# taz.de -- Ganz Berlin ist am Spazieren: Flanierend die Stadt aneignen | |
> Historisch ist die Rolle des Flaneuers männlich besetzt. Es braucht eine | |
> neue Erzählung! Das Autorinnenkollektiv von „Flexen. Flâneusen*“ liefert | |
> sie. | |
Bild: Geschichtsträchtige Ecke: Flanieren auf der Museumsinsel in Berlin-Mitte | |
BERLIN taz | Überall sehen wir sie in diesen Tagen: Spaziergänger*innen, | |
paarweise, in Gruppen oder allein, in den Parks, in den Straßen, auf | |
öffentlichen Plätzen. Kurz: Flanieren ist en vogue. Dabei ist das Flanieren | |
ja nichts Neues, solange es Städte gibt, gibt es auch den Flaneur, der seit | |
jeher in der Literatur verewigt wurde. | |
Die alten Vorstellungen vom Dandy-Flaneur mit Gehstock und Frack sind | |
jedoch längst überholt. Wenn wir uns umschauen, sind die Flanierenden von | |
heute der Papi mit dem Kinderwagen, die junge Frau im Rollstuhl oder die | |
Oma mit dem Rollator. Sie existierten bislang praktisch nicht in der | |
Geschichte des Flanierens. Es bedarf einer neuen Erzählung von Städten, die | |
der heutigen Wirklichkeit gerecht wird. Das Flanieren ist eine subversive | |
Erfahrung, die Stadt neu kennenzulernen, ihre einzelnen Facetten neu zu | |
durchdringen. | |
Beim Flanieren sind wir mit uns selbst. Wir suchen die Ruhe und den Abstand | |
zu anderen. Wir können ganz bei uns sein, unsere Wahrnehmung verändert | |
sich. Wir gehen nicht mehr nur von A nach B, sondern gehen um des Gehens | |
willen. Wir sind allein mit unserem Körper auf der Straße und fühlen unsere | |
Bewegung. Flanieren gibt Zeit, dass wir uns auf unsere Atmung | |
konzentrieren, dass wir unser Gesicht spüren, die Kälte des Dezembers auf | |
der Haut, an den Händen, den Beinen und Füßen. Wir sind eins mit unserem | |
Körper, und wir sind eins mit unseren Gedanken, während unsere Füße den | |
Asphalt berühren. | |
Doch wer kann sich ungehindert in der Stadt bewegen, und für wen tun sich | |
Hindernisse auf, sichtbare oder unsichtbare Grenzen? Es ist nicht | |
selbstverständlich draußen, mit einem Latte macchiato in der Hand, einfach | |
herumwandeln zu können. Weil nicht jede*r die zeitlichen oder finanziellen | |
Ressourcen hat. Weil sich nicht jede*r ungestört zu jeder Tages- und | |
Nachtzeit bewegen kann. Weil sich der öffentliche Raum immer noch an einer | |
Norm orientiert, in der Menschen mit Behinderung, Alte oder, na ja, auch | |
einfach Schwangere keinen Platz finden. | |
## Verbale, meist sexualisierte Gewalt | |
Es ist kein Geheimnis, dass Straßen für einige sicherer sind als für | |
andere. Viele von uns kennen es: hinterherpfeifen, unerwünschte Kommentare, | |
die einem im Vorbeigehen zugeraunt oder laut zugerufen werden, Gesten, die | |
einen provozieren sollen. Catcalling nennt man diese Form der verbalen und | |
meist sexualisierten Gewalt, die sich vor allem gegen Frauen, Homosexuelle, | |
People of Color, trans Personen und Menschen mit Behinderung richtet. | |
Das Flanieren ist eben doch ein Privileg und bleibt es, solange die | |
Bedürfnisse dieser Menschen im Stadtraum nicht mitbedacht werden. Das führt | |
zu der Frage: Wie wurden und werden Städte gebaut? Und von wem? | |
Es fängt schon bei den Bordsteinen an: für Menschen in Rollstühlen, für | |
alte Menschen mit Rollatoren, für Menschen mit Kinderwagen sind sie oft | |
schlicht zu hoch. Absurd wird es bei öffentlichen Toiletten, wie es sich | |
