| # taz.de -- Stadtgeschichte in Hamburg: Gänge voller Gespenster | |
| > Der Performance-Gruppe Ligna gelingt ein eindringlicher Audiowalk durch | |
| > die verdrängte Vergangenheit von Gängeviertel und Stadthaus. | |
| Bild: Vor dem inneren Auge tauchen die Gespenster der Vergangenheit auf | |
| Hamburg taz | Mit blinzelnden Augen kommt man kurz vor dem Ende dieses | |
| eindringlichen Streifzuges durch die Stadtgeschichte aus dem Dunkel ins | |
| gleißende, von glänzenden Fassaden noch gespiegelte Sonnenlicht. Heraus | |
| kommt man da gerade aus den Gängen und Höfen des in „[1][Stadthöfe]“ | |
| umgetauften [2][Stadthaus]-Ensembles in der Innenstadt, zwischen dem | |
| Axel-Springer-Platz und der Graskellerbrücke – ein Ort des Terrors, einst | |
| befand sich hier die [3][Hamburger Zentrale der Gestapo]. | |
| „[4][Hommage an das Leben]“ – zynisch klingt vor diesem Hintergrund der | |
| Claim des Stadthöfe-Investors Quantum für seine innerstädtische | |
| Erlebnislandschaft: All diejenigen, die während des Nationalsozialismus von | |
| der Gestapo hierhin verschleppt worden waren, erlebten Schrecken, Qualen | |
| und Tod. Dicht an der Wand stehend, hörte man beim Audiowalk „Schafft zwei, | |
| drei, viele Gänge!“ des [5][Performance-Kollektivs Ligna] im Rahmen des | |
| Kampnagel-Sommerfestivals am Ort des Terrors Berichte von Einzelhaft, | |
| Folter und Mord. | |
| Verstörend ist dann auch, dass die über den Eingängen zum Gebäudekomplex | |
| und seinen Gängen angebrachten Metallschilder – „Moin Moin“ steht da oder | |
| „Bienvenue“ – [6][fast exakt im selben Stil geschmiedet sind wie die | |
| Losungen über KZ-Toren]: „Jedem das Seine“. Ein fatal geschichtsvergessener | |
| Umgang mit einem düsteren Kapitel der Stadtgeschichte. | |
| Mit diesen Geschichten noch im Ohr, geht es hinauf auf den Heuberg, einen | |
| Platz, auf dem der [7][Business-Improvement-District (BID) Hohe | |
| Bleichen/Heuberg] gerade zufällig sein „White Dinner“ veranstaltet. Größ… | |
| kann der Kontrast nicht sein zwischen verdrängter Stadtgeschichte und der | |
| blank geschliffenen Gegenwart zwischen Shopping-Zeilen und teuren Hotels | |
| und Restaurants. | |
| ## Verdrängte Gespenster | |
| Mit den 20 anderen, mit denen man zwischen Gängeviertel und Stadthaus | |
| unterwegs war, lässt man sich schließlich am Rand all der blütenweiß | |
| gewandeten Dinierenden an einem der Tische nieder. Dann wird es wieder | |
| dunkel: Die Kopfhörerstimme bittet, wie in einer Seance die Augen zu | |
| schließen und Gespenster zu beschwören, nämlich all derer noch einmal zu | |
| gedenken, von deren Schicksal man eben erfahren hatte. | |
| Die verdrängten Gespenster der Vergangenheit ins Bewusstsein zu rufen, | |
| darum geht es Ligna. Eine gute Stunde lang ging man dafür, von einer der | |
| 20 unterschiedlichen Tonspuren auf dem Kopfhörer begleitet, gemeinsam vom | |
| vor zehn Jahren von Künstler*innen besetzten Gängeviertel der Gegenwart aus | |
| durch das Gebiet des einstigen Gängeviertels, von dem nur noch Spuren | |
| geblieben sind. | |
| Einst – vom 16. Jahrhundert bis in die 1960er-Jahre – lebten hier Tausende | |
| Hamburger*innen: Arbeiter und Verarmte, auch das jüdische Leben in der | |
| Stadt hatte bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts hier sein Zentrum. | |
| Eng und dunkel waren die Gassen zwischen den schiefen Fachwerkhäusern, | |
| labyrinthisch die Höfe, katastrophal die hygienischen Zustände. Als | |
| kommunistisches „Klein Moskau“ und „[8][Verbrecherviertel]“ war das | |
| Gängeviertel von Bürgertum und Obrigkeit gefürchtet. Seit den 1880er-Jahren | |
| fiel es Stück für Stück mehreren „Flächensanierungen“ zum Opfer. Und | |
| Sanierung hieß immer: Abriss. | |
| ## Stadtgeschichte, sichtbar gemacht | |
| Und so streift man in der Gruppe, die sich später – „Schafft zwei, drei, | |
| viele Gänge!“ – immer wieder auf- und verteilt, um sich kurz darauf wieder | |
| zu versammeln, durch die Straßen; blickt auf verklinkerte oder verglaste | |
| Neubauten und in Hinterhöfe; entdeckt dort etwa die Überreste des 1934 | |
| abgerissenen „[9][Neuen Tempels]“ der Hamburger Reformjüd*innen; tastet | |
| sich an Wänden entlang – und erlebt immer wieder eine andere der | |
| verdrängten Geschichten. | |
| Dann bilden die Mitgehenden mit ihren Körpern die engen Gassen nach, durch | |
| die sich zwei von ihnen als Polizisten auf Verbrecherjagd tasten. Oder man | |
| hört, während man allein die Straße entlang läuft, vom Schicksal einst hier | |
| Lebender; von Liebesgeschichten – und immer wieder von Verfolgung, vom | |
| Abriss und von der Verdrängung all dessen, was hier nicht sein sollte, nie | |
| wieder entstehen soll. | |
| Ein eindringlicher, vielschichtiger kollektiver Gang durch Gänge voller | |
| Gespenster ist das. Umfassend recherchiert und klug miteinander verzahnt | |
| sind all die Wege, die man da gemeinsam geht. Und mit noch blinzelnden, | |
| aber doch ganz anderen Augen schaut man danach auf eine Stadt, die all den | |
| belastenden Spuk der Vergangenheit so vehement hat vertreiben wollen. Und | |
| die Gespenster doch nicht loswird. | |
| 23 Aug 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.quantum.ag/product-details/?tx_frfilterlists_projects%5Bproject… | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Stadthaus_(Hamburg) | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Staatspolizeileitstelle_Hamburg | |
| [4] http://www.stadthoefe-wohnen.de/ | |
| [5] http://www.ligna.org/ | |
| [6] https://www.berliner-kurier.de/news/panorama/hier-folterten-nazis-frueher-s… | |
| [7] https://www.bid-hohebleichen.de/ | |
| [8] https://i.gaengeviertel.de/crime/ | |
| [9] https://www.shz.de/regionales/hamburg/juedische-tempel-ruine-in-hamburg-sol… | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Matthies | |
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