittag hat der Imam in der Moschee daran erinnert, dass alle Gläubigen | |
zum Opferfest in der nächsten Woche ein Lamm schlachten und den Armen etwas | |
abgeben sollen, „aber hier feiern wir nicht wie in unserem Land“, sagt | |
Zamin. Zurück will er trotzdem nicht. „Ich muss Geld verdienen. Meine | |
Familie in Pakistan ist groß. Wenn ich arbeite, kann sie essen. Wenn nicht, | |
nicht.“ | |
7 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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