beispielsweise auch in jüngster Zeit in der Diskussion über die neuen | |
öffentlichen Toiletten am Leopoldplatz gezeigt hat, die nicht nur durch | |
fehlenden Sichtschutz für eine tolle Aussicht sorgten, sondern auch | |
insgesamt wieder einmal zum Symbol für sexistische Stadtplanung wurden. | |
Denn die Toiletten bestanden lediglich aus zwei Pissoirs. Denn wen | |
interessiert’s schon, wenn Menschen ohne Penis aufs Klo müssen. | |
Selbst Windkorridore zwischen Gebäuden werden stadtplanerisch in Größe und | |
Gewicht als Norm gedacht, wie Leslie Kern in „Feminist City: Wie Frauen die | |
Stadt erleben“ (Unrast Verlag 2020) beschreibt. Wer nicht dieser „Norm“ | |
entspricht, also einfach klein, dick oder dünn ist, wird eben umgepustet. | |
## Stadt muss unterlaufen werden | |
Die Stadt dokumentiert Geschichte. An ihrer Architektur zeigt sich | |
deutlich, wie sich verschiedene Zeiten miteinander vereinen, wie die | |
Geschichte sich in der Stadt manifestiert. Aber auf den zweiten Blick sieht | |
man noch viel mehr. Für manche sind die Wege voll mit Stolpersteinen, | |
Hürden, die Erinnerungen öffnen, den Alltag begleiten, mit Gedenksteinen, | |
die die Wege bedecken, auf denen man seinen Supermarkteinkauf erledigt. | |
Selbst die Steine, aus denen die Fußgängerwege gemacht sind, sind Spuren | |
der Geschichte, einer bestimmten Stadtplanung. Die Fassaden der Häuser | |
zeigen, wer hier lebt, ob arm oder reich, aber auch wer hier einst gelebt | |
hat. Ihre Bewohner*innen sehen die Stadt mit unterschiedlichen Augen. | |
Um diese Vielschichtigkeit abzubilden, bedarf es einer neuen Betrachtung | |
von Städten. Oder wie Kulturwissenschaftlerin Lauren Elkin es nennt: | |
„Queering the City“ – die Stadt muss unterlaufen werden. Aktionen solcher | |
Art gibt es viele. Wie zum Beispiel die Umbenennung von Straßennamen mit | |
Bezug zur Kolonialzeit, wie es im Berliner Wedding beispielsweise für die | |
Petersallee und den Nachtigalplatz seit Jahren eingefordert wird. Oder auch | |
der Umsturz von Statuen, wie der Colston-Statue im britischen Bristol, die | |
zu Recht im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste buchstäblich gecancelt | |
wurde. | |
Das Umstürzen von Statuen ist erst der Anfang. Auch wenn es in der jetzigen | |
Zeit erschwert ist, sich kollektiv zu organisieren und auf die Straßen zu | |
gehen, gibt es Möglichkeiten der subversiven Unterwanderung der Stadt: das | |
Flexen. Flexen bedeutet die aktive Aneignung der Stadt, es bedeutet, sich | |
den Stadtraum zu eigen zu machen, gegen die unsichtbaren Grenzen und | |
vorgeschriebenen Traditionslinien anzulaufen. | |
Wer nicht allein flanieren und flexen will, kann allein im Kollektiv flexen | |
– mit einem Audiowalk. In einer Zeit, in der die meisten Kulturangebote | |
geschlossen sind, bietet er noch eine Möglichkeit der | |
literarisch-künstlerischen Betrachtung der Stadt. Der Audiowalk fügt dem | |
Flanieren als Kunstform eine weitere Facette hinzu. Man läuft allein, aber | |
die Stimme im Ohr verbindet die einzelnen Flanierenden zu einem | |
Erlebniskollektiv. | |
Die heutige Zeit macht noch einmal mehr deutlich, dass Städte kollektiv | |
gedacht werden müssen, wenn sie für alle ein angenehmes Zuhause bieten | |
sollen. Statt uns drinnen einzuigeln, sollten wir aktiv werden, den | |
Stadtraum einnehmen, ihn umdeuten, für uns und andere neu denken. Das | |
heißt, wir sollten flexen, uns in die Stadt flexen, uns die Stadt | |
zurechtflexen. Denn der Baudelair’sche Flaneur liegt schon lange in der | |
Schublade und hüllt sich ein unter dem Staub der Jahrhunderte, und dort | |
kann er auch bis in alle Ewigkeit gern liegen bleiben und es sich in den | |
Ecken der Schublade gemütlich machen. Also, Schuhe an und raus! | |
Text: kollektiv flexen – Lea Sauer, Mia Göhring, Özlem Özgül Dündar | |
## Er war Widerstandskämpfer und Dichter der „Moabiter Sonette“, aber auch | |
Günstling von Rudolf Heß. Ein Audiowalk spürt dem widersprüchlichen Leben | |
von Albrecht Haushofer nach | |
Viel Platz war da nicht. Zum Hofgang ging es für die Gefangenen in den | |
sogenannten Spazierhof. Damit sie nicht mit den anderen Häftlingen im | |
Moabiter Zellengefängnis sprechen konnten, war der Spazierhof abgezirkelt. | |
In einem gleichschenkligen Dreieck konnten sie auf und ab gehen. „Im | |
Dreieck springen, dieses Bild für den Ausnahmezustand, kommt daher“, | |
erklärt die Stimme im Kopfhörer. Sie gehört einer der Sprecherinnen im | |
Audiowalk, den Anna Opel und Ruth Johanna Benrath im Auftrag der | |
Gedenkstätte Deutscher Widerstand entwickelt haben. „Spurensuche Albrecht | |
Haushofer“ heißt er und ist ab sofort als Podcast verfügbar. | |
Wäre Albrecht Haushofer auch im Dreieck gesprungen? Als der ehemalige | |
Diplomat und Günstling von Rudolf Heß, der später den Kontakt zum | |
Widerstand gegen die Nazis gesucht hatte, im Dezember 1944 ins Moabiter | |
Gefängnis in der Lehrter Straße geworfen wurde, waren die Dreiecke bereits | |
abgeschafft. Vielleicht hätte er auch nicht hin- und hertigern müssen, weil | |
er in den dunkelsten Stunden seines Lebens beim Schreiben eine innere Ruhe | |
gefunden hat. | |
Achtzig Sonette hat Haushofer in Moabit verfasst, nach dem Krieg wurden sie | |
als „Moabiter Sonette“ herausgegeben. Eines davon ist im Audiowalk zu | |
hören: „Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt / Ist unter Mauerwerk und | |
Eisengittern / Ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern / Das andrer Seelen | |
tiefe Not enthüllt.“ | |
„In Fesseln“ heißt das Sonett, es ist ein berührendes Zeugnis der | |
Mitmenschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen – und endet mit den | |
Zeilen: „Der Schlaf wird wachen wie das Wachen Traum / Indem ich lausche, | |
spür ich durch die Wände / Das Beben vieler brüderlicher Hände.“ | |
## Aber was weiß man schon | |
Zellengefängnis Moabit. So ein Erinnerungsort halt. Man hat von ihm gehört, | |
aber was weiß man schon, wenn man danach gefragt wird? Viel übrig geblieben | |
ist auch nicht von der ehemaligen Königlichen Strafanstalt aus dem Jahre | |
1847, eingerichtet schon nach dem „panoptischen Prinzip“ – von wenigen | |
Punkten aus ließ sich alles überwachen. Heute befindet sich in den Mauern | |
gegenüber dem Hauptbahnhof ein „Geschichtspark“. | |
Aber erst Haushofer gibt der Geschichte ein Gesicht, wenn die Sprecherin | |
der „Spurensuche“ anmerkt: „Draußen dichter Großstadtdschungel und hier | |
drinnen Garten und Landschaft. (…) Suchen Sie sich ein Plätzchen. Schauen | |
Sie sich in Ruhe um. Ich bin da, zeige Ihnen den Weg, nehme Sie bei der | |
Hand, wenn wir nach Albrecht Haushofers Spuren suchen. Sterben und Leben. | |
Schreiben – hier am historischen Ort.“ | |
Nach dem Aufenthalt auf dem Gelände des Zellengefängnisses folgt einer der | |
beklemmendsten Momente des knapp anderthalb Stunden langen Spaziergangs. | |
Wir verlassen den Knast am Ausgang Lehrter Straße und folgen Albrecht | |
Haushofer auf seinem letzten Weg. Hat er es gewusst? Oder war er arglos? | |
„Am 22. April abends gegen 22 Uhr lag ich mit mehreren Häftlingen, u. a. | |
mit Professor Albrecht Haushofer in einer Kellerzelle auf unseren | |
Strohsäcken“, berichtet später ein Mithäftling. „Haushofer hatte gerade … | |
seinen mittlerweile allgemein bekannten Sonetten uns verschiedene | |
vorgetragen. Auch hatte er einen Akt aus einem wundervollen Theaterstück | |
uns vorgelesen, das er gerade in den letzten Tagen fertiggestellt hatte. | |
Wir saßen bei einem Kerzenstummel zusammen, als der Kriminalkommissar | |
Albrecht unsere Zelle betrat und Haushofer in sehr freundlichen und | |
verbindlichen Worten aufforderte, nach draußen zu kommen.“ | |
## Die Spannung überträgt sich | |
Geahnt wird er es haben, aber er wird auch gehofft haben, dass es anders | |
kommt. Diese Spannung überträgt sich auf die Geschichtsspazierenden, wenn | |
es im Audiowalk heißt: „Haushofer und 15 Mithäftlinge werden in der Nacht | |
von einem Gestapo-Kommando abgeholt. Wir stellen uns das vor, auf Messers | |
Schneide: Werden sie morgen schon frei sein? Oder werden sie in letzter | |
Minute erschossen oder Opfer der Straßenkämpfe? Der Trupp setzt sich in | |
Bewegung und auch wir brechen auf, folgen ihm – mit dem Abstand von 75 | |
Jahren.“ | |
Über die Lehrter Straße geht es zum ULAP-Park, wo heute Obdachlose leben. | |
Vor der Freitreppe werden in der Nacht auf den 23. April 1945 vierzehn | |
Häftlinge, unter ihnen Albrecht Haushofer, erschossen. Einer überlebt und | |
berichtet nach dem Krieg einem Bruder Haushofers von der Ermordung. | |
Gemeinsam gehen sie an den Ort der Hinrichtung. Die Leichen sind noch da. | |
Es ist dieses gemeinsame Entdecken, sanft und doch schockierend und | |
gleichzeitig nie effekthaschend, das schon Opels und Benraths Audiowalk zu | |
Rosa Luxemburg zu einem besonderen Ereignis gemacht hat. „Spurensuche“ | |
heißt bei den beiden Schriftstellerinnen auch, dem Menschen, dem sie | |
gewidmet ist, ein Stück näher zu kommen, ihn zu verstehen. Wie kam es, dass | |
sich Haushofer, ein Deutschnationaler eigentlich, dem die Weimarer | |
Demokratie fremd war, dem Widerstand gegen Hitler angeschlossen hat? Und | |
warum hat er all die Jahre zuvor als Berater von Außenminister Joachim von | |
Ribbentrop so lange mitgemacht? | |
Fragen sind das, die den zweiten Teil des Geschichtspfads begleiten. Vom | |
Ort der Hinrichtung geht es unter der ICE-Trasse hindurch zwischen dem | |
Garten des Kanzleramts und dem Neubau des Innenministeriums auf einem fast | |
verwunschenen Pfad Richtung Spree. Hier, im Regierungsviertel, rollte sich | |
das Leben des 1903 geborenen Albrecht Haushofer auf – und bleibt doch ein | |
Geheimnis. | |
## Rudolf Heß sei Dank | |
Als Sohn eines berühmten Geografen studiert er ebenfalls Geografie und | |
Geschichte und tritt 1925 eine Assistenzstelle von Albrecht Penk an, der | |
mit seiner Theorie des „Volks- und Kulturbodens“ dem völkischen Denken auch | |
wissenschaftlich den Boden bereitet hat. Dass er nach 1933 Dozent an der | |
gleichgeschalteten Hochschule für Politik werden kann, hat der Sohn eines | |
jüdischen Großvaters Rudolf Heß zu verdanken, der mit seinem Vater | |
befreundet war. Haushofer wird Berater von Joachim von Ribbentrop, dem | |
späteren Außenminister. „Einwirken durch Mitwirken“ nennen Opel und Benra… | |
den Versuch Haushofers, die Nazis von einer gemäßigten Außenpolitik zu | |
überzeugen. | |
Hat sich der junge Karrierediplomat überschätzt? Als Heß, der | |
Stellvertreter Hitlers, auf eigene Faust nach England fliegen will, um dort | |
Friedensverhandlungen zu führen, warnt ihn Haushofer. Nach Heß’ Absturz und | |
Verhaftung wird Haushofer von Hitler auf den Obersalzberg zitiert. Nach dem | |
gescheiterten Attentat am 20. Juli 1944 muss Haushofer fliehen. Im Dezember | |
wird er auf einem Heuboden nahe dem elterlichen Hof in den Alpen durch | |
einen Zufall entdeckt. Er hatte vergessen, die Leiter hochzuziehen. | |
Spätestens nach dem Englandflug von Heß war also Haushofers „Einwirken | |
durch Mitwirken“ gescheitert. Doch die Widersprüchlichkeit seiner | |
Persönlichkeit bleibt. Sie hat Anna Opel dazu gebracht, neben dem Text für | |
den Audioguide ihr Buch „Recherche Haushofer. Annäherung an den Autor der | |
Moabiter Sonette“ zu veröffentlichen. Ausschlaggebend war der Friedhof, auf | |
den Opel von ihrem Moabiter Balkon schauen kann. Auf dem ehemaligen | |
Schulgarten hat Haushofer seine letzte Ruhestätte gefunden. Der Audiowalk | |
endet dort. | |
Ist Opel, die sich in ihrem Buch als „Individualtouristin der Geschichte“ | |
bezeichnet, Haushofer näher gekommen? „Ich habe kein schärferes Bild von | |
ihm bekommen. Nicht nur im politischen, sondern auch im persönlichen | |
Bereich war er sehr widersprüchlich“, sagt sie. „Aus seinen Briefen spricht | |
schon eine ganz frühe Lebensabkehr. Andererseits war da auch ein zähes | |
Festhalten am Leben, zum Beispiel auf der Flucht nach dem 20. Juli 1944.“ | |
Und hätte Haushofer den Krieg überlebt, hätten sich auch die Alliierten mit | |
seiner Widersprüchlichkeit auseinandersetzen müssen. Auf einer Liste für | |
die Nürnberger Prozesse stand sein Name. Wohl bei wenigen war der Grat | |
zwischen Mittäterschaft und Widerstand so schmal wie beim Autor der | |
Moabiter Sonette. | |
Text: Uwe Rada | |
## Geschichtsstunde mit Smartphone: Ein Audiowalk zur Köpenicker Blutwoche | |
von 1933 | |
Es ist sicher nicht der schönste Spaziergang, den man in Köpenick machen | |
kann, wohl aber der historisch beeindruckendste: Der Audiowalk zur | |
sogenannten Köpenicker Blutwoche führt schmerzlich die Allgegenwart rechten | |
Terrors bereits kurz nach Beginn der NS-Herrschaft vor Augen. | |
Nur wenige Monate nach der Machtergreifung erreichte die Gewalt der | |
paramilitärischen Organisationen der SA und der SS in den wenigen Tagen | |
zwischen dem 21. und 26. Juni 1933 einen Höhepunkt. Bis zu 500 Personen, | |
hauptsächlich politische Gegner, wurden von SA-Trupps in Sturmlokale | |
verschleppt, gefoltert, teilweise ermordet und anschließend in die Dahme | |
geworfen. Bekannt sind 24 Todesopfer. Vor allem tobte der Terror im | |
Arbeiterviertel Elsengrund nordöstlich vom S-Bahnhof Köpenick. | |
Dort startet der vom Smartphone via App „Radio Aporee“ begleitete | |
[1][Audiowalk] der wegen der Pandemie geschlossenen Gedenkstätte im | |
ehemaligen Amtsgerichtsgefängnis Köpenick. Die dafür erforderliche, etwas | |
wackelige Gratis-App funktioniert zwar eher so mittelmäßig, sodass während | |
des historischen Rundgangs mehrere Neustarts erforderlich sind, aber | |
irgendwie geht es schon. | |
Und so führt der Audiowalk durch einen kleinen Teil der | |
Gartenvorstadtsiedlung, die ähnlich wie Hufeisensiedlung oder Siemensstadt | |
für Arbeiter:innen zwischen 1918 und 1929 errichtet wurde, um die | |
Wohnungsnot in Berlins Mietskasernen zu mindern. | |
## Spaziergang mit historischem Kontext | |
Die Machtergreifung bereitete diesem mehrheitlich von der Arbeiterbewegung | |
geprägten und sozialdemokratisch wählenden Arbeiteridyll in Köpenick ein | |
jähes Ende. Und das ist beim Spaziergang in der Gegenwart mit dem | |
historischen Kontext auf dem Ohr durchaus eindrucksvoll, weil die | |
Wohnanlage dem Anschein nach weitgehend erhalten geblieben ist. | |
Am 21. Juni umstellte die SA-Köpenick unter Leitung von Herbert Gehrke die | |
Arbeitersiedlung Elsengrund mit Listen politischer Gegner in der Hand. Sie | |
durchsuchte Wohnungen, verhaftete Antifaschisten, Sozialdemokraten, | |
Kommunisten sowie Gewerkschafter und brachte diese in SA-Sturmlokale in der | |
Nähe, die Stützpunkte der paramilitärischen Terrororganisation. | |
Einige der bekanntesten Mordopfer sind der Sozialdemokrat [2][Richard | |
Aßmann,] der Vorsitzende der SPD in Köpenick Erwin Mante, der | |
Gewerkschafter [3][Paul von Essen] sowie der SPD-Reichstagsabgeordnete | |
Johannes Stelling. Sie wurden zusammen mit anderen antifaschistischen und | |
organisierten Arbeiter:innen verschleppt, gefoltert und teilweise ermordet. | |
Die Leichname der Opfer fand man größtenteils in der Dahme. | |
Der Audiowalk führt exakt vor die Wohnhäuser, an denen heute zu DDR-Zeiten | |
aufgehängte Gedenkplaketten und später verlegte Stolpersteine an die NS- | |
Opfer erinnern. So auch vor das Haus von [4][Anton Schmaus], der während | |
der Hausdurchsuchung in Notwehr drei SA-Männer erschoss und sich später im | |
nahe gelegenen Wald in Hirschgarten versteckte, bis er sich schließlich der | |
Polizei stellte. Obwohl er zum Schutz vor der SA auf die Wache am | |
Alexanderplatz gebracht wurde, schoss SA-Führer Gehrke ihm tags darauf im | |
Polizeigewahrsam in den Rücken, woraufhin Schmaus von der Mitte abwärts | |
gelähmt im Polizeikrankenhaus in Mitte lag. Dort wurde er gut ein halbes | |
Jahr später, am 16. Januar 1934, von der SA angeblich zu einem Verhör | |
abgeholt, währenddessen er ermordet wurde – sein Körper war von frischen | |
Misshandlungen gezeichnet. | |
## Weder Polizei noch Bevölkerung schritten ein | |
Der Tod der SA-Leute hingegen wurde von den Nationalsozialisten | |
propagandistisch ausgeschlachtet: Sie bekamen als „Märtyrer der | |
nationalsozialistischen Idee“ ein Staatsbegräbnis, bei dem | |
Propagandaminister Goebbels eine Rede hielt. | |
Noch während der Köpenicker Blutwoche wurde Johann Schmaus, der damals | |
54-jährige Vater von Anton Schmaus, von der SA misshandelt und im Schuppen | |
des Nutzgartens seines Hauses aufgehängt. Die SA stellte den Mord als | |
Suizid dar. Die Mutter, Margarethe, wurde ebenfalls verschleppt und | |
misshandelt, ebenso die 13-jährige Tochter und ein Schwager von Anton | |
Schmaus. Angehörige verloren ihre Arbeit, das Haus wurde enteignet. Um die | |
Opfer weiter zu demütigen, wurde die Straße im Elsengrund nach den | |
getöteten SA-Männern benannt. Mittlerweile ist das Haus wieder im | |
Familienbesitz und die Straße nach Johann und Anton Schmaus benannt. | |
Weder Polizei noch Bevölkerung schritten bei den fünftägigen Terroraktionen | |
ein. Die Polizei saß im heutigen Finanzamt in der Seelenbinderstraße, wo | |
der Audiowalk nach dem für die Verhaftungen reaktivierten Amtsgefängnis und | |
einem ehemaligen SA-Sturmlokal – heute ein Kindergarten – hinführt. Dort | |
erfährt man, dass die von Hermann Göring aufgestellte Hilfspolizei zwar | |
nicht die SA umfasste, diese sich aber dennoch als Angehörige des neuen | |
Staatsapparats fühlte, woraufhin ein völlig entgrenzter Terror einsetzte. | |
100.000 Menschen wurden reichsweit verhaftet. | |
Die Hinterbliebene Liddy Kilian des Kommunisten Götz Kilian erklärt in | |
einem Original-Tondokument (wohl aus der Nachkriegszeit) ihre | |
Machtlosigkeit, als sie versuchte, die Polizei einzuschalten: „Der | |
Polizeihauptmann erklärte uns, dass er nicht in der Lage sei einzugreifen, | |
weil der Polizei jede Macht zum Schutz der Bevölkerung genommen sei. Die | |
Aktion selbst sei von Hermann Göring geführt und befohlen.“ | |
## DDR-Denkmal erinnert | |
Der Historiker Stefan Hördler ordnet ein: „Die Köpenicker Blutwoche war | |
Experimentierfeld für Gewalt des Nationalsozialismus. Das Nichtreagieren | |
von Polizei, Justiz und Bevölkerung zeigt, wie stark dieses System schon | |
gefestigt war – wahrscheinlich auch viel stärker, als es selbst erwartet | |
hatte.“ Die stattfindenden Polizeiermittlungen nach den SA-Morden wurden | |
per Erlass von Göring kurz darauf im Juli 1933 eingestellt. | |
In der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR wurden nach dem | |
Krieg zwischen 1947 und 1951 in mehreren Verfahren 15 beteiligte SA-Männer | |
zu Tode, 13 zu lebenslanger Haft und weitere zu kürzeren Haftstrafen | |
verurteilt. Tonaufzeichnungen des Gerichtsprozesses, in der App | |
nachzuhören, zeugen von der Unverfrorenheit der Täter, während man vor dem | |
Park an der Alten Spree steht, wo heute ein DDR-Denkmal an die Köpenicker | |
Blutwoche erinnert. | |
Der Hauptangeklagte, ein SA-Mann Plönzke, verleugnete die Gewalttaten | |
beharrlich, Schlaginstrumente in den Sturmlokalen seien etwa Staubwedel | |
gewesen. Die Empörung im Gerichtssaal ist beim Hören des historischen | |
Tondokuments quasi greifbar. Aber auch Opfer wie der durch die | |
Misshandlungen fast vollständig erblindete Erwin Mante sagten aus und | |
belasteten Plönzke und andere – er hätte neben anderen mit Fußtritten, | |
Fahnenstangen, Gummiknüppeln, Rohrstöcken und alten Militärsäbeln auf die | |
Gefangenen eingeschlagen. | |
Die Prozesse überschatteten damals im Übrigen bereits den aufkommenden | |
Kalten Krieg. Einer der Vorwürfe gegenüber dem Westen allerdings stimmt | |
laut Audiowalk: Von der DDR gestellte Auslieferungsersuche für am Terror | |
beteiligte SA-Männer, die sich im Westen aufhielten, wurden fast allesamt | |
abgelehnt. | |
Text: Gareth Joswig | |
20 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berlin.de/museum-treptow-koepenick/gedenkstaette/audiowalk-9436… | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_A%C3%9Fmann_(Betriebsrat) | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_von_Essen | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Schmaus_(Widerstandsk%C3%A4mpfer) | |
## AUTOREN | |
Lea Sauer | |
Mia Göhring | |
Özlem Özgül Dündar | |
Uwe Rada | |
Gareth Joswig | |
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